Großbritannien: Geheime Dossiers zu Corona-Kritikern aufgetaucht

In Großbritannien gerieten Kritiker der Corona-Beschränkungen ins Fadenkreuz einer staatlichen Anti-Desinformationseinheit. Offenbar gibt es moderne Äquivalente zur Stasi. Die britische Regierung bestreitet, dass sie Einfluss auf soziale Medien nehmen wollte. Doch bei Twitter hat sie den Status des „vertrauenswürdigen Markierers“.

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Twitter-Eigentümer Elon Musk fand die Enthüllung mit einem einzigen Wort „grauenhaft“. Man darf gespannt sein, wie er letztlich auf sie reagieren wird. Grauenhaft ist nach Musk eine geheime Truppe der britischen Regierung, die laut Recherchen des Telegraph dazu dient, abweichende Meinungen zum Coronavirus auf öffentlichen Plattformen und sozialen Medien zu markieren, ihnen die Sichtbarkeit zu nehmen, sie am Ende wohl auch zu entfernen, und sei es durch eine indirekt bewirkte Twitter- oder Facebook-Sperre. Die Anti-Desinformationseinheit (Counter-Disinformation Unit, CDU), deren Wirken nun öffentlich wurde, hat nicht nur Akten zu einzelnen Personen angelegt, sondern arbeitet wohl nach wie vor direkt mit den Online-Anbietern zusammen. Unklar bleibt, was die Regierungsbeamten genau mit Twitter, Facebook oder Google besprechen könnten.

— Michael Shellenberger (@shellenberger) June 3, 2023

Sicher ist, dass Dossiers angelegt worden sind. Etwa zu der Journalistin und Mitgründerin einer Bürgerinitiative Molly Kingsley, oder zu dem Professor für evidenzbasierte Medizin in Oxford, Carl Heneghan. Heneghan wurde teils offen zensiert, als er sich kritische Gedanken zur Regierungspolitik machte. Im März 2022 wurde sein Twitter-Profil gesperrt, nachdem er die Zahl der Corona-Toten bezweifelt hatte. Damit hatte er angeblich die Twitter-Regeln zu „irreleitenden und möglicherweise schädlichen Informationen“ verletzt. Wann war es zuletzt, dass Zweifel, geäußert von einem Fachmann und Wissenschaftler, solche Reaktionen auslösten?

Der dritte Observierte im Bunde ist der Impfexperte Dr. Alexandre de Figueiredo, der als Statistiker am Londoner Institut für Tropenmedizin das Vertrauen der Menschen in Impfprogramme erforscht. Im Februar 2022 schrieb er auf Twitter, dass es einige Gründe gegen eine massenhafte Corona-Impfung von Kindern gibt. Der Tweet wurde als Desinformation eingestuft und von Twitter entsprechend markiert.

Staatliche Verschwörung oder Pfusch?

Dass Tweets wie der von Alexandre de Figueiredo von der Regierung in dieser Weise markiert wurden, sei auf einen Irrtum zurückzuführen, sagte der ehemalige Impfbeauftragte Nadhim Zahawi dem Telegraph. Keine Verschwörung der Regierenden gegen die freie Meinungsäußerung des Volkes also, sondern Pfusch am Bau („cock up“) bei der Konstruktion eines sicheren Twitter.

Wie immer wird behauptet, die staatliche Anti-Desinformationseinheit habe lediglich den Zweck gehabt, der Regierung „ein Verständnis von Online-Desinformations-Narrativen“ zu geben. Merkwürdigerweise hatte man die Truppe schon im Jahr 2019 gegründet. Sie sollte sich ursprünglich mit den Europa-Wahlen beschäftigen. Doch der Verdacht steht im Raum, dass die Regierungseinheit gegen Desinformation (CDU) die Inhalte gegenüber den Plattformbetreibern angezeigt und so praktisch zur Löschung freigegeben hat – wenn sie nicht sogar direkte Anweisung dazu erteilt hat. Und das empfinden Menschen, die die Meinungs- und Redefreiheit hochhalten, als „schockierenden Machtmissbrauch“, der vollständig aufgeklärt werden müsse.

Daneben gab es auch noch ein Strategieforum zum Thema, in dem Regierungsbeamte mit Technologie-Riesen wie Facebook und Google oder auch BBC-Vertretern zusammenkamen, um wiederum die Verbreitung von ‚Desinformation‘ zum Corona-Thema zu verhindern. Die BBC will nur als Beobachter anwesend gewesen sein. Und doch besteht kein Zweifel, dass auch der öffentliche Sender dem vorgegebenen Narrativ bereitwillig bis überengagiert folgte.

Die moderne Stasi-Akte

Angeblich haben Regierungsmitglieder nie direkt die Löschung von Social-Media-Posts von Heneghan, Kingsley oder de Figueiredo verlangt. Sie wollten aber offenbar, dass dieselben markiert und damit in ihrer Sichtbarkeit herabgesetzt werden. Die britische Regierung hat jedenfalls, so liest man, den Status eines „Trusted Flagger“ für Twitter – auf Deutsch wäre das ein „vertrauenswürdiger Markierer“. Sie kann dem Unternehmen mitteilen, was sie als Verstoß gegen die Plattformregeln ansieht. Sicher wird man dem Regierungswunsch einer Kennzeichnung in den allermeisten Fällen entsprechen. Molly Kingsley hatte immer wieder den Eindruck, dass ihr Twitter-Profil „behindert oder unterdrückt“ wurde. Ähnliches ist dank den Twitter-Files nur allzu bekannt.

Kingsley erbat nun Einsicht in ihre Akte und erhielt eine Tweet-Sammlung, die angeblich mit der Unterstützung Künstlicher Intelligenz (KI) erstellt worden war. Oder ist das eine Schutzbehauptung der Regierung? Es geht um Tweets wie diesen aus dem Sommer 2020: „Schulen zeigen Überreaktion auf das Corona-Risiko – Social Distancing und Masken bereiten unseren Kinder ein elendes Leben.“ Oder kurz vor Weihnachten 2020: „Die Eltern werden dem Premierminister keine erneute Schulschließung verzeihen.“ Im Januar 2021 schrieb sie: „Die Kluft zwischen Reichen und Armen vergrößert sich“ – und auch dieser Tweet zu einem „zweiten nationalen Notstand“ wurde von der Anti-Desinformationseinheit archiviert und könnte zu zensur-ähnlichen Maßnahmen geführt haben.

Im Mai 2020 hatte Kingsley – zuvor Firmenanwältin und Unternehmerin – zusammen mit anderen Engagierten die Gruppe UsForThem gegründet, die sich für die Interessen von Kindern unter der Pandemie einsetzte. Seit Juni 2020 organisierte die Gruppe Kampagnen gegen Schulschließungen, Maskenpflicht in Schulen, schließlich gegen die „Impfung“ von Kindern. Zuletzt ging es im September 2022 auch gegen die Verweigerung von Dienstleistungen durch die Bezahl-Plattform PayPal, die unter anderem die britische Free Speech Union durch Ausschluss aus dem Kundenkreis bedrohte und praktisch cancelte.

Die Tweet-Sammlung zu Molly Kingsley, zu der auch einige Erwähnungen in Presseberichten gehören, könnte man durchaus mit einer Geheimdienst- oder Stasi-Akte vergleichen, aus der in einem zweiten Schritt alle möglichen Handlungsanweisungen erwachsen. Zur gleichen Zeit wurden in der Tat zahlreiche veröffentlichte Inhalte (Tweets und Posts) auf Twitter und Facebook gelöscht, wurden Nutzer zeitweilig oder dauerhaft gesperrt, wenn sie kritisches Material veröffentlichten oder abweichende Meinungen äußerten. Bis heute ist das in vielen Fällen nicht anders.

Vor 2020 wäre alles andere als extrem angesehen worden

Silkie Brown, die Leiterin der Bürgerrechtsgruppe Big Brother Watch, die sich gegen Überwachungstendenzen des britischen Staates wendet, forderte im Telegraph: „Die Anti-Desinformationseinheit sollte umgehend suspendiert und umfassend untersucht werden.“ Der angebliche „Kampf gegen Falschinformation“ sei in den letzten Jahren schleichend und übermäßig ausgeweitet worden und so zum Freifahrtschein für die Regierung geworden, um die Online-Aktivitäten der Bürger heimlich zu überwachen und zu kontrollieren. Steuergelder in Millionenhöhe seien ausgegeben worden, um KI-Firmen oder sogar das Militär damit zu beauftragen, Akademiker, Journalisten, Engagierte aller Arten und Parlamentarier zu überwachen. Die Einbindung von KI und Militär, wenn es sie gab, spricht eine eigene Sprache: Es wird offenbar automatisiertes und durchaus schweres Geschütz aufgefahren gegen die Kritiker in den eigenen Reihen.

Ins Fadenkreuz der Regierungsbeamten waren diese Bürger nur dadurch gekommen, dass sie die Regierungsmaßnahmen kritisiert hatten. Dass sich viele ihrer Argumente im Nachhinein als berechtigt erwiesen haben, ist nicht die einzige Kritik an diesem Überwachungswesen. Es geht vielmehr ums Prinzip: Verdient Kritik an staatlicher Politik wirklich das Anlagen von Dossiers, Personalakten und die intensive Kommunikation mit Online-Anbietern über das zulässige Maß an öffentlichem Dialog?

Molly Kingsley fügte hinzu, dass die Kritiker bis zum Jahr 2020 wohl schlicht als Stimmen der Vernunft angesehen worden wären – etwa, wenn sie daran erinnerten, dass man nur evidenzbasierte Maßnahmen ergreifen und gesunde Kinder nicht experimentellen Medikamententests unterziehen sollte: „Viele der Positionen, die ich und andere, die von der Anti-Desinformationseinheit ins Visier genommen wurden, vertreten haben, wären vor dem Jahr 2020 nicht nur als vernünftig angesehen worden, sondern es wäre als extrem angesehen worden, gegen sie zu argumentieren.“

Sogar milde Kritiker der Regierungstruppe wie die Faktenchecker von Full Fact glauben, dass eine solche Einheit, um Informationssicherheit herzustellen, erst einmal selbst „offen und transparent“ sein müsse. Ein wichtiges Argument, das meist zu kurz kommt: Die Kontrolle von Informationen spielt sich zu oft in undurchsichtigen Bereichen ab, zu denen auch die verschiedenen Faktenchecker-Filialen gehören, die teils von den öffentlich-rechtlichen Kanälen betrieben werden, teils von Agenturen oder anderen Unternehmen, finanziert teils von großen Stiftungen wie dem Omidyar-Netz.

Auch die Teilnehmer an Online-Gesellschaften haben Rechte

Das Urteil dieser Faktenchecker wird dann von ihnen selbst als letztes Wort in einer bestimmten Sache präsentiert, was an sich schon dem freien Diskurs der Meinungen und Auffassungen widerspricht. Es wird zudem von kommerziellen Unternehmen (wie Facebook oder Twitter) „plakatiert“ und als verbindliche Richtschnur für einschneidendes Handeln auf den firmeneigenen Plattformen vorgezeigt, die letztlich den Charakter von öffentlichen Marktplätzen oder Online-Gemeinschaften tragen. Auch die Teilnehmer an diesen Online-Gesellschaften haben Rechte.

Das mindeste Recht wird es sein, dass ein Nutzer genau erfährt, warum ihm etwas passiert, und ihm transparente Einspruchsmöglichkeiten gewährt werden. An dieser Stelle wäre zudem eine unabhängige Urteilsinstanz wünschenswert, die jederzeit in der Justiz anrufbar ist. Das könnte aber vielleicht auch niedrigschwelliger geregelt sein.

Der frühere Minister, konservative Abgeordnete und Medienschaffende (GB News) Jacob Rees-Mogg forderte nun, die „oppressiven Methoden“ staatlicher Anti-Desinformationseinheiten in die Corona-Untersuchung des Parlaments einzubeziehen. „Hinterhältige Methoden“ wie diese hätten keinen Platz in einem freien Land.

Kritik ist nicht das Problem – Zensur ist nicht der Weg

Der Informationen sind zu viele geworden. So könnte man, in scheinbar abgeklärter Weise, über die zunehmende Aufmerksamkeit der Regierenden und Regulierenden für alle diese Dinge urteilen. Wir wissen mehr, haben immer mehr Gedanken zu dem, was wir zu wissen glauben, immer mehr verschiedene Credos und Glaubenssätze. Für Regierungen ist so etwas natürlich hochgradig unpraktisch, weil Handeln eine gemeinsame Analyse der Wirklichkeit voraussetzt. Wo die Wirklichkeit vollkommen verschieden, konfus, disparat gedeutet wird, gibt es auch weniger bis gar keine Grundlage für ein Regierungshandeln, das von allen akzeptiert wird.

Das ist die nicht-dämonisierende, nicht-verschwörungstheoretische Ansicht des Problems. Dass daraus zwingend einer der Schritte folgt, den westliche Regierungen in der Corona-Zeit gegangen sind, ist damit nicht gesagt. In allen diesen Fällen wäre Dialog das richtige Mittel, um voranzukommen. Der kann aber nicht gelingen, indem man zunächst den Meinungskorridor verengt, Meinungen und Auffassungen aussortiert, ihre Sichtbarkeit verringert oder sie ganz ausblendet, am Ende verbietet. Genau das geschieht aber neuerdings in mehr als einem Land Europas und des Westens.

„Wenn Zensur das Mittel ist, um mit Kritik an Ihrer Politik umzugehen, dann ist das Problem die Politik und nicht die Kritik“, schreibt die Initiative UsForThem dazu auf ihrem Twitter-Profil.

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