Neue „Demokratie“: Nicht der Wähler, der Richter entscheidet

Imamoglu, Le Pen, Georgescu – drei potentielle Wahlsieger, die per Gerichtsurteil daran gehindert werden, überhaupt zu kandidieren. Das signalisiert eine Zeitenwende der Demokratie.

IMAGO, picture alliance / AP - Collage: TE

Alles ist relativ, wissen wir seit Einstein – auch die Demokratie. In den letzten vier Monaten haben drei Nato-Länder, darunter zwei EU-Mitglieder und ein EU-Beitrittskandidat, in die Trickkiste autoritärer Regime gegriffen, um die jeweilige Regierung an der Macht zu halten – weil die Gefahr bestand, dass die Wähler lieber etwas anderes hätten.

Das rumänische Verfassungsgericht erklärte am 6. Dezember 2024 eine bereits erfolgte und von ihm selbst validierte Präsidentschaftswahl für ungültig, nachdem der nationalistische, Nato- und EU-kritische Kandidat Calin Georgescu überraschend die erste Runde dieser Wahl gewonnen hatte und auch in der Stichwahl Chancen auf den Sieg zu haben schien.

Am 18. März wurde Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu von der Universität Istanbul sein Hochschuldiplom aberkannt. Ein solches Diplom ist Bedingung für eine Präsidentschaftskandidatur. Tags daruf wurde Imamoglu verhaftet und am 23. März in Untersuchungshaft genommen – wegen Verdachts auf Korruption und „Unterstützung einer Terrororganisation” (die kurdische PKK).

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An jenem 23. März fand die Kandidatenkür seiner Partei, der CHP, statt, die ihn zu ihrem Kandidaten bei den nächsten türkischen Präsidentschaftswahlen erhob. Die Wahl findet erst 2029 statt, aber viele Beobachter glauben, dass Imamoglu gute Chancen hätte, gegen den jetzigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan zu gewinnen.

Die türkischen Behörden warnten Journalisten, keine voreiligen politischen Schlüsse aus den Vorgängen zu ziehen, denn die Türkei sei ein Rechtsstaat und die Justiz unabhängig. Viele Beobachter hegen daran leise Zweifel.

Am 31. März wurde Marine Le Pen, die Vorsitzende des nationalkonservativen Rassemblement National in Frankreich, von einem Pariser Gericht der Zweckentfremdung von EU-Geldern für schuldig befunden. Zwei Jahre Hausarrest mit Fußfessel, zusätzlich zwei Jahre Haft auf Bewährung, 100.000 Euro Geldstrafe, vor allem aber: Entzug des „passiven Wahlrechts” auf fünf Jahre. Das heisst: Sie darf bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2027, bei denen sie nach derzeitigem Stand gute Chancen auf einen Sieg hätte, nicht kandidieren. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass sie aus EU-Geldern bezahlte Mitarbeiter ihrer Fraktion im Europaparlament teilweise für Parteiaufgaben in Frankreich verwendete. Auf diese Weise seien EU-Mittel zweckentfremdet worden. (Das ist etwas, was bei vielen Parteien im EU-Parlement passiert). Zu der Zeit (bis 2017) litt das RN unter Geldproblemen, unter anderem deswegen, weil französische Banken sich weigerten, ihr Kredite zu gewähren.

Das Urteil wurde von vielen Beobachtern als unverhältnismäßig hart kritisiert, besonders die Tatsache, dass die Berufung dagegen keine aufschiebende Wirkung hat. Obwohl das Urteil also formal nicht rechtskräftig ist, wird es de facto sofort umgesetzt, ohne auf das Ergebnis des Berufungsverfahrens zu warten. Dieses dürfte wegen „Überlastung der Gerichte” lange auf sich warten lassen und nicht rechtzeitig vor den Wahlen 2027 abgeschlossen werden.

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All das erinnert an die diversen Gerichtsverfahren gegen Donald Trump in den USA – auch da waren nicht wenige Beobachter der Meinung, dass eine politisch aufgeladene Justiz entweder von der Biden-Administration instrumentalisiert wurde, oder aber von sich aus politisch agierte, um eine Kandidatur Trumps bei den Präsidentschaftswahlen 2024 zu verhindern oder doch zumindest seinen Ruf und damit seine Erfolgsaussichten zu schädigen. Da klappte bekanntlich nicht, auch ein Mordanschlag und ein weiteres geplantes Attentat blieben erfolglos.

Dass all dies strukturell sehr ähnliche Vorgänge in vier Ländern sind, die im weitesten Sinne dem „Westen” zugerechnet werden, wird durch den Umstand verdeckt, dass die Geschehnisse je nach politischer Neigung unterschiedlich rezipiert werden. Liberale, die sich freuen, dass die „rechten” Kandidaten Georgescu und Le Pen endlich politisch ausgeschaltet wurden, beklagen das Vorgehen gegen den liberalen Imamoglu als perfides Vorgehen des „Erdogan-Regimes”. Und Konservative, die das Vorgehen gegen Georgescu und Le Pen als „undemokratisch” verurteilen, scheuen sich, in der Affaire um Imamoglu Erdogan anzugreifen.
Hinzu kommt, dass es Länder mit sehr unterschiedlicher demokratischer Tradition sind. Rumänien und die Türkei sind relativ junge Demokratien mit einer langen machtherrschaftlichen Tradition. Im Westen tendiert man dazu, bei demokratisch zweifelhaften Winkelzügen in Rumänien oder der Türkei ein Auge zuzudrücken und zu denken: Naja, Rumänien, Türkei, was erwartet man anderes.

Die USA (mit den politisch gefärbten Verfahren gegen Trump) und Frankreich hingegen sind, zusammen mit England, die Ursprungsländer der westlichen Demokratie. Apropos England: Was wird dort wohl passieren, wenn eine Situation entsteht, in der Nigel Farage die nächsten Wahlen gewinnen könnte?
Den klaren Blick aufs Wesentliche verstellt auch die Tatsache, das keiner der betroffenen Politiker ganz unschuldig ist. Trump hat in der Tat regelwidrig Schweigegeld zahlen lassen an eine Pornodarstellerin. Georgescu hat in der Tat angegeben, keine Wahlkampfkosten gehabt zu haben, in Wirklichkeit aber hat er sehr wohl Geld dafür ausgeben müssen. Marine Le Pen hat allem Anschein nach tatsächlich EU-parlamentarische Assistenten für innenpolitische Arbeit verwendet. Und Imamoglu hat eine Baufirma und ist Bürgermeister von Istanbul, wo viel gebaut wird. Dort ganz auf Vorteilnahme verzichtet zu haben, würde praktisch der türkischen Kultur widersprechen.

Aber dass er eine Terrororganisation unterstützt haben soll, und dass Georgescu seinen Erfolg russischer Einmischung zu verdanken hat, ist unbewiesen und zweifelhaft.

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Allen kann also etwas vorgeworfen werden, es kann keine Rede davon sein, dass in allen Fällen ein und dasselbe politische Lager die Muskeln spielen liess (Erdogan ist nicht im selben Lager wie der westliche oder prowestliche Mainstream, gegen den Georgescu und Le Pen zu Felde zogen), und es handelt sich um Länder mit ganz unterschiedlicher politischer Tradition.

Es ist dennoch, trotz aller Unterschiede, in allen Fällen ein und dieselbe Sache. Hier wurden Präzedenzfälle geschaffen (oder versucht zu schaffen, in Trumps Fall), dank derer künftig in jeder Demokratie der EU und des atlantischen Bündnisses Gerichte den Wählerwillen unterbinden können, wenn die Umstände es politisch zu erfordern scheinen.

Die Überzogenheit der Gerichtsurteile (in Marine Le Pens Fall die Tatsache, dass ihre Berufung den Urteilsvollzug nicht aufschiebt) und ihr Timing verrät, dass hier eine politische Absicht im Spiel war. Ob durch direkte politische Intervention einer inländischen oder gar ausländischen Macht (im Falle der Rumäniens spricht viel dafür, dass die USA intervenierten) oder durch politische Voreingenommenheit der Richter. Ja, so etwas soll es tatsächlich geben, auch bei deutschen Verfassungsrichtern.

Checks and Balances? Zum Glück ist da ja die EU, die Rechtstaatlichkeit zum Heiligen Prinzip erhoben hat, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der darüber wacht. Dass aber in Rumänien eine bereits erfolgte und validierte Wahl unter Berufung auf eine zwar prinzipiell denkbare, aber durch nichts bewiesene „russische Einflussnahme” storniert wurde, rief in Brüssel keinerlei Reaktion hervor, und auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sah kein Problem.
Allem Anschein nach wurde also die in der Demokratie prinzipiell politisch unabhängige Justiz in diesen Ländern sehr wohl entweder als Instrument der Politik missbraucht, oder aber die Richter selbst machten de facto Politik, statt restriktiv nur Recht zu sprechen.

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Warum? In allen Fällen ging es um viel mehr als nur einen Wechsel an der Spitze austauchbarer Eliten. Da war, in jedem Fall, eine ganze Welt in Gefahr, eine ganze politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Grundstruktur. Ein systemischer Umbruch drohte, und das alles nur wegen den dummen Wählern. Dies abzuwehren, das war den bestehenden Eliten – ob nun Politiker oder Richter – eine kreative Umdeutung demokratischer und rechtsstaatlicher Spielregeln wert.

Nun freuen sich viele, dass Le Pen und Georgescu verhindert wurden. Viele hätten sich gefreut, wenn auch Trump so ausgeschaltet worden wäre (oder gar ermordet).

Demnächst verhindert man so vielleicht Alice Weidel oder Nigel Farage. Aber die Mittel, die da eingesetzt werden, um „unsere Demokratie” zu retten, sind undemokratisch.

Und das bedeutet: Es kann eine Zeit kommen, da ganz andere Kräfte an der Macht sind. Und dieselben Mittel benutzen. Was dann? Die Spielregeln, die einst galten, gelten nicht mehr.

Helfen wird es wahrscheinlich auch nicht. Die von den alten Eliten als Bedrohung wahrgenommene politische Umwälzung – das veränderte Verhalten der Wähler – kann nur als Resultat einer tiefen gesellschaftlichen Transformation verstanden werden, die nicht dadurch rückgängig gemacht werden kann, dass man ihre Galionsfiguren wegsperrt.

Eigentlich ist es eine Funktion der Demokratie, bei gesellschaftlicher Transformation einen friedlichen politischen Machtwechsel zu ermöglichen, ohne Blutvergiessen. Diesen Mechanismus zu behindern oder gar auszuschalten, ist gefährlich.

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Kommentare ( 46 )

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Bernd Gottschalk
26 Tage her

…ein linientreuer, judikativer Aktivist hat mehr Macht als Millionen von Wählern…

Peter Pascht
26 Tage her

Verstehe ich die deutsche Sprache nicht mehr?

StGB § 108a Wählertäuschung

(1) Wer durch Täuschung bewirkt, daß jemand bei der Stimmabgabe über den Inhalt seiner Erklärung irrt …

73% der deutschen Wähler haben in Umfragen (ZDF-Politbaometer, u.a.) erklärt, dass Friedrich Merz sie getäuscht habe, bez. „Schuldenbremse“, u.a.
Wo bleibt die Justiz ?
Oder verstehe ich die deutsche Sprache nicht mehr?

siebenlauter
25 Tage her
Antworten an  Peter Pascht

In der Tat interpretieren Sie den Gesetzestext falsch. Kann man auch wissen.

Peter Pascht
25 Tage her
Antworten an  siebenlauter

Wie interpretiert man den Gesetzestext richtig?

Peter Pascht
26 Tage her

Bei der Zumessung der Strrafe für Le Pen ist alles nach Gesetz gelaufen, gemäß „Code penal Art. 131“- „Entzug bürgerlicher Rechte“. Allerdings, das Problem liegt schon davor, in den intrigant absichtlich falsch konstruierten Beschuldigungen, die so formuliert wurden, mit dem Ziel um „Code penal Art. 131“ anwenden zu können, Was Le Pen getan hat, ist nichts weiters als sich NGOs zu bedienen, deren Abeit sie bezahlt hat aus EU-Geldern, wie dies in der EU und Deutschland Gang und Gebe ist. Wurde allerdings Arbeit geleistet, auch wenn sie unrechtmäßig bezahlt worden sein soll, so ist das nach allem Rechtverständnis keine Korruption.… Mehr

siebenlauter
26 Tage her

Die „Herrschaft des Volkes“, die sogenannte Demokratie ist im Grunde Sozialismus. Konservative sind da gar nicht dagegen, sie hätten es gerne nur nach ihrem Gusto.
Wirklich Liberale hingegen ticken anders. Ihnen ist weder der Demos entscheidende Entität, noch Kratie legitimes Mittel.
Die Demokratie kracht gerade zusammen. International. Sozialismus, auch konservativer, ist nicht die alleinige Alternative. Wir können frei sein — und anständig bleiben. Mit Fug und Recht. Sogesehen, sieht es gut aus.

caesar4441
26 Tage her

Das Urteil gegen LePen ist ein großer Schritt zu UNSERER Demonkratie.Orwell läßt grüßen.Jetzt kommt die AfD dran.

Leroy
26 Tage her

Wie ist denn der Stand der Ermittlungen gegen die sozialdemokratische Vizepräsidentin des Europaparlaments,Eva Kaili. Sie hatte säckeweise Bargeld zu Hause, und was ist seit 2022 passiert?….Nichts

Leroy
26 Tage her

Übrigens Annalena Bärbock,  leitete im Jahr 2007 für mehrere Monate die Büros der  Europaabgeordneten Elisabeth Schroedter in Berlin und Potsdam.
Hier hat sie garantiert ausschließlich nur für die Europaangelegenheiten gearbeitet und auf gaaaaaar keinen Fall für die Grünen in Brandenburg.

Mikmi
27 Tage her

Wie kann es sein, das ein Gericht dieses entscheidet und keine Revision möglich ist? Das sich der Trunkenbold Schulz damit brüstet, ist erbärmlich.

bfwied
27 Tage her

Der Firnis ist dünn, der Freiheit, Zivilisation im positiven Wortsinn, Rechtstaatlichkeit u. Demokratie vorgibt. Es läuft so, wie es seit 5 Mio. Jahren läuft: Der Stärkere hat recht! Der Dreistere, Unverschämtere, Brutalere. Die Menschheit ist nicht geschaffen für die vielen Milliarden, sie ist geschaffen für kleine Gruppen. 1950 war die Weltbev. nur halb so groß wie heute, um 1913 nur 1,7 Mrd. Die Verhaltensweisen haben sich nicht geändert seit der Steinzeit vor 10.000 J., als gerade mal 5 Mio. Menschen die Erde bevölkerten. Heute kämpfen wieder Ideologen und Zu-kurz-Gekommene u. Versager um die Macht, und sie kämpfen brutal und völlig… Mehr

November Man
27 Tage her

Die angeblich unabhängigen Gerichte in den EU-Ländern haben gelernt, dass es für sie besser und vorteilhafter ist mit den jeweiligen Regierungen zu kooperieren und deren Vorstellungen zu folgen. Sonst ist die Karriere und der Job in Gefahr. Das nennen die Linken dann Rechtsstaat und Demokratie.

Hendo Renka
27 Tage her
Antworten an  November Man

Sie werden von Parteien aufgestellt, also alles andere als unabhängig

Evero
26 Tage her
Antworten an  November Man

Demokratieschmutzler. Daten sichern. Es kommt die Zeit, wann diese Antidemokraten sich verantworten müssen.

bfwied
26 Tage her
Antworten an  Evero

Das würde Bürgerkrieg bedeuten, und das wollen die meisten nicht. Lieber leben sie unter der Knute der Antidemokraten in Unfreiheit. Kämpfen, das macht man doch heute nicht mehr, ist doch alles von gestern.

Aegnor
26 Tage her
Antworten an  November Man

Spätestens nachdem was sie mit dem Weimarer Amtsrichter gemacht haben, weiß jeder Richter was von ihm verlangt wird und was passiert, wenn er/sie nicht spurt. Und die Richter der höheren Instanzen werden sowieso nach Parteibuch und Loyalität ausgesucht. Da kann von einer unabhängigen Justiz keine Rede mehr sein. Unabhängig sind Richter nur dann, wenn sie eklatant ihre Befugnisse gemäß dem Willen der Politik überschreiten, z.B. wenn sie Politik machen wie das BVerfG oder wenn ein Amtsrichter gegen jedes Gesetz einem Illegalen ein Aufenthaltsrecht zuschanzt – so dass die Poliik sich dann hinter der „Unabhängigkeit der Justiz“ verstecken.