Weshalb DER SPIEGEL nichts lernen wird

DER SPIEGEL wird zukünftig versuchen, seine Märchen etwas näher an der Wirklichkeit anzubinden. So lange man dort aber nicht begreift, dass man selbst diese Märchen erschafft, wird der nächste Fall Relotius nur eine Frage der Zeit sein.

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Eigentlich wollte ich mich aus dem „Fall Relotius“ raushalten. Eigentlich. Doch dann las ich erst die Eloge des Spiegel-Redakteurs Ullrich Fichtner, dann den Selbstverteidigungsversuch der Chefredakteure Steffen Klusmann und Dirk Kurbjuweit. Und dann war es vorbei mit dem guten Vorsatz.

Weshalb DER SPIEGEL nichts lernen wird

Vorab vielleicht einige Zeilen zur Historie. Nein, nicht der Historie des SPIEGEL-GAUs, sondern der, wie ich davon erfuhr.

Es war der 18. Dezember um 18.04 h, als mich die knappe Email eines guten Bekannten erreichte. Sie lautete: „Alles was der Mainstream gerne lesen wollte, wurde gedruckt. Heute schreibt SPON, dass viele Sachen von Relotius damals schon zweifelhaft waren. Ach, sie haben aber das Weltbild der neuen Deutschland-ist-ein-gutes-Land-Religion gestützt. Ich könnte kotzen.“

Ich muss gestehen – zu diesem Zeitpunkt wusste ich damit wenig anzufangen. Ich hatte tatsächlich keine Ahnung, wer Relotius ist. Was damit zusammenhängen dürfte, dass ich als jemand, der früher einmal begeisterter Spiegel-Leser war, mich von dem immer schlechter werdenden Blatt irgendwann abgewendet hatte und heute bestenfalls die Texte der Wissenschaftsredaktion lese, sollte mir das Magazin in irgendeinem Wartezimmer zufällig in die Hände fallen.

Meine Unkenntnis beförderte sich ohne Zweifel auch dadurch, dass ich mich für diese Selbstbeweihräucherungszeremonien oder Journalisten-Bestechungsversuche über irgendwelche von Zigarettenherstellern ausgelobten Preise noch nie interessiert hatte. Auch Bambis, Goldene Kameras, Oscars und was auf diesem Sektor sonst so herumgeistert – nichts als Marketingsinstrumente der Branche, verknüpft mit ein wenig Heulsuserei der immer so gänzlich unerwartet ausgezeichneten Preisempfänger, die ihren Auftritt vermutlich schon zigfach vor dem Spiegel geübt hatten.

Doch Google half. Schnell „relotius“ und ein „spon“ eingegeben (dabei erst noch vertippt und ein roletius daraus gemacht) – schon tauchten einige Linkangebote auf. Und die Erkenntnis, dass es sich hier wohl um irgendein Skandälchen beim untergehenden „Sturmgeschoss der Demokratie“ handelte.

Klick – und ich landete auf einem Text mit der Überschrift „Manipulation durch Reporter SPIEGEL legt Betrugsfall im eigenen Haus offen“.

Der Fall Claas Relotius ./. SPIEGEL
Das Elend des Haltungsjournalismus
Das klang recht sachlich – und deutete zumindest an, dass da wohl ein Redakteur etwas zu heftig an einigen Schrauben gedreht haben könnte. Im Pretext erfuhr ich dann: Ein gewisser Claas Relotius schien an eigenen Geschichten herummanipuliert zu haben. Was bedeuten sollte: Nicht alles, was er geschrieben hatte, hielt dem klassischen Richterverlangen nach „der Wahrheit, und nichts als der Wahrheit“ stand.

Nun, für jemanden, der dem Spiegel schon vor Jahren den Rücken gekehrt hatte, weil die Stories immer manipulativer und der Stil immer schlechter wurden, war das eigentlich kein Aufreger. Dass der Spiegel nun allerdings von „Fälschungen“ sprach, das ließ aufhorchen – wobei „Fälschungen“ der Versuch sind, etwas zumeist hochwertiges in einer Qualität zu kopieren oder nachzuempfinden, dass der Eindruck vermittelt wird, bei der Fälschung handele es sich um das Original. Die Frage war also: Was hatte der Relotius gefälscht, dass er nun sogar schon gekündigt worden war?

Kurz vor dem Ende der Karriere…

Darüber sollte der nachfolgende Bericht Aufschluss geben. Dachte ich, immer noch keine Vorstellung davon habend, wer dieser Relotius ist. Doch schon der erste Absatz, den ich nun lesen durfte, schien Antwort zu geben.

„Kurz vor dem Ende seiner Karriere kommen sich Glanz und Elend im Leben des Claas Relotius einmal ganz nah.“

Erste Feststellung: Da hat jemand kurz vor dem Erreichen des Rentenalters kräftig Mist gebaut. Der Hinweis, dass der Besagte erst 33 Jahre alt ist, wäre also hilfreich gewesen – hätte aber irgendwie so überhaupt nicht mit dem „Ende seiner Karriere“ korrespondiert.

Doch weitergelesen: „Es ist der Montag vor drei Wochen, der 3. Dezember, am Abend wird Relotius, SPIEGEL-Mitarbeiter seit sieben, SPIEGEL-Redakteur seit eineinhalb Jahren, in Berlin auf eine Bühne gerufen. Er hat nach Meinung der Jury des Deutschen Reporterpreises 2018 wieder die beste Reportage des Jahres geschrieben, über einen syrischen Jungen diesmal, der im Glauben lebt, durch einen Kinderstreich den Bürgerkrieg im Land mit ausgelöst zu haben. Die Juroren würdigen einen Text ‚von beispielloser Leichtigkeit, Dichte und Relevanz, der nie offenlässt, auf welchen Quellen er basiert.‘ Aber in Wahrheit ist, was zu diesem Zeitpunkt noch niemand wissen kann, alles anders. Alle Quellen sind trüb. Vieles ist wohl erdacht, erfunden, gelogen. Zitate, Orte, Szenen, vermeintliche Menschen aus Fleisch und Blut. Fake.“

Zweite Feststellung: Was soll das hier werden? Die Überschrift legte es nahe, dass einige Fakten zu einer Situation dargelegt würden, die dem Spiegel Verdruss bereitet. Stattdessen der Einstieg in eine Reportage über einen Menschen und sein Leben. Absolut unpassend.

Schuld sind immer die anderen
Der Spiegel reklamiert Opferrolle in Causa Claas Relotius
Ich erspare mir an dieser Stelle die Exegese dieses ellenlangen Textes, der sich bei späterer Aufsicht, nach einem etwas tieferen Einblick in das Schaffen des Relotius, wie der Versuch des Autoren Ulrich Fichtner darstellt, das Opfer seiner Schreibkünste mit dessen stilistischen Mitteln zu schlagen. Es ist unter dem Strich ein schwülstiger Text, in dem mit wertenden Beschreibungen nicht gespart wird. Von der „elenden Seite des Claas Relotius“ ist die Rede. Auch die Beschreibung jenes freien Mitarbeiters, der das „Elend“ des CR an den Tag brachte – schwülstig. „Der bescheidene Claas, ein journalistisches Idol seiner Generation“, bricht irgendwann zusammen, „gejagt von der Angst vor Entdeckung“. Und er, der Angeklagte, der Fälscher, packt aus.

Fichtner reißt an, wo „der vielfach preisgekrönte Autor“ das verbreitet habe, was neudeutsch als FakeNews bezeichnet wird. Hier eine erdachte Person, dort ein erdachter Ort. Und doch wirkt das alles surreal. Es ist kein Nachrichtentext, der einen Sachstand vermittelt – es ist die SPIEGEL-Story über die Wirrungen eines Mannes, der mit SPIEGEL-Stories zu glänzen schien. Und so fehlt gleichzeitig die unverzichtbare Distanz zum Berichtsgegenstand wie die Fähigkeit, sich der Materie über das Scheitern eines Phantasievollen sachgerecht zu nähern.

Raum für Phantasie

Tatsächlich: Raum dafür, seiner Phantasie freien Lauf zu lassen, hatte Relotius zur Genüge. Fast 60 Reportagen druckte allein das ehemalige Nachrichtenmagazin an der Hamburger Ericusspitze ab. Niemand hatte auch nur den Hauch eines Zweifels an den Erzählungen des Mitarbeiters. Nun plötzlich aber erkennt Fichtner, woran man des Autoren Abschweifen in die Gefilde der Phantasie schon längst und immer hätte erkennen müssen.

„Immer wieder arbeitet Relotius in seinen Texten mit Musik und Musikzitaten, das zieht sich durch, und die zugehörigen Szenen sind oft mit faszinierender Perfektion gestaltet. Es stehen dann Sträflinge in Waschräumen und beginnen unvermittelt, Popsongs anzustimmen, oder ein verlorenes Kind geht eine dunkle Straße entlang mit einem traurigen Lied auf den Lippen. Die Musik erweitert den Assoziationsraum der Geschichten, sie werden überwältigend sinnlich an diesen Stellen, sie geben der Fantasie der Leserschaft Futter,“ schreibt Fichtner nun. Doch er weiß auch: „Als Redakteur, als Ressortleiter, der solche Texte frisch bekommt, spürt man zuerst nicht Zweifeln nach, sondern freut sich über die gute Ware. Es geht um eine Beurteilung nach handwerklichen Kriterien, um Dramaturgie, um stimmige Sprachbilder. Es geht nicht um die Frage: Stimmt das alles überhaupt? Und dieser Relotius liefert immer wieder hervorragende Geschichten, die wenig Arbeit und viel Freude machen. Relotius ist ein besonders wertvoller Mitarbeiter. Er schreibt ja nicht nur große Sachen. Er beweist sein Talent, seine Hingabe an den Beruf Woche für Woche.“

Sagen, was ist?

Dieser Absatz ist vielleicht der ehrlichste. Wobei der Fairness halber darauf hingewiesen werden soll, dass die Chefredaktion Fichtner vor eine unmögliche Aufgabe gestellt hatte, als sie ihm diesen Abgesang auf einen erklärten Liebling der Redaktion zuwies.

Einen solchen Text zu schreiben, ihn jenseits des redaktionseigenen Schwulstes und der persönlichen Betroffenheit zu verfassen – dafür hätte sich die Spiegel-Redaktion jemanden holen müssen, der von außerhalb des Systems kommt. Jemanden, der nüchtern und sachlich die bis zu diesem Zeitpunkt bekannten Fakten zusammenfasst und sie gleichermaßen der betroffenen Redaktion wie den Lesern präsentiert.

Aber offenbar kann der Spiegel gar nicht mehr anders. Statt Sachverhalte einfach nur journalistisch zu beschreiben, kommt ein Text in der literarischen Qualität einer Hedwig Courths-Mahler. Gefühlig statt sachlich. Emotional statt nüchtern. Und er offenbart damit das eigentliche Dilemma, das hinter dem „System Spiegel“ steht.
Fichtner, der noch voller Stolz auf das Motto des Gründers Rudolf Augstein verweist, welches als Leitspruch „Sagen was ist“ die Eingangshalle ziert, ist nicht nur überfordert – er hält sich auch selbst nicht an diesen Anspruch, wertet, malt Bilder, spekuliert.

Nicht der Tiefpunkt, sondern der Höhepunkt

Dabei ist es nicht so, dass dieses Blatt seinen Hang zur phantasievollen Ergänzung erst jetzt erfunden hätte. Schon in den Siebzigern fanden sich beispielsweise bei der Beschreibung von höchst geheimen Besprechungen hinter verschlossenen Türen scheinbar unbedeutende Kleinigkeiten wie die Farbe der Tischdecke oder das Blümchen auf dem Tisch. Das waren schon immer die kleinen Tricks der Blattmacher, sich Authentizität zu verschaffen, den Eindruck zu vermitteln, bei etwas unmittelbar dabei gewesen zu sein, bei dem man genau dieses keinesfalls gewesen sein konnte.

Die Fichtners und Relotius‘ haben insofern nur ein Konzept weiter perfektioniert. Sie haben die Echokammer, in der sich die Herrschaften in der Hafencity befinden, zu einem prachtvollen Schloss ausgebaut. So ist es falsch, wenn Fichtner schreibt: „Deshalb markiert der Fall Relotius einen Tiefpunkt in der 70-jährigen Geschichte des SPIEGEL.“

Nein, genau das tut er nicht. Er markiert vielmehr den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung, die die Blattmacher Jahr für Jahr Auflage kostet. 1,2 Millionen Zeitungen gingen noch 1991 über Ladentisch und Abo. Für 2017 meldete der Verlag noch knapp 720.000. Ob es sich dabei um reale Zahlen handelt, oder auch diese irgendwie „relotiert“ wurden, lassen wir dahingestellt. Der Leserschwund jedenfalls ist offensichtlich.

Elend des Haltungsjournalismus
Die neue «Spiegel»-Affäre - Die Wahrheit im Auge des Betrachters
In dieser Zeit, in diesen Jahren von 1990 bis 2018, ist DER SPIEGEL vom führenden Nachrichtenmagazin der Republik zur Speerspitze des Meinungskampfes geworden. Der Spiegel von heute ist nicht einmal mehr ein Hauch seiner selbst als das, was Rudolf Augstein, Claus Jacobi, Conrad Ahlers und andere in den frühen Jahren der Republik geschaffen hatten. Damals war der Spiegel unbequem. Doch er hatte Stories mit Nachrichtenwert. Faktenbasiert und häufig böse. Aber immer korrekt recherchiert. Doch das ist schon lange Geschichte. Die Frage, wann der Spiegel eine echte Geschichte hatte, lassen wir ungestellt. Die sogenannte Spiegel-Affäre hat immer noch jeder im Bewusstsein. Aber danach?

Im Gleichschritt der Gefühligkeit

Mit Autoren wie Relotius, der eben nicht die unrühmliche Ausnahme ist, ging die Redaktion im Gleichschritt der Gefühligkeit weg von den Ansprüchen der Gründer. Mit den Geschichten des „bescheidenen Menschen, zurückhaltend, höflich, aufmerksam, ein wenig zu ernst vielleicht“, den Fichtner als „Typ, dessen Eltern man gratulieren möchte zu ihrem gelungenen Sohn“, voller immer noch bestehender Zuneigung beschreibt, hat der Spiegel nur die Konsequenz seiner selbst vollzogen.
Es ist diese Generation der Träumer und Weltverbesserer, deren Kämpfer zumeist bei dem marxistisch-leninistischen Kampfblatt „taz“ ihre ersten Schritte im Agitprop wagten. Und deren Visionäre sich eine Welt zusammenbauten, die doch so wunderbar sein würde, wäre sie erst so, wie man sie herbei schreiben möchte. Es ist eine Generation, die Journalismus verlernt hat und sich selbst als Belehrungsinstrument der zur Selbstreflexion unfähigen Massen versteht.

Es ist faszinierend: Fichtner blickt ohne jegliches Verständnis für die eigene Rolle in diesem journalistischen Trauerspiel auf seinen gestrauchelten Kollegen Claas. Um zu verstehen, möchte er dem heimlich verehrten dann noch eine psychische Deformation zuschreiben, indem er ihn erst zitiert und dann das Zitierte interpretiert:
„’Ich glaube‘, sagte Relotius vergangene Woche, ‚ein normaler Mensch würde sagen, hör‘ mal, Chef, das funktioniert hier nicht, ich sitze fest, wir können die Geschichte nicht machen.‘ Aber Relotius zählt offenbar nicht zu den normalen Menschen. ‚Ich neige dazu‘, sagt er, ‚die Kontrolle haben zu wollen. Und ich habe diesen Drang, diesen Trieb, es doch irgendwie zu schaffen. Man schafft es natürlich nicht. Man schafft eine Fälschung.’“

Das System SPIEGEL wird nicht hinterfragt

Hier bahnt er sich bereits an, der Versuch, nicht das System SPIEGEL hinterfragen zu müssen, sondern einen bedauerlichen Einzelfall zu konstruieren. Gerade deshalb aber ist festzuhalten: Die Geschichten des Claas Relotius sind genau das: Geschichten. Es sind jene Geschichten, die die Redaktion in ihrem weltverbessernden Anspruch, in ihrem Echopalast, lesen wollte.

Hätte Relotius vor 150 Jahren gelebt – er wäre ein begnadeter Colportageschreiber geworden. Phantasievoll mit dem Gespür für das Detail, getragen von einer traurigen Romantik, die auch heute so perfekt jene Kinder des „postfaktischen Zeitalters“ bedient. Es soll nicht darüber gerichtet werden, warum diese schon märchenhaft anmutenden Erzählungen, die sich beim literarischen Ambiente der Groschenromane bedienen, von der Redaktion nicht schon längst als solche erkannt worden sind. Es reicht die schlichte Feststellung, dass man sie als solche nicht erkennen wollte. Zu sehr bedienten sie jene Weltbildvorstellungen im postjournalistischen Mikrokosmos an der Elbe.

Die fast schon abgöttische Liebe zu den Zeilen, die der nun Gefallene niedergeschrieben hatte, prägt nicht nur Fichtners Text vom Mittwoch der Vorweihnachtswoche. Sie schwebt auch über den Zeilen, die im Namen der Chefredaktion am Folgetag von Steffen Klusmann und Dirk Kurbjuweit veröffentlicht wurden.

Reporterpreis mit vernebeltem Blick
Die Spiegel-Affäre: Ist der Reporter Claas Relotius nur Bauernopfer?
Anders als Fichtner schwülsteln sie deutlich weniger, dafür aber bedienen sie sich einer Sprache, die sie sonst immer wieder als verabscheuenswert kritisieren. Immer dann, wenn sie aus dem Munde von Politikern kommt, denen von Klusmann und Co. in aller Regel unterstellt wird, nur um den heißen Brei herum zu reden. So lesen wir das, was aus dem Redenautomaten fällt, wenn tiefe Zerknirschung geheuchelt werden soll: „Aber wir können ihnen versichern: Wir haben verstanden. Und wir werden alles tun, um aus unseren Fehlern zu lernen.“ Der Leser versteht sofort: Tatsächlich haben sie nichts verstanden. Überhaupt nichts. Sie werden nichts tun, um aus ihren Fehlern zu lernen.

Es fällt die Standardfloskel von der „Aufarbeitung in Demut“, wahrzunehmen von einem „Komitee, das jeden Stein umdrehen soll“. Doch sind es nicht die Steine, die umgedreht werden müssen – es ist das Selbstverständnis, es sind die Köpfe der Redakteure.

Der Kampf gegen FakeNews steht über allem

Doch wie könnten sie verstehen, was sie falsch gemacht haben? Wie begreifen, dass sie selbst es sind, die den Fall Relotius geboren haben – weil er alles erfüllte, was sie erfüllt sehen wollten.

Kein Blick darauf, wie sie selbst den Anspruch des Journalismus gegen romantisierende Gefühlsduseleien verblassen ließen.

Kein Blick darauf, dass man längst schon verlernt hatte, was Journalismus ist, und sich selbst zum Kampfinstrument verformt hat. Selbst, als Klusmann und Kurbjuweit in ihrer Mitteilung unmittelbar auf dieses Problem stoßen – keine Reflexion. Das Verharren im Echopalast kann kaum deutlicher werden als mit diesem einen Satz: „Uns ist bewusst, dass der Fall Relotius den Kampf gegen Fake News noch schwerer macht, für alle: für die anderen Medien, die an unserer Seite stehen …“

Darum nur geht es. Darum ging es immer. Es ist der „Kampf gegen FakeNews“, an dessen Kampflinie sich DER SPIEGEL und „die anderen Medien, die an unserer Seite stehen“ erkennt.

Es ist der Kampf um die Durchsetzung des Weltbildes, das sich im Echopalast selbst gezüchtet hat.

Es ist – um es mit den Worten klassischer Medienbetrachtung zu beschreiben – Propaganda, nicht Nachricht. Die Nachricht, das macht dieser eine Satz so unmissverständlich deutlich, ist nur noch das Mittel zum Zweck. Und deshalb ist nicht Relotius der Schuldige, wie es Fichtner und Chefredaktion jetzt gern hätten. Sie selbst sind es. Denn der zurückhaltende Claas, der als Praktikant bei der taz gestartet war und an der Hamburg Media School einen Masterabschluss machte, hat nichts anderes getan als genau das, was ihm zu tun aufgegeben war. Er lieferte die Geschichten, die die Ungerechtigkeiten dieser Welt aufzeigen sollten. Die beim sich als Speerspitze des Guten verstehenden Leser ein wenig Grusel über jene überall lauernden, bösen Mächte verursachen, aber mehr noch den Glauben an das Künftige, das unverbrüchlich Gute im Menschen bestärken sollte, würden nur endlich, endlich die „Richtigen“ alle Macht in ihren Händen halten.

Relotius war der Romancier der rotgrünen Geisteswelt. Die Anfälligkeit dieser Klientel für die kleinbürgerliche Attitüde wird überdeutlich, wenn auf die unverkennbare literarische Nähe zu jenen kleinen Romangeschichten des späten 19. und frühen 20.Jahrhunderts geschaut wird. Hier ist Relotius noch besser als Karl May, der wie er jene Geschichten schrieb, die ihm das Publikum begierig aus den Händen riss.

Relotius bedient die rotgrüne Romantik in Perfektion

Offensichtlich bediente Relotius die grünsozialistische Romantik wie kein zweiter. Wie gut er auf diesem Segment war, das unterstreichen einmal mehr die Chefredakteure, wenn sie formulieren: „Relotius ist ein Reporter, er hat vor allem Reportagen geschrieben. Dies ist eine besondere Form des Journalismus, bei der es vor allem um Anschaulichkeit und Lebendigkeit geht. Der Reporter ist dabei, schaut zu, hört zu, und schreibt dann auf, was er gesehen und gehört hat. Er gibt dem Ganzen eine Dramaturgie und gießt es in eine formvollendete Sprache. So manch einer kann da versucht sein, aus Journalismus Literatur zu machen, die in Fiktion mündet.“

Ja, genau so ist es – auch wenn die Frage der „Formvollendung“ in der Beurteilung des Betrachters liegt. Doch Relotius bleibt ein großer Geschichtenerzähler.

Es sind Geschichten, die manchmal einen zutreffenden Kern haben mögen, manchmal der Phantasie des Autoren entspringen. Es sind vor allem aber Geschichten, an deren Ende immer eine Belehrung für den Leser bleiben soll. Die Selbstbestätigung des Guten auf der Seite des Richtigen. So wie es sich eben für gute Geschichten gehört – nennen wir sie nun Märchen oder Reportage.

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Kommentare ( 82 )

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H.H.
5 Jahre her

Sieh da, sieh da Relotius, die Kraniche des ….
Er ist ja nicht eine Ausnahme. Das ist D E R Stil, den uns auch die Klebers und Slomkas täglich vormachen – nicht bloß schnöde ablesen, nein ! mit Mimik und Sprachbetonung permanent Entrüstung zeigen! Ein Höhepunkt dieser „Kunst“ war mal eine ZDF-Reportage über Sotschi, Monate vor den dortigen Olympischen Spielen. Das Mantra: Alles was Putin macht, ist schlecht. Und bei einer dieser kritischen und überaus abfälligen Anmerkungen wurde eine Katze groß ins Bild genommen, die sich, vermutlich voller Abscheu, abwand und den Platz an der Sonne verließ.

Seppi
5 Jahre her

Gerade habe ich mir über diesen zur Journaille verkommenen SPIEGEL so meine Gedanken gemacht (siehe unten) und bereits gestern mein Abo gekündigt, schon finde ich per Zufall diesen grandiosen Artikel und möchte dennoch meinen Senf dazugeben: Die Fiktion der Superlative Die Überflutung unserer Sinne durch die Universalität des Internets lässt keine hervorgehobenen Dinge mehr zu. Jede These hat unendlich viele Erscheinungsformen und verschwindet damit in dem grauen Nebel der Niveaulosigkeit. Zu jedem bedeutsam erscheinenden Ereignis gibt es ein noch bedeutsameres; und um überhaupt noch eine Beachtung zu erzielen, bedient man sich der Superlative. Diese Unmöglichkeit, bei der Masse der Weltbevölkerung… Mehr

antimo
5 Jahre her

Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit sprichtNur der Leser hat es in der Hand, Lügenblätter abzustrafen.

Erfurter
5 Jahre her

Genial Herr Spahn, Sie können es auch: „Die Selbstbestätigung des Guten auf der Seite des Richtigen.“

Lucius de Geer
5 Jahre her

Eine Familie, das ist mir zuwenig. Woher kommt dieser schräge Name? Das ist doch kein latinisierter Name wie „Fabricius“ oder „Chemnitius“ – eventuell aus dem Baltikum? Wer weiß etwas dazu? Für mich klingt der Name wie aus einem Roman von Thomas Mann…

Lucius de Geer
5 Jahre her

„Früher“ – das muss vor einem halben Jahrhundert gewesen. Der am Trivialroman geschulte „Relotius“-Sound verfolgt mich seit der ersten (und letzten) Spiegel-Lektüre in den 1980/90er Jahren.

Nebenbei: Ist denn nun geklärt, wie dieser Felix Krull des 21. Jh. wirklich ist. „Relotius“ ist doch ein erfundener Name!

horrex
5 Jahre her

So ist es!
KEIN „sagen was ist“ und kein „sich nicht gemein machen, nicht einal mit einer guten Sache“ sondern eine (selbstreferentielle) Echokammer die scheinheilig wie immer in den letzten 30 Jahren, jegliche „Aufklärung“ negierend, systematisch die Menschen in seinem Sinne hinter die Fichte führend weiter machen wird. –
Ein seit den 70ern ehemaliger(!) Spiegel-Leser. Es sei denn wie der Autor auch schreibt das Blatt liegt bein Frisör aus und ich hab mal grade ne 5-minütige Anwandlung von Masochismus. –

magistrat
5 Jahre her

Es kommt in den ganz große Anlagebetrugsfällen nicht selten vor, dass die Betrogenen einen größeren Groll gegen die Polizei hegen, die die Blase, deren Teil man selbst war, zum platzen brachte, als gegen den Betrüger, der die Blase doch erst zum Entstehen brachte. So ist es beim Spiegel. Man möchte ihnen zurufen: nehmt euren Namen ernst und guckt euch im Spiegel an. Dann würdet ihr sehen, was dem Kind in Andersens Märchen beim Anblick des selbstgefälligen Monarchen aufgefallen ist.

Helmut B.
5 Jahre her

Und weil alles so ist, wie Herr Spahn es beschreibt müssen wir uns auch keine Sorgen um die Zukunft des Herrn Relotius (heißt der wirklich so?) machen. Einem derart befähigten Fakenews-Produzenten steht eine große Zukunft beim Regierungsfunk bevor, sobald etwas Gras über die augenblicklichen Misshelligkeiten gewachsen ist. Dann wird er weiter relotieren und sein Können in den Dienst der großen Aufgabe stellen, die Helldeutschland vom Weltgeist zugewiesen wurde.

Evelyn Beatrice Hall
5 Jahre her

Eine hervorragende Analyse durch Herrn Spahn. Am besten hat mir das Verb „relotieren“ gefallen. Wir sollten es in unsern Wortschatz aufnehmen.