Wieviel Moral hält ein Mensch aus?

Wie kann ich nur Kakao kaufen und gar genießen, der nicht "fair gehandelt" ist? Ein Erlebnis aus dem deutschen Alltag – mit höchster Moral und verschiedenen Optionen, ihr zu begegnen.

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Gestern beim Discounter. Ich habe meine Waren auf das Kassenband gelegt. Da kommt hinter mir als nächste Kundin die Aktivistin Annalena Grün.

Sie nimmt heldenhaft-aktivistisch meinen Kakao vom Kassenband, hält ihn hoch und spricht laut und energisch durch ihre Maske hindurch: „Kakao gibt es hier bei Aldi auch fair gehandelt. Wie können Sie als Pfarrer nur diesen unfairen Kakao kaufen?“ 

Ich spüre, wie einige Kunden und Mitarbeiter neugierig die Augen zu mir heben. So ein öffentlicher Schauprozess bei Aldi scheint eine magnetische Anziehungskraft zu besitzen. Spannend. Hier am Kakao entscheidet sich Sein oder Nichtsein, hier entscheidet sich Kirche oder Heidentum, hier entscheidet sich Pfarrer oder Ketzer. 

Was soll ich antworten? 

„Ich habe sehr wohl einen achtsamen Lebensstil. Darum lassen Sie bitte Ihre moralinsauren Finger von meinen Einkaufssachen und kümmern Sie sich bitte um ihren eigenen Kram.“ Das wäre eigentlich eine gute, ziemlich passende Antwort, könnte aber vom Sprachduktus her für drei Kirchenaustritte sorgen. Geht also nicht; würde nur zu einer dienstrechtlichen Nachilfestunde bei meinem Vorgesetzten führen. 

Vielleicht sollte ich es etwas witziger und intellektueller machen: „Sorry, ich kaufe keinen fairen Kakao, denn ich bin kein Fairisäer.“ Aber wer würde diesen subtilen Humor verstehen?

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Vielleicht sollte ich sagen: „Ich hätte gerne den fairen Kakao gekauft, aber ich kenne den Auslieferungs-Fahrer dieses Kakaos, und dessen Frau hat bei der letzten Wahl eine im Osten des Landes stärker vertretene Partei gewählt. Und nur deshalb kaufe ich schweren Herzens den unfairen Kakao.“ Das würde bei Frau Grün garantiert Eindruck schinden. Im „Kampf gegen Rechts“ sind für sie alle Mittel heilig, sogar unfairer Kakao. Doch leider wäre die Geschichte mit dem Fahrer erstunken und erlogen; und obendrein ist einer meiner besten Freunde Mitglied der AfD. 

„Also, immer schön ehrlich bleiben, wie du es deinen Kindern beigebracht hast“, denke ich. Und ich antworte wahrheitsgetreu und laut und deutlich durch meine Maske hindurch: „Sorry! Mir schmeckt der unfaire Kakao einfach besser.“ 

Meine Ehrlichkeit ging voll in die Hose. 

Entsetzt starrt mich Annalena Grün an. Und dann legt sie los. 

„Wegen 10 Sekunden Geschmack in ihrem Mund muss das 14-jährige Mädchen aus Ghana 100 kg schwere Säcke tragen, während pausenlos Flugzeuge über dieses Mädchen hochgiftige Pestizide aussprühen…..“ 

Der Beginn einer Gardinenpredigt gefüllt bis an den höchsten Rand mit Weltschmerz, der selbst durch die FFP2-Maske hindurch nichts an Schärfe und Korrektheit verlor. 

Ich bewunderte die Kassiererin. Die bleibt ganz cool und tut so, als würde sie nichts mitbekommen. Ich frage sie: „Wussten Sie eigentlich, dass Sie in Ihrem Betrieb Kinderarbeit auf den Kakao-Plantagen in Ghana unterstützen?“ 

„Damit habe ich nix zu tun. Ich bin nur Kassiererin.“ 

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Das war die glücklichste Fügung an jenem Morgen. Denn jetzt stürzt sich Frau Grün auf die Kassiererin: „Schämen Sie sich für solch eine Einstellung. Genau das haben die Menschen im Dritten Reich auch gesagt; mit genau so einer Haltung ist der Weg allen Übels dieser Welt gepflastert…“ Es begann Gardinenpredigt zweiter Teil gefüllt bis an den höchsten Rand mit tiefster Verachtung über Mitläufer-Mentalitäten.

Ich gebe der Kassiererin großzügig Trinkgeld, oder besser gesagt Schmerzensgeld für den moralischen Overkill. Sie war in diesem Augenblick mein rettender Engel. Und dann machte ich mich ziemlich schnell aus dem Staub. „Führwahr, hier laufe ich, ich kann nicht anders.“ 

Draußen auf dem Parkplatz habe ich tief durchgeatmet. Ich klopfte mir innerlich auf die Schulter: „Gerade noch mal ohne schwere Blessuren rausgekommen aus der Nummer. Halleluja. Jetzt hast du eine Belohnung verdient.“ Und da fiel mir etwas Wohltuendes ein. 

Das Beerdigungsinstitut vor Ort wirbt mit folgender Anzeige: „Unsere Stadt-Gesellschaft scheint politisch gespalten wie nie zuvor. Aber wenn Menschen zu uns kommen, dann spielt es keine Rolle mehr, zu welchem politischen Lager sie gehören. Wenn sie zu uns kommen, dann sind sie einfach nur noch Trauernde, für die wir da sein wollen.“ 

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Sogleich fuhr ich zum Beerdigungsinstitut. Dort schüttete ich all meinen Frust und all meine Trauer über das Erlebte aus. Ich fand beim Chef zwei empathische Ohren. Und er machte mir sogar Mut, dass es noch etwas zu früh sei, unsere Gesellschaft einzusargen. Ich war richtig glücklich. Ja, beinahe schon eine christliche Urerfahrung, in der Sonne der Offenheit und Barmherzigkeit heilsam angesehen zu werden. 

Was im nachhaltigen Aldi, was in den Medien, was bei Feiern mit Verwandten immer seltener wird, ja, was selbst in meiner Kirche oder auf dem Kirchentag kaum noch möglich ist – es gibt tatsächlich noch Orte in Deutschland, wo ich jenseits von politischen Lagerkämpfen einfach nur Mensch sein darf. 

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Kommentare ( 45 )

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Delfina64
3 Jahre her

Einer ihrer besten Artikel Herr Zorn! Ich musste sehr schmunzeln.

Beobachterin
3 Jahre her

Sollen denn die unfair bezahlten Bauern überhaupt kein Geld mehr verdienen? .
Versuchen Sie nicht sachlich zu bleiben, damit haben Sie bei Besserwissern und Moralaposteln keine Chance. Nie auf Argumente eingehen. Schütten Sie ihr den Kakao einfach über den Kopf – bezahlen und gehen – naja, wenigstens in Gedanken 🙂 Zurückbrüllen hilft auch. Fuchteln Sie wild mit den Armen umher – reden Sie wirr und schauen finster. Das hilft! Und zwar Ihnen. Was hat Annalenachen überhaupt in einem Kapitalistenladen zu suchen …

Texel
3 Jahre her
Antworten an  Beobachterin

„Zurückbrüllen hilft auch“! Ich habe dazu vorhin einen Satz mit 4 Worten vorgeschlagen, (Shut the …. up), den ich mir dafür vorgenommen habe, fiel damit aber de TE Zensur zum Opfer.

FionaMUC
3 Jahre her

Sie hätten die freche Person fragen sollen: Wer vertritt hier Gottes Wort? Sie oder ich? …. nächstes Mal.

Last edited 3 Jahre her by FionaMUC
Winnetou
3 Jahre her

Ich hätte geantwortet, dass ich den Kakao jetzt in meinen Diesel-Pkw packen, mit diesem zum Flughafen fahren, von dort nach Miami fliegen und dort auf einem Kreuzfahrtschiff einsteigen werde, wo ich den Kakao dann an Oberdeck nach eine schönen Grill-Steak in der Abendsonne genießen werde.

achijah
3 Jahre her

Mit dem Namen „Annalena Grün“ wollte ich genau das andeuten, dass dieser autoritäre Moralismus bald noch mehr Staatsdoktrin werden könnte.

Machiavelli
3 Jahre her

Das ist wie mit dem E Auto und der Sklaverei/Kinderarbeit. Denn es ist nun einmal so, das sich die Größten Kobalt Vorkommen im Kongo befinden. Und dort wird eben nicht „Fair“ Geberg/tagebaut. Ich habe letztens eine Doku genau darüber auf ZDF Info gesehen und musste ob der versuche alles „Fair“ darzustellen, doch schon mehr als leicht schmunzeln. Dort wird erklärt, das in den Minen in denen VW und Co. ihr Kobalt für Batterien beziehen, nun Arbeitsschutz ganz groß geschrieben wird. Die Arbeiter müssen dort nämlich Sicherheitsschuhe tragen! Ok, die müssen sie selber Kaufen bevor sie einen Job dort bekommen,von ihrem… Mehr

Johann Thiel
3 Jahre her

Eigentlich sollte es heißen: Wieviel Perversion von Moral hält ein Mensch aus? All das was Grüne, Linke und NGO‘s betreiben hat nichts mit Moral zu tun, sondern ist vielmehr das Gegenteil davon. Deswegen sind Begriffe wie „Hypermoral“, „moralisierend“ oder die negative Verwendung des Begriffs „Moral“ falsch und schädlich. Leider ist auch im „liberal-konservativen Umfeld der Begriff „Moral“ negativ belegt, im Sinne von „verlogen/heuchlerisch“. Das ist ein großer Fehler, glaubt man doch auf diese Weise die linksgrüne Gesinnungsweltsicht angreifen zu können. Tatsächlich aber entwertet man nur den wichtigen Moralbegriff, der auf dem Anstand einer Verantwortungsethik beruht. Man glaubt, weil dieser etwas… Mehr

Dado
3 Jahre her

Ich hätte ihr gesagt, dass es für den Kauf just dieses Kakaos statt dem „fair gehandelten“ verschiedene Gründe gibt, jedoch der Hauptgrund, die erhöhte Wahrscheinlichkeit einem Gutmenschen auf den Sack zu gehen, ist.

a.bayer
3 Jahre her

Es gibt im Netz hinreichend viele kritische Beiträge zu diesem Thema. Dieser Art von Moralpredigt kann man getrost entgegen sehen.

Andreas aus E.
3 Jahre her

Humor haben Sie dort wohl noch nicht gekauft.