Polen: Kundgebung am 4. Juni – Manipulation oder berechtigte Sorge?

Am 4. Juni folgten viele dem Aufruf Donald Tusks zum Protest gegen die PiS-Regierung. Tusk glaubt, eine von Andrzej Duda betriebene Untersuchungskommission zur Einflussnahme Russlands hätte „verheerende Folgen für die Demokratie“. Doch das ist falsch, so Wojciech Osiński, Berlin-Korrespondent des Polnischen Rundfunks.

IMAGO / ZUMA Wire
Donald Tusk (L) und der ehemalige Präsident und Friedensnobelpreisträger Lech Walesa (R) während des Großen Marsches der Bürgerplattform in Warschau am 04.06.23

Die westliche Welt ist in Aufruhr: Polen, das jahrzehntelang russischen Einflüssen unterworfen war, hat sich endlich dazu durchgerungen, eine parlamentarische Untersuchungskommission einzusetzen, die sich um Aufklärung und Entflechtung bemüht. Wie kann man nur? Noch wurde deren Besetzung nicht auserkoren und es fand keine einzige Sitzung statt, doch allein die Idee sei bereits „undemokratisch“, so der PO-Vorsitzende Donald Tusk. Wenn der Oppositionsführer dann auch noch gemeinsam mit Lech Wałęsa auf einer Bühne auftritt, dann fügen sich alle Puzzleteile nahtlos zusammen.

In der Hauptausgabe der Tagesschau wird berichtet, die von der Bürgerplattform organisierte Demo am 4. Juni wäre die „größte Protestkundgebung seit dem Sturz des Kommunismus“ gewesen. Diese Darstellung kann nur das Ergebnis eines Irrtums oder einer bestürzenden Kurzsichtigkeit sein. Womöglich aber auch einer Mischung aus beidem. Klar ist: Sie steht in einem kontrafaktischen Verhältnis zur historischen Wirklichkeit. Augenscheinlich soll sie einer Vereinfachung dienen, ja die Konservativen in Warschau mit Kommunisten oder gar Putins Schergen gleichsetzen. Dabei bemüht sich das Kabinett Morawiecki (wie keine andere Vorgängerregierung), ungesühnte kommunistische Verbrechen aufzuklären und gefährliche Seilschaften mit Russland zu zerreißen. Was die polnische Opposition hier betreibt, ist demnach nichts Geringeres als semantische Tyrannei.

Nun gehören ähnliche „Besessenheitszustände“ zum derweil traditionellen Bestand einer PO-Lokalkultur, an die sich viele von uns gewöhnt haben. Und trotzdem, wo wir schon dabei sind: Weshalb glaubt Donald Tusk eigentlich, dass das neue Gesetz, welches die russischen Einflüsse auf die polnische Politik unter die Lupe nehmen wird, gegen ihn selbst gerichtet sei? Und wieso behaupten dies dann gleichfalls nahezu alle deutschsprachigen Medien? Sehen sie nicht, dass der PO-Chef, der ausgerechnet den 4. Juni für seine Kundgebung auswählt und obendrein Lech Wałęsa auf die Bühne holt, sich ins eigene Knie schießt?

Wo er recht, hat er recht: Der 4. Juni bleibt ein historisch sensibles Datum. Allerdings anders als er selbst annimmt. Nach Tusk und Wałęsa hätten an jenem Tag im Jahr 1989 die ersten vermeintlich freien Parlamentswahlen stattgefunden. Die Konservativen sehen dies etwas anders. Sie weisen zurecht darauf hin, dass der linke Flügel der Solidarność-Bewegung Anfang der 1990er Jahre den Untergang des Kommunismus ausgebremst hatte. Dies ermöglichte den Vertretern des alten Systems unzählige Privilegien, wobei sowjetische Handlanger (wie Czesław Kiszczak) sogar wichtige Ministerposten in der Regierung von Tadeusz Mazowiecki bekleideten. Der einstige Kriegsrecht-General Wojciech Jaruzelski wurde im Juli 1989 obendrein zum ersten Präsidenten der „freien“ Dritten Republik ernannt. Gegen eine lückenlose Aufklärung solcher Situationen hatte sich übrigens damals auch der 34-jährige KLD-Politiker Donald Tusk gestemmt.

Dies ist keine „PiS-Propaganda“. Wir haben es hier mit elementaren Problemen der jüngsten Geschichte Polens zu tun, über die in den deutschen Medien überhaupt nicht oder nur selten geschrieben wird. Und wir werden hierzulande weiterhin nichts darüber erfahren, solange sich ausländische Korrespondenten lediglich an der medialen Oberfläche bewegen und kein Archivgut auswerten.

War der 4. Juni 1989 für den früheren Premier und EU-Ratsvorsitzenden Donald Tusk also der Höhepunkt der „Demokratisierung“ Polens, besiegelte er für andere den Ausverkauf der verstaatlichten Wirtschaft. Ebenso andere Bereiche des öffentlichen Lebens blieben unter dem Einfluss älterer PZPR-Lenker. Die Christdemokraten erinnern heute stattdessen an den 4. Juni 1992, an dem die von Jan Olszewski angeführte Minderheitsregierung im Rahmen einer ominösen Nachtsitzung im Sejm per Misstrauensvotum gestürzt wurde. Zuvor hatte sie den Versuch unternommen, die antikommunistische Revolution in Polen abzuschließen und dabei wirkungsvolle Ansätze zur Dekommunisierung des Militärischen Informationsdienstes (WSI) entwickelt. Sie ebnete ebenfalls den Weg für einen zügigen NATO-Beitritt Polens, dem Lech Wałęsa im Übrigen nach einem seltsam verlaufenden Moskau-Besuch entgegenzuwirken suchte. Diese Ereignisse zeigen, welche Mechanismen in Gang gesetzt wurden, wenn Olszewski oder die Kaczyński-Brüder sich daran machten, Verflechtungen mit Russland endgültig zu durchbrechen.

Wenn folglich Donald Tusk, der vorzugsweise im Schulterschluss mit den Postkommunisten in die anstehende Parlamentswahl gehen möchte, während eines filmreifen Auftritts die Regierung von Mateusz Morawiecki indirekt mit den damaligen Machthabern vergleicht, dann wirkt es wie die historische Farce in Arthur Schnitzlers „Der Grüne Kakadu“. Im Fokus einer eventuellen Untersuchungskommission stünden zugegebenermaßen diverse Ereignisse, die in die Regierungszeit Tusks fallen. Dazu gehören ungünstige Gasgeschäfte mit Russland, Absagen an eine verstärkte Militärpräsenz der USA sowie Schlampereien nach dem Absturz der Präsidentenmaschine im Jahr 2010. Wir sollten dies alles nicht außer Acht lassen, nur weil ein solches Verhalten gegenwärtig zum „guten Ton“ gehört. Kurzum: Braucht Polen eine parlamentarische Untersuchungskommission zur Einflussnahme Russlands? Ja, durchaus. Wo wir jedoch schon das Thema „Verquickung von Interessen und Politik“ im Zusammenhang mit Moskau streifen – braucht Deutschland nicht auch eine?


Wojciech Osiński ist Berlin-Korrespondent des Polnischen Rundfunks

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Kommentare ( 15 )

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Waldorf
1 Jahr her

Die sog „Ostpolitik“ war viele Jahre der ganze Stolz der westdeutschen SPD. Der gute Draht in die damals noch bestehende, kommunistische Sowjetunion war für alle Genossen wichtig, latenter Antiamerikanismus der westdeutschen Linken ließ sich über Ostpolitik gut kanalisieren. Der Zerfall der real existierenden roten Heimat war insbesondere für die westdeutschen Linken ein riesiges Problem, nicht nur wegen wegfallender Stasigelder für westdeutsche Jungsozialisten/Kommunisten. Die Abwicklung der kommunistischen Staatswirtschaft nebst folgenden blühende Landschaften verursachte die vermutlich größte historische Sinnkrise für alle westdeutschen Linken bis weit in SPD und Grüne hinein. Erst die sog „Klimapolitik“ nebst „globaler“ Klimarettung öffnete erneut die Tür für… Mehr

hoho
1 Jahr her

Was ich aus Polen hören ist, dass mindestens die politische Eliten wahnsinnig geworden sind. Sie haben komplett vergessen, über die Art und Weise Ukrainer (ich meine dabei die echten Ultra-Nationalisten) schon vor dem Krieg gekämpft haben – ohne Rücksicht wer zu sterben hat. Das haben auch Deutschen gespürt als sie die ukrainischen Einheiten gebildet haben. Das ganze Verbrechen nach dem Ende von 2. Weltkrieg (also als man nicht mehr über Zwang und Notlösungen usw sprechen konnte) ist komplett vergessen. Russland ist gleichzeitig gehasst und verachtet und als ein großer Feind dargestellt. Wie es scheint fast alle Seiten der politischen Diskurs… Mehr

GeWe
1 Jahr her

Herr Osinski hat in seiner Kritik an der einseitigen publizistischen
Behandlung der polnischen Politk in Deutschland ganz außer Acht gelassen, dass das hier gültige Narrativ die Zeitenwende hin zu einer Neuauflage der DDR ist. Daher ist es nur verständlich, dass deren hiesige Protagonisten in Politik und Medien mehr Berührungspunkte mit den alten kommunistischen Kadern in Polen haben als mit den Konservativen.
Und was die EU angeht: Es hat noch niemand behauptet, dass
diese eine demokratische rechtsstaatliche Institution sei.

hoho
1 Jahr her
Antworten an  GeWe

In Polen hat man entkommunisiert – das hieß damals Lustracja und hat sogar Polizisten der Kriminalpolizei getroffen. Das war auch der Grund warum die ehemaliger Staatsdiener aus den Bereichen Polizei und Sicherheitsdienste in die organisierte Kriminalität einstiegen sind und warum polnische Drogen- und Automafia so effizient war. Das war nicht wie in D. wo man alles einfach übernommen und mit dem Geld überschüttet hat.
Die polnische politische Szene ist außerdem genauso korrupt wie die Deutsche. Das war schon bei PO Regierungen so, wollte man aber in EU nicht glauben, weil sie die Alphabetsuppe/Regenbogenfahne so liebten.

Roland Mueller
1 Jahr her

Den Wertewestlern fliegt ihre eigene unsinnige Politik um die Ohren. Dafür die Russen verantwortlich zu machen, erscheint mir reichlich infam.

alter weisser Mann
1 Jahr her

Gerade in der Politik (und besonders in der aktuell gängigen „Werte“politik) wissen manche Leut immer schon Bescheid, wenn sie nur den Absender eines Vorschlags sehen. Da erübrigt sich praktischerweise jede Sachdiskussion, jede Inhaltsfrage.
Die Polen haben gerade das Glück, vom Westen wegen des Krieges in der Ukraine gebraucht zu werden. Sonst stünden sie wie zuvor neben Orbans Ungarn, quasi als Schurkenstaat light, unter vollem EU-Beschuss.

Wiener
1 Jahr her

Wie wäre es mit einer Untersuchungskommission zum Einfluss der USA? Wie wäre es mit einer Aufarbeitung der unzähligen US Kriegsverbrechen?
Wie wäre es damit, die CIA endlich als Terrororganisationen einzustufen und aus Europa rauszuwerfen?
Ich bin für europäische Souveränität. Wer gegen russische Einflussnahme ist, sollte konsequenterweise auch gegen US Einflussnahme sein. Alles andere ist pure Heuchelei

KorneliaJuliaKoehler
1 Jahr her

Hatte die umstrittene UvL nicht schon vor Monaten der derzeitigen Regierung Polens angedroht, dass sie mit reichlich EU-Geldern die linke Opposition unterstützen würde? Schließlich sollen die Polen diesmal
„richtig“ wählen, damit sich auch dieses Land endgültig dem Diktat aus Brüssel unterwirft. Die Kommunisten wittern, angesichts dieser massiven Unterstützung, wieder Morgenluft. Die Souveränität hat sich Polen, mittels EU-Geldern, mE, größtenteils schon abkaufen lassen. Wer wirklich unabhängig und frei sein will, darf sich niemals in finanzielle Abhängigkeiten begeben.

KlimaKrise
1 Jahr her

Ich kenne mich naturgemäß in der polischen Geschichte nicht gut aus, man sollte allerdings erstmal die letzten zehn Jahre Polens aufklären. Wie Recht und Gesetz ausghölt wurde und wird, um eine autokratische Regierung an der Macht zu halten. Paralellen zur Türkei und Ungarn sind ja nicht von der Hand zu weisen. Über den Flugzeugabsturz habe ich allerdings sehr viel gelesen und gesehen. Wenn man seinem eigenen Piloten die Anweisung zur Landung gibt, obwohl dieser mehrfach davon abriet und der Absturz wetterbedingt zuvor mehrfach durch erneutes Durchstarten gerade abgewendet werden konnte, ist dazu nicht mehr viel zu sagen. Ein waren die… Mehr

Memphrite
1 Jahr her
Antworten an  KlimaKrise

Können Sie bitte anhand handfester Fakten belegen was an der Regierung in Ungarn „autoritär“ ist.
Ist ihrer Meinung nach die deutsche Regierung weniger autorirär oder die EU?

Michael M.
1 Jahr her
Antworten an  KlimaKrise

Typische Aussagen von ARD und ZDF Konsumenten, dabei war es niemals leichter sich auch anderweitig, bzw. breiter, zu informieren.

Ach ja und noch etwas, wir haben derzeit sicherlich viele Krisen, aber ganz bestimmt keine Klimakrise. Das Klima wandelt sich und zwar genauso wie es das schon über Jahrmillionen getan hat. Alleine schon die Hybris der Mensch könne das Klima entscheidend beeinflussen, zeugt doch schon von bescheidenen naturwissenschaftlichem Basiswissen.

Last edited 1 Jahr her by Michael M.
imapact
1 Jahr her

Merkwürdig, ist Tusk nicht DER EU-Vasall in Polen (man sieht ja auch die Fahne im Hintergrund)? Der müsste doch geradezu begeistert sein über eine solche Kommission. Ich dachte immer, eine „antirussische“ Haltung sei unabdingbar, wenn man es in Polen politisch zu etwas bringen will (egal, wo man sonst so steht, mit Ausnahme derer, die den kommunistischen Zeiten nachtrauern). Besonders auffällig: Walesa trägt einen Sticker mit der Ukroflagge, protetiert aber gegen eine Kommission, welche die Einflußnahme Rußlands untersucht. Scheint für den mit den örtlichen Gegebenheiten nicht vertrauten Leser alles etwas verwirrend zu sein.

Wilhelm Roepke
1 Jahr her

Herr Osinski denkt für den Berliner politmedialen Zirkus viel zu kompliziert. Aus deren Sicht haben die Polen sich gefälligst dem woken Brüssel unterzuordnen und auf ihren Nationalstaat zu verzichten sowie Migranten aus aller Welt begeistert aufzunehmen. Das tun sie nicht und daher ist die polnische Regierung für Berlin pfui. Geschichtskenntnisse zu Polen liegen in Berlin schlicht nicht vor. Und man will sie auch nicht erwerben. Leider.