„Internationaler Pandemievertrag“: Wie die USA die Durchgriffsrechte der WHO stärken wollen

Weitgehend unbemerkt verhandeln EU, G7 und WHO einen Vertrag, mit dem in den Pandemien der Zukunft international regiert werden soll. Die Weltgesundheitsorganisation soll nach amerikanischem Wunsch gegenüber den Nationalstaaten deutlich gestärkt werden. Wer nicht mitspielt, kommt an den Pranger.

IMAGO / Andreas Haas
Hauptsitz der Weltgesundheitsorganisation WHO in Genf

Karl Lauterbach ist natürlich in der ersten Reihe mit dabei, wenn es um die Vorbereitung auf künftige Pandemien geht. Und die wird es, wie er zu wissen meint, künftig eigentlich immer geben: „Wir werden jetzt immer im Ausnahmezustand sein. Der Klimawandel wird zwangsläufig mehr Pandemien bringen“, sagte er im März zur Vorstellung seines Buches. Und was das konkret bedeutet, sagte er etwas später, am 28. April in einer Sitzung des Gesundheitsausschusses des Bundestages, deren Protokoll ein Welt-Redakteur öffentlich machte:

„Pandemic Preparedness sei ein sehr wichtiges Thema. Er arbeite seit Monaten im Rahmen der G7-Vorbereitungen mit einer Gruppe von etwa 30 internationalen Wissenschaftlern, großen Stiftungen und Universitäten an einem globalen Pakt für Pandemic Preparedness. Die Arbeiten seien weit fortgeschritten und zielten darauf ab, ein weltumspannendes System zu entwickeln, durch das sehr früh neue Pathogene erkannt werden könnten und in das Spezialisten eingebunden seien, die sich viel schneller als bisher informieren könnten. Mit Modellierungsmethoden und Methoden der genetischen Interpretation könnten so schneller neue Impfstoffe entwickelt und beschafft werden. Das Projekt leite er zusammen mit einem Spezialisten aus Großbritannien. Am 14. oder 15. Mai 2022 werde es einen entsprechenden Vortrag geben, an dem auch der amerikanische Präsident und der Bundeskanzler teilnehmen würden. Am 19. Mai folge eine entsprechende G7-Initiative. Das sei derzeit das wichtigste Projekt des BMG.“

— Tim Röhn (@Tim_Roehn) May 11, 2022

Für dieses „wichtigste Projekt“ seines Ministeriums gab es bislang erstaunlich wenig mediale Aufmerksamkeit. Das wird sich womöglich ändern, wenn die Gesundheitsminister der G7-Staaten (Deutschland, Kanada, Frankreich, Italien, Japan, Großbritannien, USA und die EU-Kommission) am 19. Mai zu dem von Lauterbach oben erwähnten Treffen nach Berlin kommen werden – Deutschland führt in diesem Jahr die G7-Präsidentschaft. Es geht dabei nicht zuletzt um das, was in einem britischen Report für die G7 vom 2. Dezember 2021 „Pandemic Governance“ genannt wird. Ein Begriff, den man mit Regierung, Führung, Überwachung, Kontrolle übersetzen kann. 

Grundlage dieses „Pandemischen Regierens“ soll ein künftiger „internationaler Pandemievertrag“ sein. Die Initiative dafür kommt aus Brüssel, von EU-Ratspräsident Charles Michel. Der Rat der EU trägt diese über G7 und die Weltgesundheitsorganisation WHO nun in die Welt. „Der Rat hat einen Beschluss angenommen, mit dem die Aufnahme von Verhandlungen über eine internationale Übereinkunft über Pandemieprävention, ‑vorsorge und ‑reaktion genehmigt wird. Mit dem Beschluss wird auch der Weg für Verhandlungen über ergänzende Änderungen der Internationalen Gesundheitsvorschriften geebnet“, heißt es in einer Pressemitteilung vom 3. März, die medial kaum ein Echo fand. „Der Vorschlag für einen internationalen Pandemievertrag wurde erstmals vom Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, im November 2020 auf dem Pariser Friedensforum angekündigt. Dieser Aufruf zu einem internationalen Pandemievertrag wurde auch von den Staats- und Regierungschefs der G7 in ihrer Erklärung vom 19. Februar 2021 hervorgehoben.“ 

Ein „zwischenstaatliches Verhandlungsgremium“ werde „am 1. August 2022 erneut tagen, um die Fortschritte in Bezug auf einen Arbeitsentwurf zu erörtern. Es wird anschließend der 76. Weltgesundheitsversammlung im Jahr 2023 einen Fortschrittsbericht mit dem Ziel vorlegen, das Instrument bis 2024 zu verabschieden“.

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Als übernationale Zentrale des akuten pandemischen Regierens soll die Weltgesundheitsorganisation WHO selbst dienen. Und ermöglichen sollen das nicht zuletzt die oben erwähnten „ergänzenden Änderungen der Internationalen Gesundheitsvorschriften“ (International Health Regulations; IHR). Das Forum, das diese beschließt, ist die Weltgesundheitsversammlung (World Health Assembly; WHA), bestehend aus den Gesundheitsministern der knapp 200 Mitgliedsländer der WHO. 

Wie nur auf wenigen kleineren Online-Medien berichtet wurde, etwa im Blog des Wirtschaftsjournalisten Norbert Häring, soll bereits auf der Weltgesundheitsversammlung vom 22. bis 28. Mai, also unmittelbar nach dem G7-Treffen, über einen Vorschlag Washingtons zur Änderung der Internationalen Gesundheitsvorschriften abgestimmt werden.

Laut einem Statement der US-Gesundheitsstaatssekretärin vor dem Exekutivdirektorium der WHA, Loyce Pace, unterstützen ‚mehr als 40‘ Länder den Reformvorschlag: Wie viele es genau sind, und ob es alle EU-Länder sind, ist nicht ganz klar, denn es heißt auf der Liste der unterstützenden Länder lediglich ‚Mitgliedsländer der EU‘. Die 19 außerdem aufgeführten Länder sind Albanien, Australien, Kanada, Kolumbien, Costa Rica, Dominikanische Republik, Guatemala, Indien, Jamaika, Japan, Monaco, Montenegro, Norwegen, Peru, Korea, Schweiz, UK, USA und Uruguay.“ 

Als Belege für die daraus resultierende „Entmachtung der Regierungen und Parlamente“ führt Häring mehrere der US-amerikanischen Änderungsvorhaben an. Hier nur eine Auswahl: 

So soll in Artikel 6 festgelegt werden, dass die Beurteilung eines Vorfalls innerhalb von nur zwei Tagen geschehen und dann von der nationalen Regierung innerhalb 24 Stunden an die WHO gemeldet werden. Das heißt, so analysiert Häring: „… nur drei Tage, nachdem zum Beispiel in einem Land jemand aus ungeklärtem, potentiell epidemisch relevantem Grund stirbt, muss die Regierung sich auf Gedeih und Verderb der WHO ausliefern, die das Land möglicherweise durch eine weltweite Warnung in den Status eines Parias setzt und Tourismus und andere Wirtschaftszweige möglicherweise massiv schädigt“.

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In Artikel 9 geht es um die Nutzung „anderer Reports“ (also nicht solcher der nationalen Regierungen) durch die WHO und die Pflicht der WHO zur Kommunikation mit dem betreffenden Staat. Bislang steht da: „Before taking any action based on such reports, WHO shall consult with and attempt to obtain verification from the State Party in whose territory the event is allegedly occurring in…“ Diesen Satz möchte die US-Regierung ersatzlos streichen. Die WHO könnte also Maßnahmen gegen ein Land ergreifen, ohne sich vorher mit dessen Regierung zu beraten. 

Artikel 10 regelt die Mitwirkung betroffener Regierungen an der Bestätigung von medizinischen Vorfällen, die von Dritten gemeldet wurden. Nach Wunsch der US-Regierung soll die WHO künftig „innerhalb von 24 Stunden“ nach Meldung eines Vorfalls durch Dritte, das betroffene Mitgliedsland auffordern, den Vorfall zu verifizieren. Auch für die Annahme oder Ablehnung des Hilfsangebots, sowie die Übersendung aller verfügbaren Informationen zu dem Vorfall soll die betroffene Regierung nur einen Tag Zeit bekommen. Lehnt die Regierung die von der WHO aufgedrängte Hilfe ab, soll die WHO sofort alle Mitgliedsregierungen über den Vorfall und die Ablehnung informieren müssen (bisher hieß es „darf“) und gleichzeitig ihr Unterstützungsangebot erneuern. Bislang muss dazu vorher die Regierung des betroffenen Landes angehört werden. Das soll entfallen.

Artikel 11 regelt die Voraussetzungen, unter denen die WHO andere Mitgliedsländer und Organisationen über einen Gesundheitsvorfall in einem bestimmten Land informieren darf oder muss. Hier soll nach amerikanischem Wunsch eine Art Joker hinzugefügt werden, den die WHO immer ziehen kann, nämlich falls die „WHO entscheidet, dass es notwendig ist, dass solche Information anderen Staaten zugänglich gemacht werden, um informierte, zeitkritische Abwägungen zu machen“ („… WHO determines it is necessary that such information be made available to other States Parties to make informed, timely risk assessments“). Anders gesagt: Die WHO hat das letzte Wort, um Staaten womöglich an den Gesundheitspranger zu stellen. 

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In Artikel 13 geht es um Gesundheitsmaßnahmen. Hier will die US-Regierung aus einer Zusammenarbeit der WHO mit der betreffenden nationalen Regierung ein automatisch erfolgendes Hilfsangebot an diese machen, indem der Zusatz „auf Anforderung der Regierung“ entfallen. Wenn sie dieses Angebot nicht innerhalb von zwei Tagen annimmt, muss sie das allen anderen WHO-Mitgliedsregierungen gegenüber begründen. In Artikel 15 wollen die USA außerdem die „Entsendung von Expertenteams“ in das betreffende Land als „zeitweilige Empfehlung“ aufnehmen. 

In Artikel 59 soll die Frist für nationale Regierungen, diesen möglichen Regeländerungen zu widersprechen, von 18 Monaten auf sechs verkürzt werden. Die Möglichkeit zum Einspruch gegen diese weitgehende Aufgabe von nationalstaatlicher Handlungsautonomie in der Pandemiepolitik wird also bereits vorbei sein, wenn der internationale Pandemievertrag voraussichtlich 2024 verabschiedet wird. 

Häring deutet diese Änderungswünsche als „eine Ermächtigung der WHO im Falle einer tatsächlichen oder behaupteten Gesundheitsgefahr durch einen Krankheitserreger umgehend den nationalen Regierungen das Heft aus der Hand nehmen zu können und die Lagebeurteilung sowie die Gegenmaßnahmen bestimmen zu können“. Ihr Recht, nein zu sagen zur WHO, werde dadurch geschmälert, dass sie dann sofort weltweit an den Pranger gestellt werden können. Vor allem für wenig mächtige Staaten dürfte es wenige Möglichkeiten geben, dem zu entgehen.

Man kann Härings Deutung, hinter den WHO-Änderungsplänen stünden vor allem die Interessen der (amerikanischen) Pharmaindustrie, für allzu alarmistisch halten. Diese unmittelbaren ökonomischen Interessen mag es geben, aber sie müssen nicht einmal ausschlaggebend sein. In Brüssel, wo der Pfad zum „internationalen Pandemievertrag“ vorgezeichnet wurde, und auch in den Regierungen der G7-Staaten und der WHO könnte die politische Aussicht auf weniger Souveränität für potenziell störende kleine Nationalstaaten durchaus Motivation genug sein. 

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