Neuer Premier Michel Barnier – ein Konservativer will zuhören

Lange glaubte die Linke, einen großen Sieg errungen zu haben. Doch nun hat Macron sich, wetterwendisch wie je, der Rechten zugewandt. Michel Barnier soll eine Minderheitsregierung führen, die sich auch den „Nationalen“ öffnen will. Die stehen skeptisch abwartend vor den Toren der Macht.

picture alliance/dpa/MAXPPP | Julien Mattia / Le Pictorium

Es ist eine Volte, die sich zur Breitseite gegen das politische Links-Establishment Frankreichs auswachsen könnte. Der Präsident hatte seine politische Rentrée nach Sommerferien und olympisch-macronistischen Spielen mit einem offenen Brief gemacht, in dem er eine linke Regierung schon ziemlich klar ausschloss. Noch eine kleine Brücke zur Sozialistischen Partei (PS) war da, die ist nun auch in sich zusammengefallen – angeblich durch deren eigene Schuld, wie die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo (auch PS) feststellte.

Zum Regierungschef machte Macron nun im olympischen Nachsommer den gemäßigten Konservativen Michel Barnier. Mit in der Regierung sitzen damit auch die Mitte-rechts-Republikaner. Es bleibt formal bei einer Minderheitsregierung von etwas über 200 Sitzen (166 konnte die Macronie trickreich gewinnen, 47 die moderaten Republikaner). Für eine Mehrheit wären 289 Sitze erforderlich.

Der neue Premier ist eine gewaltige Enttäuschung für die Linken, die sich nach der zweiten Runde der Neuwahlen als die eigentlichen Sieger fühlten. Zuvor hatte ihr disparates Wahlbündnis die zwar meisten Sitze gewonnen, das aber nur durch einen fragwürdigen Pakt mit der Macronie, mit dem beide das Rassemblement national (RN) von der Macht fernhalten wollten. Und wie sehr hatten die Linken Macron über den Sommer gedrängt, einen der Ihren zum Premier zu machen: mit der Androhung eines Generalstreiks während der Spiele von Paris, mit großen Kundgebungen, „Mobilisierungen“ vor der Nationalversammlung, mit geplanten, aber nie realisierten „Märschen auf Matignon“. Alles hat nichts gefruchtet. Die französische Linke wurde verraten, von ihrem bis dahin engsten Verbündeten.

Endlich zuhören?

Frankreich setzt damit seinen diskreten Weg nach rechts fort. Auf die Ex-Sozialistin Borne und den (enttäuschten) Macronisten Attal lässt Macron damit einen Vertreter der politischen Rechten folgen. Barnier spricht gar von einer „neuen Seite in der Geschichte Frankreichs“, die man nun „mit einem Sinn für Demut“ aufschlagen müsse. Angeblich will der neue Premier endlich jenen Geist des „Zuhörens“ verkörpern, den Präsident Emmanuel Macron seit langer Zeit beschwört, aber kaum je praktiziert. „Respekt für alle politischen Kräfte“ will der Neue einführen, „von diesem Abend an“.

Die Benennung des kühlen Konservativen hat dabei mehrere Vorteile für Macron. Seit seiner Rolle als Brexit-Aushandler gilt Barnier als Mann der EU und guter „Vermittler“ und wird daher für geeignet gehalten, Frankreich durch das eingeleitete EU-Defizitverfahren zu führen. Das wird dennoch eine Mammutaufgabe werden. Schon jetzt warnt Barnier: „Man kann nicht alles in ein paar Tagen neu machen.“

Und angeblich will sich Barnier nun auch auf die Stimmen der Nationalen und der entschiedenen Konservativen in der Opposition stützen. So wird es zumindest ventiliert. Das ist natürlich kein Vertrag, Ausfälle nach links werden weiter möglich sein. Aber tatsächlich fiel die Wahl vor allem deshalb auf Barnier, weil das Rassemblement national (RN) ihm nicht von vornherein das Misstrauen ausspricht. Barnier wurde ausgewählt, weil ihm der Aufbau eines Gesprächskanals zum Rassemblement zugetraut wird – vor allem auch von diesem selbst.

Beugte sich Macron schlicht dem Rat der Ökonomen?

Direkt an der Regierung beteiligen wird sich das RN aber nicht, wie Le Pen nun festhielt. Nochmals kritisierte sie die Vorwahl-Manöver zwischen Macronie und Linksfront, die durch ihre Zusammenarbeit einen „K.O. des politischen Systems“ herbeigeführt hatten. Mit diesem Schaden galt es nun zu leben, ihn quasi notdürftig zu reparieren. Das konnte aber nur gehen, wenn sich die zwischen Linksfront und Nationalen eingeklemmte Macronie für ausreichend viele Partner öffnete und dabei unweigerlich entweder der Linken oder dem RN zuwandte.

Da es aber links ziemlich knirschte, scheint sich Macron nun für die rechte Seite des Parlaments entschieden zu haben. In der Tat ist die Mathematik der Sache klar: Sobald auch die Mitte-links-Sozialisten (66 Sitze) eine Regierung nicht unterstützen, gibt es eine Stimmenmehrheit in der Nationalversammlung nur noch unter Einbezug des Rassemblement national mit seinen 126 Abgeordneten, plus 16 Abgeordneten der Republikaner-Sezession Éric Ciottis, die als Übertragungsriemen zwischen Barnier und der Le-Pen-Partei in Frage kommen.

Damit scheint sich Macron zudem dem Rat von Ökonomen gebeugt zu haben, die noch vor dem zweiten Wahlgang vor einer linken Regierung gewarnt haben. Die politischen Rezepte der linken „Volksfront“ sind demnach um vieles schädlicher für die französische Wirtschaft als alles andere. Nun zeigt sich erneut, wie sich Macron einigermaßen schlawinerhaft an der Macht zu halten sucht: Vor und bei den Wahlen paktierte er mit den Linken, um Le Pens Truppen zu minimieren. Nun scheint er in der Nationalversammlung mit der bisher nicht nur bekämpften, sondern praktisch exkommunizierten nationalen Rechten paktieren zu wollen, um sich über die Zeit bis zur nächsten Präsidentschafts- oder auch Parlamentswahl zu retten. Das RN würde damit vom Gottseibeiuns zum Rettungsanker. Zugegeben, ganz glauben mag man es noch nicht. Aber die Schnittmengen waren schon unter Gabriel Attal deutlich größer geworden.

Was Le Pen will, was Barnier will

Ganz oben auf der Wunschliste Marine Le Pens an die neue Regierung steht eine Änderung des Wahlmodus, um ein ähnliches Patt im Parlament künftig zu vermeiden. In der Vergangenheit hatte ihre Partei sich hier öfter für das Verhältniswahlrecht ausgesprochen, aber vielleicht ist das nicht der einzige und beste Weg, um klare Mehrheiten zu erhalten. Daneben muss der neue Premier, geht es nach Le Pen, natürlich die „außer Kontrolle geratene Zuwanderung“ und die „explodierende innere Unsicherheit“ ins Auge fassen, zuletzt „offensichtlich“ für eine bessere Kaufkraft der Franzosen sorgen.

Zu den Themen, die Barnier als die seinen hervorhob und auf seine To-do-Liste setzte, gehört als erstes „die Schule“, die natürlich bekanntermaßen sehr viel mit der Immigration zu tun hat. Daneben nannte er die Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen, die „alltägliche Sicherheit“ der Franzosen (die bekanntlich immer wieder durch ärgerliche „vermischte Nachrichten“ von Messerangriffen und Enthauptungen getrübt wird), dann das „Meistern der Einwanderung“, die Themen „Arbeit“ und Lebensstandard der Franzosen. „Es wird darum gehen, so gut wie möglich auf die Herausforderungen, den Zorn, das Leid, das Gefühl der Verlassenheit und der Ungerechtigkeit zu reagieren“, suchte Barnier sich als verständnisvollen Kummerkasten der Franzosen zu zeigen. Daneben müsse das Land sich aber „schwierigen Wahrheiten“ stellen, darunter seinen finanziellen und ökologischen Schulden. Das letzte war offenbar ein Zugeständnis an Macron und seinen Ökologismus der Transformation.

Linke Tränen und Wahrheiten

Groß ist nun, wie zu erwarten, der Jammer auf der Linken. „Diese Missachtung der Wahlen muss bestraft werden“, schrie der grüne Abgeordnete Alexis Corbière auf. Der neue Premier stehe selbst nur für vier Prozent der Wahlberechtigten und werde von den Stimmen und dem „Wohlwollen Marine Le Pens“ abhängen. Enttäuscht war auch die linke Kandidatin für das Amt Barniers, die bis vor kurzem völlig unbekannte Verwaltungsangestellte Lucie Castets: „Millionen von Wählern haben sich mobilisiert, um vor allem das Rassemblement National (RN) zu verhindern, und jetzt haben wir einen Premierminister, der völlig abhängig vom RN ist.“

Ganz unrecht hat Castets ja nicht, denn die Fast-Mehrheit von Macronie und Republikanern verdankt sich auch der „unrepublikanischen Front“, die beide mit den Linken gegen das Rassemblement gebildet hatten. Nun hänge aber die Regierung Barnier am seidenen Faden des RN, ätzt Castets.

Manuel Bompard von der linksradikalen „France insoumise“ („Aufsässiges Frankreich“, LFI) meinte gar, nun komme die Regierung Macron-Le Pen: „Die extreme Rechte ist heute der Königsmacher.“ Auch Barnier habe sich zuletzt der Linie des Rassemblement angepasst, nämlich in Fragen der Zuwanderung und inneren Sicherheit. Tatsächlich hatte Barnier bei seiner eigenen Bewerbung um die Präsidentschaftskandidatur der konservativen Republikaner ein „Einwanderungsmoratorium“ vorgeschlagen.

Barnier sprach damals von der „erlittenen Einwanderung“, die nur Probleme und Verlierer schaffe, darunter eine gestiegene Kriminalität und Islamismus. Man könnte natürlich einfach sagen, dass sich die politische Waage damit vernünftigen Lösungen für Frankreichs brennende Probleme zuneigt. 2021 forderte Barnier ganz konkret Migrationsquoten, die jährlich durch das Parlament festzulegen seien, verbat sich eine Interpretation der französischen Verfassung durch französische und EU-Gerichte und wollte das „droit du sol“ (Geburtsortsprinzip) beenden oder doch einschränken. Für den Fall, dass internationale Konventionen eine nationale Politik erschweren, forderte Barnier die Abhaltung von Referenden. Insofern stünde nun, gemessen an seinen Worten, ein trotz EU-Karriere entschiedener Souveränist an der Spitze der französischen Regierung.

„Wir bleiben Opposition“

Indes ließ der RN-Abgeordnete Laurent Jacobelli nochmals die Luft aus Gerüchten einer übertriebenen Nähe von Rassemblement und Regierung: „Wir sind in der Opposition. Wir werden niemanden [an der Spitze] entlasten.“ Gefragt, ob seine Partei eine Regierungsbeteiligung annehmen würde, sagte Jacobelli: „Das ist sehr freundlich, aber ich muss ablehnen.“ Das Rassemblement wolle vielmehr eine „entschlossene, aber intelligente Opposition“ sein. Man will die Regierung also weder unkritisch unterstützen, noch ohne weiteres stürzen. Der konservative Gaullist darf zusammen mit den Macronisten „machen“, solange er die Dinge in die Richtung des Rassemblement treibt.

In der Tat hat das RN schon angekündigt, dass sein Verzicht auf ein Misstrauensvotum die Regierung teuer zu stehen kommen werde. Auch Éric Ciotti warnte, die neue Regierung dürfe nicht einfach nur eine Mélange aus Macronie und moderatem Republikanertum ins Werk setzen. Die Nationalen und entschiedenen Rechten – Le Pen und Ciotti – fordern ihren Teil von der Macht. Andernfalls droht Barnier das Misstrauensvotum.

Marine Le Pen als Fraktionschefin des RN hat in dieser Situation einige Trümpfe im Ärmel. Sie kann die neue Mitte-rechts-Regierung machen lassen und von der Seitenlinie aus darauf bestehen, dass die Dinge in ihre Richtung gehen. Unwahrscheinlich bleibt allerdings, dass Barnier so weit gehen kann, wie Le Pen und Ciotti wollen. Es blieben also noch genügend Leuchtturm-Projekte auch für die eigene Regierungszeit, die man für die Zeit nach 2027 oder vielleicht schon ab 2025 erwartet, falls Macron noch einmal die Nerven verlieren sollte.

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Kommentare ( 3 )

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F. Hoffmann
27 Tage her

Wird spannend. Vor allem sobald den Allgemeinplätzen konkrete Gesetzesvorschläge folgen werden. Bin v.a. gespannt, ob Macrons mühsam erkämpfte Rentenreform zurückgedreht wird, wollten RN und die Sozis. Dürfen im französischen Parlament die einzelnen Fraktionen Gesetzesvorschläge einbringen? Ist ja jetzt eine Art Minderheitsregierung.
Ob Le Pen bedenkt, daß sie bei zu viel Kooperation mit Barnier (und dieser dabei erfolgreich aussieht) einen ihrer möglichen Gegner bei der Präsidentschaftswahl auf den Schild hebt?

Juergen P. Schneider
27 Tage her

Daran kann man sehen, dass Frankreich von einer Politikerklasse regiert wird, die bei allen Streitigkeiten untereinander am Ende doch eine Lösung findet, die dem Wohle des Landes zu dienen in der Lage ist. Auch das Gejaule der linken Gauner über den nun verlorenen – aber sicher geglaubten – Machtanspruch ändert hieran nichts. Die französische Politik wird immer auf nationale Souveränität ausgerichtet sein, etwas anderes ist der dortigen Bevölkerungsmehrheit nicht vermittelbar. Man ist wohl auch willens sich deswegen mit den Brüsseler Bürokraten und dem kaum legitimierten EuGH anzulegen. Wenn ich da an unsere devoten Berliner Regierungsclowns denke, die immer schon den… Mehr

Teiresias
28 Tage her

Macron versucht m.E., die Konservativen durch Einbindung so wirkungslos wie möglich zu halten.
Das nennt man dann wohl „kontrollierte Opposition“.