Stille Nacht

Erlöser fallen nicht vom Himmel. Das ist zwar keine christliche Weihnachtsbotschaft, aber vielleicht denken Sie darüber nach, wenn es still wird heute Nacht.

Tut mir leid. Heute habe ich keine frohe Botschaft für Sie. An einen betrüblicheren Zustand des Landes kann ich mich persönlich nicht erinnern. Das will etwas heißen – ich bin fast so alt wie diese Republik.

I.

Als sie, die Bonner Republik, auf die Welt kam, lag Westdeutschland noch weitgehend in Trümmern. Aber die Stimmung hatte die missliche Lage bereits überwunden, weil es vorwärts ging und aufwärts. Mit der Stimmung ist es wie mit dem Aktienkurs. Er spiegelt weniger die aktuelle Lage als die Erwartungen. Hoffnungen und Befürchtungen sind bereits eingepreist. Es war der Optimismus, der alle in die Hände spucken ließ. Und die Aussicht, dass es den eigenen Kindern einmal besser gehen würde.

II.

Es gab Zeiten, da trösteten sich die Deutschen regelmäßig damit, dass die Lage besser sei als die Stimmung. Denn die meisten empfanden ihre persönliche Lebenssituation besser als die allgemeine Lage. Diese Dissonanz ließ auf Zuversicht schließen. Aber mittlerweile ist die individuelle Situation der Bürger vom allgemeinen Zustand meist nicht mehr zu unterscheiden. Grau in Grau.

III.

Was ihre politische, ökonomische und intellektuelle Vitalität angeht, ist die Berliner Republik an einem Tiefpunkt angelangt. Was nicht heißt, dass es nun nur noch aufwärts gehen könnte. Wenn nicht alle Zeichen täuschen, wird es noch weiter abwärts gehen. Die Leute mögen sich nach Optimismus sehnen. Der aber ist gerade so schwer lieferbar wie Hustensaft.

IV.

Zukunftsoptimismus haben die Bewerkstelliger der großen Transformation aus dem Sortiment genommen. Er wird in Deutschland nicht mehr produziert. Die Regierung organisiert nur noch Niedergang und preist ihn als Rettungstat an. Noch bedrohlicher als Lage und Stimmung ist deshalb der politische und geistige Zustand des Regierungslagers. Er ist eine ungute Mischung aus Selbstgefälligkeit, Realitätsverweigerung, bürokratischer Selbstfesselung, handwerklicher Inkompetenz und ideologischer Verblendung. Ohne Aussicht, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern könnte.

V.

Na bitte, dann geht es den Deutschen eben doch nicht ganz so schlecht. Sonst würde sich ja etwas ändern. Sonst würde der Souverän, würden die Bürger, endlich aufwachen und aufstehen. Warum tun sie es nicht? An diesem Punkt stockt mir die Feder. Die ehrliche Antwort auf diese Frage ist von allen Gründen deprimiert zu sein, der deprimierendste.

VI.

Aber es geht uns doch noch gut! Schauen Sie sich nur um auf der Welt! Wären Sie lieber Argentinier? Trotz WM-Titel: geschenkt. Oder Afghanin? Bitte kein Zynismus! Die Deutschen hätten andere Möglichkeiten. Sie sind Besseres gewohnt und haben Besseres verdient, als sie derzeit bekommen. Das ist die eigentliche Tragödie, dass sich die Deutschen gerade selbst weit unter Wert geschlagen geben, und das noch für einen Gewinn halten wollen. Für die Menschheit – darunter tun sie es nicht. Darauf kommt meist als Antwort: Es geht uns noch nicht schlecht genug. Das ist doppelter Zynismus. Die meisten Deutschen sind – erstens – keine Masochisten. Und dass sie aus Katastrophen immer die richtigen Schlüsse ziehen, ist – zweitens – ein Gerücht.

VII.

Psychologen haben festgestellt, dass die Mehrheit der Deutschen sich im „NoFuture-Modus“ (Stephan Grünewald, rheingold Institut) befinden. Sie haben bereits resigniert, ziehen sich in ihre privaten Schneckenhäuser zurück, suchen Harmonie nur noch mit sich selbst, verschanzen sich, basteln an Tarnkappen, schalten alles ab, nicht nur, um Strom zu sparen. Sie belegen Kurse im Verzwergen, hoppeln mit ihren Steckenpferden über die verwüsteten Schlachtfelder des woken Zeitgeists. Sie sind voller Widersprüche: treten aus ihren Kirchen aus, aber das grüne Glaubensbekenntnis beten sie freiwillig herunter. Glauben sie wirklich, sie könnten besser schlafen, wenn sie in die innere Emigration gehen? Ach, es ließe sich so heilsam spotten über die Schafe da draußen. Sarkasmus ist rezeptfrei und unbeschränkt lieferbar, wenigstens der.

VIII.

Erlöser fallen nicht vom Himmel. Das ist zwar keine christliche Weihnachtsbotschaft, aber vielleicht denken Sie darüber nach, wenn es still wird heute Nacht.

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Kommentare ( 108 )

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108 Comments
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Peter Pascht
1 Jahr her

„Aber wie generiert man starke und laute Mehrheiten, die auch letztendlich gesehen und gehört werden?“ Indem man einen „Medien-Putsch“ veranstaltet, denn schon Lenin wusste, die „Presse“ ist ein Kampfmittel des politischen Kampfes. Deswegen hat auch die SED-Sekretärin für Indoktrination und Propaganda Merkel, überall im ÖRR und auch in privaten Medien, ihre „IMs“ plaziert, die auch heute noch im geheimen wirken. Was ich zunehmend im ÖRR sehe, ist die Zunahme, der Verherrlichung von „DDR-Putschisten“ und einer Verbrecher Diktatur, die beinahe 50 Jahre lang, unter dem Vasallenschutz der kommunistischen Besatzungstruppen Stalins, die freiheitlich bürgerliche Ordnung in einem geschichtlichen Teil Deutschlands in eine… Mehr

Last edited 1 Jahr her by Peter Pascht
Mozartin
1 Jahr her

Wie, Herr Herles? Sie müßten sich nicht ausruhen? Für mich waren die 16 Jahre Merkeljahre trotz SPD-Beteiligung der, überspitzt, „galoppierende Ritt der apokalyptischen Reiter“, denen sich , wieder überspitzt, die evtl. so angerufene „Erlöserin“ stellte. Es war so schwer, weil es sich m.E. um eine Überspitzung handelte, also nie grundverkehrt war. Vor allem durfte unsere Demokratie nicht beschädigt werden, weder durch vermeintliche Erlöser noch deren erbitterste Widersacher. Das alles in Zeiten der Wiedervereinigung, die nach meinem Empfinden die Räume für die Einzelnen großzügig gestalten musste, also auch für eine Frau Merkel. Ich bin so erschöpft, weil ich hoffe, dass wir… Mehr

Walter Eiden
1 Jahr her

Pointierter und treffender Beitrag. Leider, muss man schon fast sagen. Die Deutschen (eigentlich müsste es „die in Deutschland lebenden“ heissen) funktionieren im Konditionierungssinne hervorragend wenn es darum geht sich im politisch handgemachten Schicksal einzurichten anstatt die Wurzel allen Übels zu bekämpfen.

DELO
1 Jahr her

Das Elend und der Niedergang des Teiles von Deutschland, daß sich DDR nannte, kam nicht als Urknall. Langsam sichte dieser Teil Deutschlands durch die „Diktatur des Proletariats“, also der Führung durch Ungebildete und Ideologen ins Chaos. Die Deutschen hier in Westdeutschland kennen diese Erfahrung nicht und die Ostdeutschen, die sie kannten, sind größtenteils ausgestorben oder altersbedingt zu schwach zum Aufbegehren. Deshalb kann dieser gegenwärtige Trip zur DDR 2.0, schwachsinnig die „Große Transformation“ genannt, auch nur von den Rot/Grünen Spinnern ohne Gegenwehr durchgeführt werden.

HeinerMueller
1 Jahr her

Noch eine Prise Depression gefällig ? Es wird eine Zeit geben, in der sich das „deutsche Volk“ an das gute Weihnachten 2022 erinnern wird. Es kommt eine Zeit, die viele von uns sich noch nicht vorstellen (können)…. Die Digitalisierung, biometrische Ausweisbilder, Fingerabdrücke des ganzen Volkes macht es zu einem Spielball von machtberauschten Unterdrückern a la Xi Jiping und seinen chinesischen Freunden. Wir werden noch alle über das Stöckchen springen, wenn es uns hingehalten wird. Mit Ausnahme weniger, die wie Robin Hood sich im deutschen Sherwood Forest verstecken. Deutschland hat erneut seine Unschuld verloren, wie 1914 und 1933 stehen wir erneut… Mehr

Reini
1 Jahr her

Danke Wolfgang Herles für Ihre „Weihnachtsbotschaft“, Beschreibung des Elends und Zeichen der Hoffnung dieses zu überwinden zugleich. Danke.

abel
1 Jahr her

2022 war ein richtig tolles Jahr für die amerikanische Wirtschaft. Der größte wirtschaftliche Konkurrent in Europa liegt vollständig am Boden und freut sich seiner Selbst.

abel
1 Jahr her

Und gestern waren die Kirchen voll mit Menschen. Und hätten sie die Heizung im Dezember_2022 wie im November ausgeschaltet dann wären die Kirchen dieses Jahr das erste Mal so richtig leer gewesen über Weihnachten. Selbst die Grünen Stammwähler hätten sich nicht in eine kalte Kirche gesetzt. Dafür werden dann die Kirchen ab 01. Januar kalt und leer bleiben. Zu Ostern gibt es dann erneut die Ausnahme und es darf geheizt werden.

Adorfer
1 Jahr her
Antworten an  abel

Voll? Wo war das denn? Bei uns war Leere. Und der Pfarrer eine Zumutung.

Peter Pascht
1 Jahr her
Antworten an  abel

Auch 2022 blieben die Kirchen kalt, wie in den Medien zu lesen.
Die Heizungen in den Kirchen waren auf 10-12°C Innentemperatur eingestellt.
Den Messebesuchern wurde empfohlen sich warm anzuziehen.
In manchen Kirchen lagen auch Decken zum einwickeln bereit.

Trump-Knarrenbauer
1 Jahr her

Vollste Zustimmung zu den genannten acht Punkten! Auch ich „beiße mir gedanklich“ sehr oft die Zähne an Punkt fünf aus … Es ist schon so, dass es „uns“ wohl (als Gesamtheit gesehen) eben „leider“ noch immer zu gut geht. Es tut alles immer noch nicht weh genug. Und wenn es dann irgendwann mal so richtig weh tut, dann wird es u. U. zu spät sein … Jeder ist halt irgendwo auch Einzelkämpfer im Leben. Ja, man will „etwas tun“; aber wie, wann und wo? Nur immenser, andauernder Druck durch eine laute, breite Masse, würde die Verantwortlichen zum Umdenken bewegen. Aber… Mehr

EURO fighter
1 Jahr her

Chaim Noll hat mal (auf Achgut) über ein Gesprächmit Bärbel Bohley (1991) berichtet, Thema war die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Zitat: „Und nun sagte sie [Bohley] etwas, was ich nie vergass. „Alle diese Untersuchungen“, sagte sie, „die gründliche Erforschung der Stasi-Strukturen, der Methoden, mit denen sie gearbeitet haben und immer noch arbeiten, all das wird in die falschen Hände geraten. Man wird diese Strukturen genauestens untersuchen – um sie dann zu übernehmen.“ Als wir verblüfft schwiegen, fuhr sie fort: „Man wird sie ein wenig adaptieren, damit sie zu einer freien westlichen Gesellschaft passen. Man wird die Störer auch nicht unbedingt verhaften.… Mehr

Wolfgang Schuckmann
1 Jahr her
Antworten an  EURO fighter

Ich kann Ihnen nur Zustimmen. Allein schon wie man mit ihr umgegangen ist, zeigt die Unbarmherzigkeit, mit der Menschen andere unter ihr Joch zwingen, wenn sie dazu in der Lage sind.