Von Erdogan zu Merkel – das Desaster des Zusammenbruchs von Kartenhäusern

Eine scheinbare Indiskretion diskreditiert nicht nur den Türken Erdogan, sondern auch führende Bundespolitiker. Zufall oder Vorsatz? Tomas Spahn darüber, wie der Vorgang um die Türkei als Plattform des islamischen Terrors einzuordnen ist.

Angela Merkel wird den Satz kennen: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“

Wer den Werdegang des heutigen türkischen Präsidenten und seiner AKP mit offenen Augen verfolgt hat, den konnte die jüngste Erkenntnis aus dem Hause des Bundesnachrichtendienstes nicht wirklich überraschen. Erdogan und seine AKP haben die Türkei zur internationalen Plattform des radikalen Islam gemacht, steht dort unter anderem geschrieben.

„So what!“ ist man geneigt zu rufen. Denn längst schon war bekannt, dass Recep Tayyip Erdogan mehr als nur eine religiöse Nähe zum Islam entwickelt hat. Eine Nähe, die sich nicht erst 1998 dokumentierte, als der im Armenviertel Istanbuls aufgewachsene Politiker für das Vortragen der eingangs zitierten Passage aus dem Gedicht Asker duasi („Soldatengebet“) vom türkischen Staatssicherheitsgericht in Diyarbakir zu zehn Monaten Haft und lebenslangem Politikverbot verurteilt worden war.

Der Beginn einer türkischen Karriere

Erdogan, der seinen Stammbaum auf eine aus Georgien zugewanderte Familie zurückführt, hatte zum Zeitpunkt seiner Verurteilung bereits eine langjährige Politikkarriere hinter sich.

Er startete in der nationalislamischen Milli Selamet Partisi (MSP – „Nationale Heilspartei“) des Necmettin Erbakan. Als diese nach der Machtübernahme durch das säkulare Militär 1980 verboten wurde, betätigte sich Erdogan in der 1983 als Nachfolgepartei ebenfalls von Erbakan gegründeten, wiederum nationalislamischen Refah Partisi (RP – „Wohlfahrtspartei“). Dort stieg er 1984 als stellvertretender Vorsitzender in den Vorstand auf.

Als die Wohlfahrtspartei 1997 fast schon traditionsgemäß wegen ihrer islamischen Ausrichtung verboten wurde, ging es nun zur nächsten nationalislamischen Nachfolgepartei, der Fazilet Partisi (FP -„Tugendpartei“). Anders als MSP und RP bekannte sich die FP offiziell zur Demokratie nach westlichem Muster – nützen sollte es ihr wenig, denn schon 1998 leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungen ein mit dem Ziel, auch diese Partei zu verbieten. 2001 ereilte nun auch diese Islampartei das Verbot unter anderem wegen Verstoßes gegen das in der Verfassung verankerte Laizismusprinzip. Parallel zum Verbot der FP folgte die Gründung der Saadet Partisi (SP – „Partei der Glückseligkeit“), der Erdogan mit Getreuen jedoch umgehend den Rücken kehrten, um nun ihrerseits eine eigene islamische Partei unter der Bezeichnung Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP – „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“) ins Leben rufen.

Der längst zum Berufspolitiker gewordene Erdogan hatte, wenn man so will, nationales Heil, Wohlfahrt, Tugend und Glückseligkeit im Gepäck als er sich aufmachte, der Türkei Gerechtigkeit und Entwicklung zu bringen. Tatsächlich allerdings fand sich dort wie in all diesen Parteien das Gedankengut jener extremistischen, der Muslimbruderschaft zuzurechnenden Bewegung Milli-Görüsh („Nationale Sicht“) – einer weltweit aktiven islamischen Organisation, die laut Bundesamt für Verfassungsschutz ein antidemokratisches Staatsverständnis zeige und das Modell westlicher Demokratie ablehne.

Neben diesem ideologischen Rüstzeug konnte der in Istanbul aufgewachsene, mit dem Fachabitur des Imam ausgestattete Sunnit bereits neben seiner auf nur vier Monate verkürzten Haft auf die politische Erfahrung als Bürgermeister der früheren christlichen Weltmetropole Konstantinopel zurückgreifen, als er seine AKP 2002 zur bestimmenden Kraft im türkischen Parlament machte. Dort musste erst sein Weggefährte Abdullah Gül die Bürde des Ministerpräsidentenamtes tragen. Denn für Erdogan galt noch das lebenslange Politikverbot. Gül allerdings bemühte sich erfolgreich um eine Verfassungsänderung, in deren Folge der nun vom Politikverbot befreite Erdogan über eine schnell organisierte Nachwahl  in der Provinz nachträglich in das Parlament einzog und am 12. März 2003 Gül als ersten Mann der Regierung ablöste.

Von Scharia-Fan und Islamterrorismus

Schon in seiner Amtszeit als Bürgermeister positionierte sich Erdogan nicht nur mit dem ihm das Politikverbot einbringenden Zitat als überzeugter Anhänger des Islam. Zu seinen Amtshandlungen gehörte das Alkoholverbot in städtischen Gaststätten, die Einführung nach Geschlechtern getrennter Schulbusse und die Einrichtung von Frauen-Badezonen. Getreu seiner islamischen Politik lehnte er die EU als eine „Vereinigung von Christen“, in der die Türkei nichts zu suchen habe, ab, bekannte sich zur Scharia und positionierte sich mit der zutreffenden Aussage, es sei unmöglich, gleichzeitig Laizist und Muslim zu sein, als überzeugter Vertreter des vom koranischen Propheten festgeschriebenen, totalitären Gesellschaftsmodells.

Auch wenn er als Ministerpräsident zurückhaltender agierte, so dokumentierte sich seine Nähe zur Muslimbruderschaft nicht nur in seiner Reaktion auf die Absetzung des ägyptischen Bruders im Geiste, Mohammed Mursi, durch das Militär – Ursache zu einem anhaltenden, tiefen Verwürfnis zwischen der Türkei und Ägypten und gleichzeitig größter Alptraum des Mannes, der angetreten war, die moderne Türkei des Kemal Atatürk zurück ins islamische Mittelalter zu führen.

Ob „Großer Bahnhof“ für den Chef der terroristischen Hamas aus Gaza oder der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Israel, als deren Marine türkische Sperrbrecher in den Gazastreifen aufbrachte; ob Anklage wegen Geheimnisverrats gegen den Journalisten Can Dündar, der geheime Lieferungen der türkischen Regierung an den Islamischen Staat (IS) aufdeckte; ob Krankenhausaufenthalte für verwundete IS-Kämpfer unter der Ägide einer Erdogan-Tochter; ob Vorwürfe des Jordanischen Königs ebenso wie Russlands wegen der Ölgeschäfte zwischen der Erdogan-Sippe und dem IS – wer Augen hatte zu sehen, der konnte sehen. Wer wissen wollte, der konnte wissen.

Und selbstverständlich wusste auch die Bundesregierung. Nur sollte niemand wissen, dass sie wusste. Denn sie wusste auch: Wird offiziell, was sie weiß, dann hat die Regierung mehr als nur ein Problem.

Gezielt lancierte Vertraulichkeit

Trotzdem lancierte nun das Unions-geführte Innenministerium in der Person des langjährigen Staatssekretärs Ole Schröder eine interne Türkei-Beurteilung des Bundesnachrichtendienstes via PdL in die Öffentlichkeit. Das – und nicht die Erkenntnis der Terrorplattform Türkei – ist das eigentlich Spannende an diesem Vorgang.

Wenn eine solche längst bekannte, offiziell verleugnete Erkenntnis offiziell wird, dann muss der Bundesminister des Inneren nicht nur um den Fakt selbst, sondern auch um das gezielte Durchstecken gewusst haben. Oder vielleicht doch nicht? Hat er das eine oder auch das andere nicht gewusst, dann wäre dieses ein ministerielles Totalversagen, welches seinen umgehenden Rücktritt zur Folge haben müsste.

Wenn Thomas de Maizière aber das eine oder das andere gewusst hat, dann muss es auch der Bundeskanzler gewusst haben. Sollte Angela Merkel es nicht gewusst haben, bliebe ebenfalls die umgehende Entlassung ihres langjährigen Vertrauten unumgänglich.

Die Motivation der drei Affen

Wenn nun aber beide das eine oder das andere gewusst haben – warum haben sie sich ständig so verhalten wie jene drei Affen, die weder etwas sehen noch etwas hören noch etwas sagen? Und warum tun sie, wie der Regierungssprecher verdeutlichte, immer noch so, als handele es sich bei dem Terrorunterstützer Erdogan um einen ganz normalen, befreundetem Politiker?

  • Ist es die Angst vor seiner Drohung, Europa mit muslimischen „Flüchtlingen“ zu fluten, sollte die EU nicht nach seiner Pfeife tanzen?
  • Ist es der Druck aus den USA, die alle Augen zudrücken, nur um die sich ohnehin längst auf Abwegen befindende Türkei in der NATO zu halten?
  • Ist es die Angst darum, die Kontrolle über die in Incirlik stationierten Einheiten der Bundeswehr abschließend zu verlieren?
  • Ist es vielleicht sogar die Angst vor offenen Konflikten mit den AKP-Anhängern der Türken in Deutschland, die die Benennung des Muslimbruders Erdogan als Terroristenfreund verunmöglichte?

Vermutlich ist es von allem etwas – und dennoch und gerade deshalb bleibt der Vorgang bemerkenswert auch jenseits dessen, dass die Bundesregierung trotz gegenteiliger Beteuerungen nun endlich das vollziehen muss, was nicht nur hier bei Tichys Einblick seit über einem Jahr gefordert wird: Die Beziehungen zur Türkei grundsätzlich neu zu denken, die EU-Beitrittsverhandlungen zu beenden und die NATO-Mitgliedschaft auf Eis zu legen.

Unions-Widerstände gegen Merkels Türkei-Politik

Denn dieser Vorgang selbst lässt nur einen einzigen Schluss zu: In der Union sind die Widerstände gegen die deutsche Türkei-Politik und die hinter dieser stehenden Merkel mittlerweile so groß, dass eine gezielte Indiskretion als notwendig erachtet wurde, um das Ruder herumreißen zu können. Ausgerechnet der Ehemann der früheren Bundeministerin Kristina Schröder steckte in seiner offiziellen Funktion als Staatssekretär die BND-Informationen durch und kann sich dabei – wie er es tat – auf die Informationspflicht gegenüber dem Parlament berufen. Allerdings – um die Anfrage zu beantworten, hätte es auch das sonst in vergleichbaren Situationen übliche, inhaltleere Geschwafel und Herausreden getan. Das dieses diesmal anders war, lässt aufhorchen.

Schröder konnte – wie nun  offenbar geschehen – nicht nur Merkel, sondern auch seinen Chef ohne jeden Schaden für sich selbst vorführen. Denn der Holsteiner Abgeordnete aus der Hamburger Vorstadt Pinneberg hat gerade erst vor zwei Monaten seinen Rückzug aus der Politik angekündigt. Was also kann ihm geschehen? Gleichwohl: Es wird mehr dahinter stecken als eine einsame Entscheidung des Ole Schröder.

So gilt die Schleswig-Holsteinische CDU traditionell als konservativ. Möglich, das von dort die Bitte kam, den Türkei-Spuk zu beenden.

Doch auch seiner Frau Kristina, der früheren Ministerin für das von Gerhard Schröder dereinst abfällig als „Ministerium für Gedöns“ bezeichnet,  mag eine Rolle gespielt haben. Ihr wird ein gespanntes Verhältnis zu Merkel nachgesagt – und sie ist nach wie vor in der Partei gut vernetzt. Sie hat ihre Verbindungen insbesondere in den heimatlichen Landesverband der ebenfalls zum konservativen Flügel gehörenden Hessen-Union. Denkbar also auch, dass von dort die diskrete Bitte kam, in Sachen Türkei initiativ zu werden.

Gleichzeitig aber gehören beide Schröders als in den Vierzigern stehend einer politischen Generation an, deren Vertreter nicht länger bereit sein könnten, sich ihre Zukunft durch eine sich und die Union zunehmend mehr ins Abseits manövrierende Merkel nehmen zu lassen. Möglich also auch, dass Schröder ansetzte, den Weg für seit Junge-Union-Zeiten befreundete Mitstreiter freizuräumen.

Vielleicht auch war es nichts anderes als ein verdecktes Spiel zwischen BND und Innen-Staatssekretär, weil es den Geheimdienstlern in Sachen Türkei unter den Füßen zu heiß wird, um die Abwanderung des islamischen Despoten in Anti-westliche Gefilde unkommentiert geschehen zu lassen.

Es riecht nach Palast-Revolte, Frau Merkel

Was immer auch die Motivation hinter den Kulissen des Offiziellen gewesen sein mag: Es riecht mehr als je zuvor nach Palast-Revolution. Und es sieht so aus, dass nicht mehr nur der Bayerische Ministerpräsident alles auf Merkel-Ablösung setzt. Gut vorstellbar also, dass wir in den kommenden Wochen mit weiteren, unerwarteten Erkenntnissen beglückt werden, die Merkel aus dem Amt treiben sollen.

Denn wenn wir in Sachen Motivation auch noch im Nebel stochern müssen, so können wir als gesetzt unterstellen: Wer wie Schröder seit 1989 Politik betreibt, seit 2002 dem Deutschen Bundestag  angehört und davon die letzten sieben Jahre in unmittelbarer Regierungsverantwortung gestanden hat, der ist mit allen politischen Wassern gewaschen. Der wusste auch, dass die als „vertraulich“ deklarierte Antwort auf die PdL-Anfrage umgehend den Weg in die Öffentlichkeit finden würde – und damit die bisherige Regierungspolitik gegenüber der Türkei ins Aus schießt. Es war also weder eine unüberlegte noch eine unbeabsichtigte Handlung, die die Erkenntnisse des BND in die Öffentlichkeit brachte.

Und es wird auch kein verstecktes Spiel des Bundeskanzleramtes gewesen sein, um den sozialdemokratischen Koalitionspartner zu neuem Denken zu bewegen. Dazu war die dokumentierte Ratlosigkeit der Sprecher von Kanzler- und Außenamt  zu groß. Auch hätte sich Ole Schröder kaum als Minenhund Merkels instrumentalisieren lassen – dazu ist die Abneigung seiner Ehefrau gegenüber ihrer früheren Chefin dann doch zu groß.

Das Ende einer deutschen Karriere

Und so bleibt im Ergebnis der Abwägung realistischer Möglichkeiten nur eine unvermeidbare Feststellung: Ole Schröder hat – von wem auch immer inspiriert – nicht nur einen Coup gegen die ungeliebte Merkel gelandet – er hat dabei auch seinen eigenen Minister aus dem Rennen genommen. Denn – siehe oben: De Maizière kann von der Antwort auf die Anfrage nichts gewusst haben. Womit er nach dem Drohnen-Versagen als Bundesminister der Verteidigung nun auch seine Unfähigkeit unter Beweis gestellt hat, das Ministerium des Innern erfolgreich zu managen. So könnte es nun schnell auch um jenen Mann, der in seinem Leben niemals etwas anderes als Politik gemacht hat und der wie kein anderer zur Merkel-Seilschaft gehört, einsam werden. So einsam, wie es um Merkel als Kanzler der Bundesrepublik offenbar schon längst ist.

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