Ausbrechen aus dem Karussell der Angst

Gesellschaftliche Ängste lassen sich ertragreich bewirtschaften und gegen ihre Profiteure gar nicht so leicht ausbremsen. Einen Weg zur Entschleunigung des Angstkarussells weisen die 95 Thesen von Martin Luther.

1517 hatten viele Menschen Angst; Angst vor dem Gericht Gottes. Dem liegt ein Wissen um die menschliche Fehlerhaftigkeit zugrunde und die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, damit der KZ-Kommandant nicht ungeschoren davonkommt, selbst wenn er mit 97 Jahren gesund und munter im chilenischen Exil friedlich von dannen geht. Gerechtigkeit braucht ein göttliches Endgericht.

Die Kirche war Teil und Motor und Profiteur dieses endgerichtlichen Angstsystems. Mit nahezu unerfüllbaren (Sexual-) Moralforderungen wurde das Gefühl der Schlechtigkeit gesteigert; und mit dem kirchlichen Sonderangebot des Ablasses konnten die Strafen weggekauft und damit die menschlichen Ängste vor dem Gericht Gottes abgemildert werden. Ein einträgliches Geschäftsmodell mit großen „Gewinnsteigerungen“, betonte Martin Luther am 31. Oktober 1517 in These 67. Nutznießer waren die katholische Kirche und der Papst, „dessen Reichtümer heute weit gewaltiger sind als die der mächtigsten Reichen“ (These 86).

Es gibt Profiteure der Angst. Und dabei spielt es keine Rolle, ob diese Ängste begründet sind oder lediglich durch Hysterie oder Manipulation erzeugt wurden.

Auch Adolf Hitler war ein Meister darin, die Ängste der Menschen zu instrumentalisieren. Der Slogan „Volk ohne Raum“ knüpfte an die Hungererfahrungen der Deutschen 1918, 1923 und 1929 an. Hitler nahm diese Ängste auf, steigerte sie und bewirtschaftete sie für seine katastrophalen Kriegspläne. Ein Volk ohne landwirtschaftlichen Raum muss verhungern, wenn es nicht expandiert. Die Angsterzeugung „Volk ohne Raum“ machte die Deutschen bereit, sich selber auf dem Altar des Krieges zu opfern.

Vom Verstand aus gesehen war die Angst „Volk ohne Raum“ irrational: Zum einen hatte Deutschland bereits in der Weimarerer Republik weit vor der Erfindung der Antibaby-Pille eine Geburtenrate von zeitweise unter 2,1 Kindern pro Frau, was für die Zukunft eine abnehmende Bevölkerung bedeutete. Zum anderen wurden die landwirtschaftlichen Erträge großartig gesteigert, indem es etwa der BASF in den 20er Jahren gelang, riesige Mengen an Düngemitteln künstlich und kostengünstig zu erzeugen.

Es ist allerdings die Frage, ob man tiefe Emotionen durch rationale Argumentationen runterregulieren kann. Die Macht der Gefühle scheint stärker zu sein als die Kraft des nüchtern-distanziert-abwägenden Verstandes.

In der Gegenwart bespielen alle Parteien und Medien die Ängste der Menschen. Das kommt an, das elektrisiert: Angst vor der freien Meinungsäußerung, Angst vor Überfremdung, Angst vor der Überhitzung des Planeten, Angst vor Islamisierung, Angst vor Pandemien, Angst vor Russland und China, Angst vor Trump und Orbán, Angst vor dem Faschismus, Angst vor der Verarmung, Angst vor der Atomenergie, Angst vor Deindustrialisierung, Angst vor dem Zusammenbrechen der Sozialsysteme, Angst vor der Bildungsmisere, Angst vor einer DDR 2.0, Angst vor dem Blackout, Angst vor der überbürokratisch-zentralistischen EU, Angst vor staatlicher Überschuldung, Angst vor dem Kollaps des Weltfinanzsystems, Angst vor selbstgefälligen Politkern und Parteien, Angst vor einer politisierten Justiz, Theologie und Medizin.

Welche Ängste davon sind berechtigt? Welche sind aus der Luft gegriffen? Welche sind von wem gezüchtet?

Ohne heftige Debatten werden wir bei diesen Fragen nicht weiterkommen. Fatal ist nur, wenn diese Ängste so tief die Menschen und die Gesellschaft erfasst haben, dass keine Argumente mehr ankommen. Schon Sigmund Freud hat betont, dass der Verstand nur selten Herr im Hause ist und „Argumente“ oft nur die Schleppenträger tiefer Emotionen sind.

So konnte im April 2022 in Deutschland fanatisch über die Einführung der Impfpflicht mit einem unausgegorenen Impfstoff debattiert werden, während man im Universtitätsklinikum Leiden / Niederlande zur gleichen Zeit ohne Maske und ohne Impfnachweis seine Lieben auf der Intensivstation besuchen durfte. Während Deutschland noch im Angstkarussell gefangen war, war in den Niederlanden am 23. März 2022 bereits das Ende der meisten Maßnahmen ausgerufen worden. In emotional hoch aufgeladenen Debatten ist es so schwer, mit vernünftigen Argumenten durchzukommen.

Wie ist Martin Luther mit den Ängsten vor dem Endgericht Gottes umgegangen?

Er hat diese Angst nicht bagatellisiert. Für die Bibel ist klar: „Der Mensch ist bestimmt, einmal zu sterben; danach aber das Gericht“ (Hebräer 6,2). Das stellt Luther nicht infrage. Aber er hält eine frohe Botschaft dagegen: „Der wahre Schatz der Kirche ist das heilige Evangelium der Herrlichkeit und Gnade Gottes“ (These 62).

Die Stärke des christlichen Glaubens ist es, das menschlich-gesellschaftliche Angstkarussell zu entschleunigen durch eine tiefe Spiritualität der Geborgenheit, die ihre Quelle im Evangelium und in der Barmherzigkeit Gottes in Jesus Christus hat. Mit dieser Glaubensgelassenheit ist es möglich, sich offener und nüchterner der vernünftigen Argumentation zu öffnen.

Der Aufklärer Voltaire (1694–1778) betonte, dass man dem christlichen Glauben absagen müsse, um von der Angst zur Vernunft zu kommen. Für Luther dagegen war klar: Die Geborgenheit des christlichen Glaubens entschleunigt weltliche Ängste und wird damit zu einem Düngemittel für die nüchtern-vernünftige Wahrnehmung der Welt, die dann eine Hilfe ist, irrationale Ängste abzumildern oder sogar zu zerstören.

Das Evangelium mit seiner Glaubensgelassenheit ist ein Katalysator für die Vernunft. Und wo Ängste in der Gesellschaft und leider auch in der Kirche überhand nehmen, da braucht es den Schatz der Kirche, der von sich gesagt hat: „In der Welt habt ihr Angst. Doch seid getrost, ich habe die Welt überwunden“ (Johannes 16,33).

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Kommentare ( 11 )

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eschenbach
14 Tage her

Warum sollte man vor „Überfremdung“ Angst haben? Zwar sind immer mehr Stadtteile auf dem Weg in die „Orientalisierung“ – was nicht nur an Geschäften, sondern auch am modischen Geschmack der Damenwelt zu erkennen ist- aber überfremdet? Nennen wir es mal so: Diese Stadtteile sind „mit Bereicherung gesättigt.“ Das meint annähernd das Gleiche wie das Ü- Wort, aber Sie riskieren damit keine Hausdurchsuchung.

Mausi
14 Tage her

Dankeschön. Luthers Reformation war eine Revolution. Eine Revolution gegen die Angst, die nicht unser Seelenheil will, sondern unsere Unterwerfung und darüber auch unser Geld. Angst vor der Hölle wollte Luther niemandem nehmen. Dass Luther von seiner Zeit geprägt war (Bauern, Hexen, Juden), tut dem keinen Abbruch. Auch die Bezeichnung als linksgrün wird ihm in keiner Weise gerecht. Denn linksgrün ist das aktuell herrschende Weltbild. Luther steht immer gegen die aktuellen weltlichen Ängste. Mit Hilfe der Bibelworte. Dass auch die evangelische Kirche Ängste schürt, weltliche Ängste, gehört zu menschlichen Institutionen. Luther mit den Bibelworten erinnert daran, dass der Glaube von Angst… Mehr

Deutscher
14 Tage her

Naja. Luther war damals eher, was heute die Linksgrünen sind. Ein politischer Aktivist, im Grunde. Sicher, die katholische Kirche hatte weltliche Macht und Güter an sich gerissen. Aber das tat die evangelische dann genau so und die EK ist längst zu einem politischen Machtapparat verkommen.

Luther wird heute als revolutionärer Erneuerer der Kirche verklärt, zumeist von Leuten, die selber nicht mal konsequent genug sind, aus der EK auszutreten.

Nibelung
14 Tage her

Mit der Angst als Druckmittel, läßt es sich ganz gut leben, wenn man auf dem Führerstand andere Ziele verfolgt als die Passagiere, die nichts anderes wollen als eine schöne Reise auf dieser Erde zu absolvieren und dann von solchen Typen hinten und vorne gegängelt werden. Auch Luther hat eigennützig gehandelt und sah sich schon als Ersatzmann für das Papsttum, was ihm auch zum Teil gelungen ist, indem er die Kirche spaltete und seine eigene und zugleich rabiate Ansicht im Land aufbauen konnte, was allerdings zu den schlimmsten Verwerfungen führte und bis heute in Fortsetzung anhält, wenn auch in gemäßigter Form… Mehr

dill
14 Tage her

Das Problem, Pastor Zorn, ist: Luther und die Luther-Kirche haben neue Ängste geschaffen. So droht er Menschen, die nicht den „rechten evangelischen Glauben“ haben, mit ewiger Verdammnis und hat Hetzschriften verfasst gegen Juden, sogenannte Hexen und gegen Bauern, die gegen die „gottgewollte“ Obrigkeit aufgestanden sind.

achijah
14 Tage her
Antworten an  dill

Luther bleibt als Mensch hinter seinem Glauben und der Frohen Botschaft zurück. Das hat Luther immer auch zugegeben. „Wir sind Bettler, das ist wahr“ waren seine Worte vor seinem Tod.

Chris Groll
14 Tage her

Kirche spielt auch heute noch mit der Angst und verdient sich eine goldene Nase, in dem sie Menschen nach Deutschland/Europa holt, die den Menschen nur noch Angst einjagen. Berechtigte Angst.
Wenn die Menschen sich nach den zehn Sätzen (Geboten) richten würden, wären viele Auswüchse und Abartigkeiten der heutigen Gesellschaft nicht möglich.

verblichene Rose
14 Tage her

Über Tauben sagt man, daß sie die Ratten der Lüfte seien. Und manchmal sind es dann auch so viele, daß ihr Kot überall verteilt ist und sich die Menschen davor ekeln. Darüber, daß schon ein Mensch durch was auch immer infiziert wurde, ist mir persönlich trotzdem nichts bekannt. Vor meinem Laden laufen viele Tauben und sie sind so viele, daß ich ihnen sogar auf dem Bahnsteig vom Hauptbahnhof begegne. Wenn sich diese Tauben auf mich zubewegen, gehe ich langsamer. Das machen die dann auch. Man beäugt sich und geht sich respektvoll aus dem Weg. Viele Menschen treten allerdings nach ihnen.… Mehr

Nibelung
14 Tage her
Antworten an  verblichene Rose

In diesen Ausführungen sehe ich mehr Empathie als in den ganzen führenden Köpfen, deren Intention nur ausgerichtet ist nach mehr und dabei gehen sie sprichwörtlich über Leichen und wer das nicht sehen will, dem kann man auch nicht mehr helfen, denn Dummheit ist das eine und wird von der Gier ergänzt, als ungünstigste aller Ausgangspositionen, weil der Verstand im Detail beginnt und daraus kann großes erwachsen, wenn man den ethischen Regeln folgt und sein Recht nicht mit der Keule erzwingen will, als niederste Möglichkeit aller Instinkte, die in unzivilisierten Menschen innewohnen.

a.bayer
14 Tage her
Antworten an  verblichene Rose

Viele Menschen begegnen im Hauptbahnhof vor allem den Hinterlassenschaften der Tauben. Das ist die Kehrseite.

verblichene Rose
14 Tage her
Antworten an  a.bayer

Ich war schon auf öffentlichen WC’s die schlimmer aussahen als jeder Bahnsteig. Tauben gehen dort nicht aufs Klo…