Die neue «Spiegel»-Affäre – Die Wahrheit im Auge des Betrachters

Dem deutschen Nachrichtenmagazin ist ein journalistischer GAU passiert. Ein hoch angesehener, vielfach ausgezeichneter Reporter hat seine Storys gefälscht. Jahrelang, unentdeckt.

Johannes Eisele/AFP/Getty Images

Es ist wahrlich weder Anlass für Häme noch für Schadenfreude. Und erst recht nicht für ein markiges: Das habe ich schon immer gewusst. Mitten in die angeheizte Debatte über «Lügen-» und «Lückenpresse», über das Versagen der Leitmedien, deutsche Realitäten richtig abzubilden, zu analysieren und zu kommentieren – nicht zu denunzieren –, platzt ein vom «Spiegel» selbst eingeräumter und aufgedeckter Skandal.

Der 33-jährige «Spiegel»-Reporter Claas Relotius hat eingestanden, mindestens 14 seiner Reportagen gefälscht zu haben. Gespräche, Begegnungen, Personen erfunden zu haben. Oder tatsächliche Recherchen ausgeschmückt, aufgehübscht, mit Fiktion ergänzt und um im Internet gefundene Fakts ergänzt zu haben. 55 Storys von ihm veröffentlichte der «Spiegel», er schrieb für die taz, die FAS, Süddeutsche Zeitung, die Welt, Zeit Online, Zeit Wissen, den Cicero, dazu in der Schweiz noch diverse Zeitungen wie die «NZZam Sonntag» oder die «Weltwoche».

Seine letzte publizierte Reportage brach ihm dann das Genick. Sein Mitautor wurde misstrauisch und recherchierte auf eigene Faust nach, nachdem ihm vom «Spiegel» bedeutet worden war, dass er doch nicht mit unbewiesenen Behauptungen einen angesehenen Journalisten anschwärzen solle. Aber als sich dann die unwiderlegbaren Fakten häuften, kam es im «Spiegel» zum Showdown und zum Geständnis.

Ullrich Fichtner, die beste Edelfeder des Blatts, veröffentlichte eine schonungslose Abrechnung mit einem Mitarbeiter, der insgesamt 55 Reportagen und Storys im «Spiegel» publizierte. Der Reporter habe «mit Vorsatz, methodisch und mit hoher krimineller Energie getäuscht». Aber genauso schonungslos stellt Fichtner die Frage, wie es denn möglich war, dass alle Kontrollinstanzen, die berühmte Dokumentation und andere, über Jahre hinweg nichts Verdächtiges entdeckten. Obwohl doch einige Reportagen «eigentlich zu schön waren, um wahr zu sein».

Aber genau darin besteht das Problem aller Reportagen, wenn sie eine Haltung bestätigen und deshalb so schön erscheinen; wenn Fakten zu perfekt ins vorgefaßte Bild passen. Relotius hat perfekt geliefert, was verlangt wurde. Es fällt auf, dass die Aufdeckung genau in jenem Ton geschrieben und in jenem Stil verfaßt wurde, den Relotius so perfekt bediente. Geht es um die Recherche eines politischen oder wirtschaftlichen Skandals, sind ganze Teams im Einsatz, werden Dokumente akribisch gecheckt, Aussagen mit einer weiteren, unabhängigen Quelle verifiziert. Wenn aber der Reporter unterwegs ist, vielfach auch nicht von einem Fotografen begleitet, um kein unnötiges Aufsehen zu erregen, wenn er Begegnungen und Gespräche in Gegenden schildert, die nur sehr aufwendig oder überhaupt nicht zu verifizieren sind, dann gibt es nur eine einfache Gleichung: Berufsehre und Anstand gegen Vertrauen der Redaktion. Relotius hat bereits eingeräumt, dass diverse Exponenten seiner Reportagen nicht existieren, von ihm erfunden oder aus Versatzstücken aus anderen Reportagen zusammengesetzt wurden.

An dieser Sollbruchkante des seriösen Journalismus bricht immer wieder die Frage auf: Was ist denn eigentlich seriöser, korrekter, richtiger Journalismus? Was Fake News sind oder sein sollen, das ist klar: erfundene, gefälschte, manipulierte News. Also beispielsweise: Ein Reporter besucht ein kleines Kaff in den USA und fragt die Bewohner, ob sie Trump oder Clinton gewählt haben. Dann lässt er alle weg, die sich für Clinton entschieden hatten und behauptet: Dieses Kaff steht wie ein Mann hinter Trump.

Aber: Wie jeder weiss, im Wirtschaftsleben, in der Politik und auch im Journalismus: Lügen haben immer, fast immer, kein langes Leben. Wer lügt und anschliessend überführt wird, macht es um Potenzen schlimmer, als wenn er einfach nichts gesagt hätte oder etwas eingestanden. Das weiss eigentlich jeder Wirtschaftsführer, jeder Politiker und auch jeder Journalist. Warum lügen sie dann?

Im Journalismus gibt es dafür wohl keine allgemeine Erklärung. STERN-Reporter Gerd Heidemann war verblendet von seinen vorherigen Scoops und Opfer seiner Faszination von Nazi-Memorabila. Daraus entstanden die «Hitler-Tagebücher». Tom Kummer ist geldgierig, narzisstisch und hat sich eine Amateur-Theorie über die Realität und unser Verhältnis zu ihr gebastelt und in der Süddeutschen Zeitung wurden sie gerne gedruckt. Wie andere auch, räumt er ein, dass er Zitate, ganze Interviews frei erfunden hat. Aber besteht darauf, dass das die Interviewten sozusagen auf einer höheren Wahrheitsebene durchaus hätten gesagt haben können. Und Relotius war wohl von aussen und von innen zu immer neuen Höchstleistungen getrieben, denn wie sagte Heidemann so grossartig: «Jeder Reporter ist immer nur so gut wie seine letzte Geschichte.»

Aber was ist nun korrekter Journalismus, was unterscheidet ihn von Fake News, «Lückenpresse» usw.? Es gibt keine objektive Darstellung der Realität, wer das behauptet, lügt bereits. Wer über etwas schreibt, sei das ein Mensch, eine Begebenheit, eine Situation, ein Ort, der sollte mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen, das Objekt seiner Beschreibung zu verstehen. Umso präziser, umso besser. «Grölender Neonazi» mag als Etikettierung möglicherweise für viele Medien ausreichen, weil das Böse diesen Namen trägt und die eigene „Haltung“, auf die es ja neuerdings ankommt, daran deutlich wird. Aber wer ist dieser Mensch, wieso verhält er sich so, was sind seine Umstände, das erklärt mehr und besser als es Haltungsjournalismus kann .

Der beste Journalist bringt eine unvoreingenommene Neugier mit, der schlechteste Journalist sucht nach Bestätigungen seiner vorgefassten Meinung. Beides merkt man jedem Artikel an, das merkt auch der Leser. Jeder Journalist muss aus einer Vielzahl von Eindrücken, Gesprächen, Beobachtungen, Recherchen, Fakten, Zahlen einen komprimierten Text kondensieren. Ausser vielleicht bei James Joyce ist es nie möglich, die erlebte Realität eins zu eins in ein Schriftstück zu übertragen. Also zeichnet sich der gute Journalist hier damit aus, dass er gerecht, anständig, dem Objekt entsprechend verdichtet. Und vor allem ohne Arroganz. Nichts einfacher, als ein angetrunkenes Prekariatsmitglied mit feinen Worten lächerlich, peinlich, armselig zu machen. Wer das tut, hat seinen Beruf als Journalist verfehlt.

Und schliesslich, der Journalist darf sich weder gemein machen noch eingreifen. Denn damit verändert der Beobachter das beobachtete Objekt, die Reportage nähert sich nicht mehr so eng wie möglich an das, was wir etwas unscharf Wirklichkeit nennen. Deshalb hat der «Spiegel»-Reporter die einzig unverzeihliche Todsünde im Journalismus begangen: Er hat das Vertrauen des Lesers und das Vertrauen seiner Redaktion missbraucht. Übel missbraucht. Dass seine eigene Karriere wohl am Ende ist, ist wohlverdiente Strafe. Dass der «Spiegel» einen Reputationsschaden erlitten hat, ist bedauerlich. Welche unablässigen Anstrengungen wird es brauchen, um den Satz wegzukriegen: Ach, diese «Spiegel»-Reportage soll ich glauben? Woher weiss ich denn, dass sie nicht von einem noch unentdeckten Fälscher erfunden wurde?
Relotius ist weg und muss sich wohl einen neuen Beruf suchen. Oder er macht den Kummer und probiert es einfach nochmal. Aber die Schäden, die er an der Reputation des «Spiegel» angerichtet hat, die werden ihn und seine Reportagen noch um Jahre überdauern. Und das gilt auch für jenes halbe Dutzend Journalistenpreise, mit denen er ausgezeichnet wurde; allein vier Mal mit dem „Reporterpreis“. Das beschädigt auch diese Jurys meist hochangesehener Kollegen. In der nach ihm benannten SPIEGEL-Affäre hat das Blatt Mängel der deutschen Verteidigung aufgedeckt und leitende Redakteure wanderten für kurze Zeit ins Gefängnis. Jetzt wurde der SPIEGEL selbst Gegenstand der Aufdeckung.

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Kommentare ( 200 )

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Luisa Nemeth
5 Jahre her

Es handelt sich mE um „knallharten Betrug“, wenn man den MSM überhaupt noch was glauben darf. Häme und Schadenfreude wären in der Tat nicht hilfreich bei der offenbar „kriminellen Energie“, die dem Berufsstand der Journos den endgültigen „Todesstoß“ versetzen kann. Dennoch Danke, Herr Zeyer, für den Versuch, das Elend des „Haltungsjournalismus“ zu erläutern.

NordChatte
5 Jahre her

Wenn in einem Magazin, einer Wochen- oder Tageszeitung (auch im Radio und TV) immer nur das abgedruckt wird, was aktuell von der Regierung oder vom Chefredakteur gewünscht wird, kann es schon mal passieren, dass ein vermeintliches „Sturmgeschütz der Demokratie“ leicht zum Flaggschiff des Baron von Münchhausen degeneriert.

linda levante
5 Jahre her

Die TE- Journalisten sollten den Betrug des Spiegels nicht so einfach mit einem oder zwei Artikeln davonkommen lassen. Dieser Skandal muss genutzt werden, um die Mainstreammedien zu demaskieren und vorzuführen. Das ist eine einmalige Gelegenheit für seriöse Journalisten, den Sumpf der Lügen trocken zu legen. TE muss aus diesem Skandal einen richtigen Hype machen, der die nächsten 2 Wochen die Medien beherrscht. Kochen Sie das Thema hoch, bis der Spiegel in die Knie geht und sich öffentlich entschuldigt und der Fälscher und seine Spiegelhelfer vor Gericht gestellt werden.

Lassen Sie sich diese Chance nicht entgehen.

linda levante
5 Jahre her

14 Reportagen und 55 Stories sollen gefälscht sein. Wäre doch mal interessant zu wissen, welche Reportagen und Stories das sind und mit welchem Ziel der Herr gefälscht hat.

Kaltverformer
5 Jahre her

So leicht kommt der Spiegel und der Rest der **, verlogenen Bande nicht davon.
Genau diese Artikel wurden verlangt, weil sie alle nach Haltung und PC schreien.
Wer Kritik übte, der wurde verfolgt und sozial geächtet.

Wenn ich mir die Berichterstattung des Spiegels über „nicht genehme Menschen“ ansehe, wo wirklich alles, bis ins kleinste unwichtige Detail aufgebauscht und übertrieben wurde und hier soll der Spiegel nur „getäuscht“ worden sein?

Nein! In Deutschland steht eine ganze Legion an **, linksgrünen Schreiberlingen Gewehr bei Fuß, um die Wirklichkeit vor den Bürgern zu verdrehen.

elly
5 Jahre her

„Es ist wahrlich weder Anlass für Häme noch für Schadenfreude. “ das sehe ich umgekehrt. Der Spiegel hat sich selbst zum Obermoralisten, als Instanz die die Wahrheit für sich gepachtet hat, erhoben. Mit Häme und Schadenfreude zog und zieht der Spiegel über Andersdenkende her. Allerdings bin ich mir sicher, dass die Menschen im Lande auch hier wieder vergessen werden. Im Moment geistert der Spiegel Betrug durch alle Medien. Nächste Woche dann nicht und dann gerät auch alles in Vergessenheit. Auf die Vergesslichkeit der Menschen können Politiker bauen, weshalb nicht auch die Medien? „US-Botschaft wirft „Spiegel“ „eklatanten Anti-Amerikanismus“ vor“ https://www.welt.de/politik/deutschland/article185986368/Fall-Relotius-US-Botschaft-wirft-Spiegel-eklatanten-Anti-Amerikanismus-vor.html das… Mehr

country boy
5 Jahre her

Genauso schlimm wie die zusammengelogenen Artikel sind allerdings die Titelbilder, auf denen z.B. Trump zu sehen ist, wie er in triumphaler Pose einen abgeschnittenen Kopf hochhält, aus dem noch Blut trieft.
Solche Bilder stehen doch in der Tradition deutscher Gräuelpropaganda aus dunkelster Zeit.

akimo
5 Jahre her
Antworten an  country boy

Sorry: Der Spiegel ist ein linksradikales Pamphlet. Seit 1968

lange00c
5 Jahre her

Der plötzliche Wechsel in der Chefredaktion ,sowie der ebenso plötzliche Abgang von Jakob Augstein als SPON Kommentator bekommt nach dieser Affäre einen Sinn. Ein Schelm wer böses dabei denkt.

Werner Baumschlager
5 Jahre her

Sicher nur ein Einzelfall. Die vielen anderen Geschichten genau der gleichen Machart, von denen die gesamte Medienbranche lebt, sind bestimmt alle wahr.

Sabine Friedl
5 Jahre her

Ich weiß gar nicht, warum sich so viele Verschwörungstheoretiker an diesem Einzelfall abarbeiten. (Ja genau, jeder seiner gefälschten Artikel war für sich ein tragischer Einzelfall, wie so vieles andere auch.) Und sicherlich stand der arme Herr Relotius sehr unter Druck, angesichts des gesellschaftlichen, dringend zu korrigierenden Zustands und der Tatsache, dass man als freier Schreiberling oftmals nicht allzu gut verdient. Und der Spiegel (und andere Veröffentlichende) kann ja auch nichts dafür, schließlich ist er ja selbst betrogen worden und kann daher nicht für die Verfehlungen eines seiner Autoren zur Verantwortung gezogen werden – nur weil er die Artikel unter seinem… Mehr