Mehr Anarchie? Eine Notwendigkeit

In der politischen Philosophie steht Anarchie nicht für chaotische Verhältnisse, sondern für eine Ordnung ohne Herrschaft. Nichts anderes ist eine funktionierende Demokratie.

Kaum führt man den Begriff Anarchie in die politische Debatte ein, schütteln sich die Leser. In welche Untiefen begibt sich da doch der Autor! Hat er den Verstand verloren? Anarchie!!! Die gesitteten Deutschen verstehen darunter offenbar so etwas wie Aufruhr oder gar Zerstörungswut. Besorgte Anfragen beantworte ich hier.

I.

In der politischen Philosophie steht Anarchie nicht für chaotische Verhältnisse, sondern für eine Ordnung ohne Herrschaft. Nichts anderes ist eine funktionierende Demokratie: eben nicht die Herrschaft der Mehrheit oder gar die derzeit rücksichtslose Herrschaft einer lautstarken elitären Minderheit. Mehr Anarchie zu wagen, hieße also vor allem, mehr Demokratie zu wagen. Anarchie ist ein schärferes Wort für Freiheit.

II.

Freiheit ist leider kein Naturzustand. Mit anarchischem Zorn gilt es, die Werte der Freiheit gegen die grün-roten Radikalen in Parlamenten und Regierungen zu verteidigen. Deshalb darf nicht Ruhe die erste Bürgerpflicht sein. Vielmehr bedarf es der anarchischen Gesinnung der Bürger. Ich verwende den Begriff auch, um zu provozieren. Diese Provokation ist kein Selbstzweck, sondern Notwendigkeit im Kampf gegen den übergriffigen Gouvernantenstaat. Deshalb die Forderung: „Mehr Anarchie, die Herrschaften!“ – so der Titel meines neuen Buchs. Seine These: Ohne mehr Anarchie pervertiert die Demokratie zur Demokratur verblendeter Rechthaber, Gutmenschen, Wohlstandszerstörer und Freiheitsverächter.

III.

Ich plädiere weder für Gesetzlosigkeit noch für die Herrschaft selbsternannter „Anarchisten“. Anarchisten, linke wie rechte, haben in der Geschichte immer wieder Anarchismus missverstanden und missbraucht und damit Unheil angerichtet. Kant aber zum Beispiel definierte Anarchie als „Gesetz und Freiheit ohne Gewalt“. Den Mangel an freiheitlicher, also anarchischer Gesinnung im Untertanen-Deutschland ist zu beklagen. Anarchischer gesonnene Bürger würden sich gegen die Anmaßungen der gewählten Obrigkeit zu Wehr setzen. Mehr Anarchie würde bedeuten: weniger Bürokratie, weniger Zentralismus, weniger Gesetze, weniger staatliche Willkür, weniger Enteignung, weniger politische Korrektheit, weniger Sprachverbote, weniger „Maßnahmen“, weniger Staatsmacht. Lassen wir uns nicht zu „rechten“ Verfassungsfeinden stempeln! Treten wir den wahren Verfassungsfeinden in ihren Ämtern mit anarchischer Lust entgegen!

IV.

Der bürgerliche Anarchist ist alles andere als zügellos. Er will nur nicht sich selbst, sondern die Anmaßungen der Regierenden zügeln. Er hasst es, sich als Untertan behandeln zu lassen, der zu dumm ist, selbst zu erkennen, was für ihn gut und was für ihn schlecht ist. Der mündige Bürger lässt sich nicht entmündigen. Andersherum: Nur, wenn er sich zur Wehr setzt, ist er mündig. Nur mündige Bürger verstehen es, mit ihrer Freiheit etwas anzufangen. Sie leiden unter der Einschränkung von Freiheit. Das macht sie anarchisch.

V.

Anarchische Gesinnung kennt keine Ideologie. Sie folgt keinem Kollektiv. Ihr Leitbild ist das Individuum. Sich im Verborgenen seines Kämmerleins oder in der Blase seiner sozialen Netzwerke anarchisch zu fühlen, ist billig und sinnlos. Anarchischer Zorn schluckt nicht, er spuckt. Das macht ihn in den Augen seiner Feinde gefährlich. Der bürgerliche Anarchist lässt sich nicht gängeln, schon gar nicht von einer Staatsmacht, der die Fratze des Moralismus aufsetzt. Wer auch nur ein wenig anarchisch fühlt, pocht auf ein Maximum von Eigenverantwortung freier Bürger. Er delegiert die Kontrolle über sein Leben nicht an andere, schon gar nicht an Leute, die nicht mehr leisten, als sich mit Hilfe einer Partei Macht anzueignen. Bürger und Anarchist: Das ist kein Widerspruch. Es bedeutet, schädlichen Autoritäten zu widersprechen und Demokratie beim Wort zu nehmen. Nicht mehr und nicht weniger.

VI.

So herrscht also neben all den anderen Mängeln vor allem ein eklatanter Mangel an anarchischer Gesinnung in diesem Land, das drauf und dran ist, heruntergewirtschaftet und in Grund und Boden regiert zu werden. Damit bröseln die Fundamente der offenen Gesellschaft. Bedroht vom versagenden, zunehmend dysfunktionalen Staat in einer erodierenden Demokratie, bleibt dem freien Bürger nichts anderes übrig, als die Fesseln fadenscheiniger Gesittung abzustreifen. Er muss streiten, anecken, unbequem und ungehorsam werden. Wählen ist nicht genug. Die Fäuste zu ballen, reicht nicht.


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Kommentare ( 34 )

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Monostatos
7 Monate her

JAAAA – dieser Artikel spricht mir aus dem Herzen.

Retlapsneklow
7 Monate her

Ich sehe es so, dass unser jetziger Staat Anarchie betreibt.

Noch so schöne philosophische Absichten und Verzierungen können darüber hinwegtäuschen, dass hinten nicht rauskommt, was man sich erhoffte. Dem Sozialismus ist es auch nicht anderes gegangen. Es war noch nie der richtige, heißt es dann. Das Problem wäre also nicht der Sozialismus gewesen sondern die Sozialisten. Dasselbe darf man auch für Anarchisten annehmen.

docroesner
7 Monate her

Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass der wahrscheinlich kommende Präsident von Argentinien, Milei, bereits jetzt, also schon im Vorfeld, als Anarchist abqualifiziert wird. Allerdings meine ich, er hat sich selbst als Anarchisten bezeichnet und diesen Ansatz durch eine sehr unterhaltsame Präsentation vor der Presse demonstriert. Er ließ alle aktuellen Ministeriennamen auf Schildchen geschrieben auf eine Tafel kleben und ging dann daran, alle die Schildchen abzureißen und auf den Boden zu werfen, deren Ministerien er abschaffen will. Kurz also, deutlich weniger Staat und wer weiß, wieviele Hauptstädler von der Bürokratie leben, ist nicht überrascht über den Entrüstungssturm der sich erhob. Die… Mehr

Teiresias
7 Monate her

Das Problem des Einzelnen ist, daß sein Widerstand komplett ignoriert werden kann. Man braucht Öffentlichkeit, Multiplikatoren. Dem stehen Medien entgegen, die Abweichler canceln und Accounts abschalten oder in der Reichweite einschränken, sowie eine Regierung aus Parteien, die von Antifa-Terror bis zur Kontokündigung ein breites Spektrum von ausserlegalen Sanktionsmöglichkeiten geschaffen haben. Wer einer Arbeit nachgeht, ein Familien/Privatleben hat, der wird gegen diese Widerstände schon aus zeitlichen Gründen kaum ankommen. Wer nicht arbeitet, ist überwiegend auf der Antifa-Seite zu finden. Es scheint mir einfach unfair, dem Bürger unter diesen Umständen Trägheit oder Untertanengeist vorzuwerfen. Die „lautstarken Minderheiten“ sind nicht per se lautstark,… Mehr

Michael Palusch
7 Monate her

„Freiheit ist leider kein Naturzustand.“
Und ob sie das ist!
Eingeschränkt wird die Freiheit einzig durch gesellschaftliche Verabredungen (Gesetze) oder im Extremfall durch das Faustrecht.
Ein einzelner Mensch, auf einer sonst menschenleeren Insel, ist völlig frei in seinen Handlungen, niemand schränkt ihn ein, keinem außer sich selbst ist er rechenschaftspflichtig.
Wenn man „Freiheit ist leider kein Naturzustand“ konsequent anwendet, bedeutet das, das alles verboten ist was nicht kodifiziert zugestanden wird.
Das allerdings wäre dann das Rechtsverständnis totalitärer Diktaturen.

Last edited 7 Monate her by Michael Palusch
Reinhard Peda
7 Monate her

Direkte Demokratie kann auch in einem Bundesland eingeführt werden. Und dann sehen wie ja wie es sich dort entwickelt. Siehe mein Kommentar:

Die Koalition radikalisiert sich – aber „Wir sind das Volk“ (tichyseinblick.de)

Fulbert
7 Monate her

Interessant, zu welchen Missverständnissen das Reizwort ‚Anarchie‘ einlädt. Aus dem Beitrag geht doch eindeutig hervor, dass Wolfgang Herles nicht einer herrschaftsfreien Gesellschaft das Wort redet, sondern Anarchismus als skeptische Haltung des Bürgers gegenüber jeglichen Autoritäten versteht, verbunden mit dem Bewusstsein, der eigentliche Souverän zu sein, und dem Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Kurzum: Der mündige Staatsbürger, der dem Grundgesetz als Ideal vorschwebt.

Fieselsteinchen
7 Monate her

Den Begriff „Anarchie“ sollte man ausgehend von Kant in seinem Bedeutungswandel genauer betrachten. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts vereinnahmten linke Kräfte diesen Begriff und begannen mittels selbstgebauten Bomben uä. zur Revolution und Systemchange aufzurufen, damit wären wir heute bei RAF, Antifa und Co. Den Begriff von der linken Übertünchung zu befreien, betrachte ich als durchaus interessanten Versuch, die Kantsche Bürgerlichkeit hervorzuheben. Allerdings wird es sich in Gesellschaften „ohne Ordnung“ früher oder später irgendjemand finden, der sich an die Spitze stellen wird, ob aber zum Wohl der Gesellschaft? Quod erat demonstrandum! Die staatlichen Zwänge, die seit einigen Jahren ausschließlich an persönlichen… Mehr

Babylon
7 Monate her

Wenn Herles Anarchie, Anarchismus und Anarchisten begrifflich positiv einzuführen gedenkt und zwar in bürgerlichem freiheitlichen Sinn, meint er damit libertär zu sein, was noch einmal eine Steigerung von liberal ist. Der klassische Anarchismus mit seinen Großvätern und Urgroßvätern Proudhon, Bakunin, Kropotkin wozu auch Tolstoj gehört, haben neben ihrem unbändigen Sinn für Freiheit auch immer eine soziale Komponente gehabt, waren also politisch links verortet. Rechten Anarchismus gibt es nur in seiner extrem individualistischen Variante, Max Stirner (Der Einzige und sein Eigentum) und dessen Bewunderer. Bürgerlicher Anarchismus wäre neu, Vielleicht hat ja Herr Herles den Ehrgeiz dessen Begründer zu sein, wenn sein… Mehr

Last edited 7 Monate her by Babylon
rainer erich
7 Monate her

Aber auch Kant wusste, dass der Mensch aus krummen Holz geschnitzt ist….Ich hege den Verdacht, dass bei diesen theoretischen Erwaegungen die Realitaet deutlich zu kurz kommt. Vor allem die „menschliche“ Realitaet, sowohl als Individuum, wie auch als Massenwesen. Ohne Kollektivist zu sein scheint mir der vom Autor immer wieder vertretene Pseudoindividualimus mit der conditio humana nicht in Einklang zu bringen sein. Auf den nietzeanischen Uebermenschen warten wir noch, die letzten Menschen sehen wir taeglich. Da hat sich gestern ein Fachmann durchaus zutreffend mit der psychischen Verfassung nicht weniger Menschen in diesem Land befasst, wobei man auch Maaz u. a. dazunehmen… Mehr