Frankreich: Erneut Unruhen nach Misstrauensvotum – Regierung angeschlagen

Der knapp gescheiterte Misstrauensantrag gegen die Regierung von Élisabeth Borne hat am Montagabend zu Protesten und Unruhe im ganzen Land geführt. In Paris wurden mehr als 170 Menschen festgenommen. Abgeordnete aus allen Fraktionen bestätigen das Legitimitätsproblem der Regierung. Bald könnte so und so etwas Neues kommen.

IMAGO / PanoramiC
Nationalversammlung, Paris, 20. März 2023

Am Ende wurden beide Misstrauensanträge von der Nationalversammlung abgelehnt. Für den parteiübergreifenden Antrag der kleinen Fraktion LIOT stimmten 278 Abgeordnete. Nur neun Stimmen mehr, und die Regierung Borne wäre gefallen. Letztlich scheiterten die Misstrauensanträge an der mangelnden Bereitschaft der Républicains, die Regierung zu Fall zu bringen. Damit gilt zugleich die Rentenreform der Regierung Borne als angenommen, mit der das Rentenalter auf 64 Jahre angehoben werden soll.

Was die psychologischen Folgen für die Regierung angeht, halten sich aber auch deren Anhänger nicht zurück. Ein Schwergewicht der Macron-Partei Renaissance gab laut dem konservativen Figaro zu Protokoll, das nur knapp gewonnene Votum bestätige „fast definitiv die Illegitimität unserer Regierung“. Der Ausgang gilt als zu knapp. Ein baldiges Rücktrittsangebot Élisabeth Bornes wird erwartet, auch wenn Macron es ablehnen könnte.

Abstimmung im Parlament umgangen
Frankreich: Stürzt Macrons Regierung über die Rente mit 64?
Charles Courson, der als Initiator des überparteilichen Misstrauensantrags gilt, hat „die Manöver der Regierung, um die parlamentarische Debatte zu umgehen und (ein bestimmtes Ergebnis) zu erzwingen“, beklagt. Der Zentrist war entschlossen gewesen, alles zu tun, um diese Regierung zu stürzen, was auf das Maß verweist, in dem Macrons Regierung inzwischen die Gemüter erhitzt. Olivier Marleix, Fraktionsvorsitzender der Républicains, stellt das Fehlen eines „gesellschaftlichen Dialogs“ fest. Kürzlich hatte Justizminister Dupond-Moretti zwei vulgäre Gesten (bras d’honneur) in Richtung der LR-Fraktion gemacht und so die Entnervung der Regierung belegt. Borne beklagte ihrerseits den „Antiparlamentarismus“ ihrer Gegner, vor allem auf der Seite der Linken, die die Sitzung durch Absingen der Marseillaise und Zwischenrufen gestört hätten.

19 Abgeordnete der konservativen Républicains haben für den überparteilichen Antrag gegen die macronistische Regierung gestimmt, das sind nicht wenige, beinahe ein Drittel der Fraktion mit 61 Deputierten. Darunter ist auch Aurélien Pradié, der sich letztes Jahr mit einem eher sozial-populären Kurs um den Parteivorsitz beworben hatte, aber von dem entschiedenen Innenpolitiker Éric Ciotti geschlagen wurde. Ciotti sagte nach der Abstimmung, seine „politische Familie“ habe sich „im Geist des Zusammenhalts“ gegen das „unvermeidliche Chaos“ gestellt, das ein angenommener Misstrauensantrag heraufbeschworen hätte.

Aurélien Pradé: Regierung hat ein Legitimitätsproblem

Doch so geschlossen war diese Familie eben nicht. Aurélien Pradé sagte nach der Abstimmung im Nachrichtensender BFM TV: „Der Misstrauensantrag wurde abgelehnt, und ich stelle dieses Urteil nicht in Frage. Aber das ändert nichts am Ernst der Lage. Die Regierung hat ein Legitimitätsproblem. Wir brauchen einen Aufbruch, dieses Gesetz ist vergiftet, wir werden mit diesem Gesetz keinen demokratischen Dialog wieder aufbauen können.“

Eben das stellte auch Marine Le Pen noch vor der Abstimmung fest, als sie sagte, dass Emmanuel Macron die Lektion der Gelbwesten-Krise nie gelernt habe, vor allem was das „demokratische Zuhören“ angeht. Dieses Zuhören hatte Macron sich tatsächlich nach seiner holprigen Wiederwahl auf die Fahnen geschrieben, auch wenn er seinen Stil nicht änderte, der in seinem Land als arrogant und eigensinnig, ja brutal gilt. Nach der Abstimmung forderte Le Pen den Rücktritt von Élisabeth Borne und sagte den Républicains voraus, sie würden bei den Wahlen dafür bezahlen, dass sie zur „Stütze“ von Macron geworden seien.

Jean-Luc Mélenchon, einstiger Präsidentschaftsanwärter seiner Partei La France insoumise (LFI), nun einfacher Abgeordneter, forderte ein „populäres Misstrauensvotum“, das „überall und unter allen Umständen zum Ausdruck kommt und es uns ermöglicht, die Rücknahme des Textes zu erwirken“.

Erneut Unruhen am Montag: Willkürliche Festnahmen?

Auf den Straßen vieler französischer Städte kam es am Montagabend erneut zu Unruhen, wie schon letzte Woche. Vermutlich tausende Menschen versammelten sich auf verschiedenen Pariser Plätzen, riefen Slogans wie „Auch wir werden durchmarschieren“ (so wie Macrons Parlamentsminderheit) oder „Zu den Waffen!“, ein Zitat aus der Marseillaise. Mehrfach trafen Geschosse aus der Menge die Polizei. Die Spezialeinsatzkräfte der Polizei führten aggressive Gegenangriffe aus. Allein in Paris kam es zu 171 Festnahmen, angeblich auch „gewaltsamen und willkürlichen“ von „friedlichen“ Mitgliedern der linken Partei LFI. Mélenchon forderte deren Freilassung.

Später marschierten die Bürger auf die Machtzentren des Landes zu. Viele Straßen waren durch den liegengebliebenen Müll, der nun häufig entzündet wurde, von Barrikaden übersät, die Bürgerkriegsstimmung verbreiten.

Am Sonntag waren die Straßen im Zweifel noch bevölkerter gewesen. Die Lage war gespannt, aber die Ordnung noch intakt, obwohl schon hier und da Mülleimer brannten.

Doch Spannungen werden ebenso aus Dijon, Lille, Straßburg und Marseille berichtet. In der Mittelmeermetropole versuchten Menschen laut dem Figaro das Präfekturgebäude zu stürmen. In Straßburg versammelten sich rund tausend Menschen auf der Place Kléber und riefen wiederum: „Auch wir werden durchmarschieren“. Ebenso kam es in Bordeaux, Nancy, Montpellier, Toulouse, und Brest zu Unruhen. Schlägereien zwischen Demonstranten und Polizei sowie das Zünden von Feuerwerkskörpern und rauchentwickelnden Mitteln waren keine Seltenheit.

Macron ruft sein Lager zu Beratungen in den Élysée

Für den Dienstagmorgen hat Macron umfangreiche Beratungen im Élysée-Palast geplant, allerdings nur Getreuen aus seiner Regierung und den unterstützenden Fraktionen. Vor der Abstimmung hatte er den Wunsch geäußert, dass die Rentenreform „ihren demokratischen Weg bis zum Ende gehen kann, von allen respektiert“.

Premierministerin Élisabeth Borne will das Gesetz nun vom Verfassungsrat prüfen lassen, um die in der Debatte strittigen Punkte zu klären. Die linke Fraktion NUPES hatte den Entwurf auch anhand von Verfahrensfragen angegriffen. Außerdem soll der Verfassungsrat die Möglichkeit eines Referendums untersuchen, mit dem NUPES das nun verabschiedete Gesetz anfechten will. Der vorgelegte Referendumstext besagt, dass das gesetzliche Rentenalter nicht über 62 Jahren liegen dürfe. Die Weisen des Rats haben einen Monat Zeit, um das Referendum zuzulassen oder es abzulehnen.

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Kommentare ( 24 )

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Phil
1 Jahr her

Dass der Sozialstaat in Kürze in keinem Land von Europa mehr bezahlbar sein wird, sollte sogar für jeden 10 Jährigen mit einem Rechenschieber offensichtlich sein, könnte man jedenfalls meinen….. Corona, Energiewende, Zinswende und eine Flut an Zentralbankgeld, sowie die daraus resultierende Inflation, beschleunigen lediglich einen Prozess der substantiellen Verarmung der breiten Masse der Europäer, zu welchem die Weichen rein politisch bereits lange vorher gestellt wurden. Der steigende Wohlstand der Massen ist ein Relikt der Nachkriegszeit und war bereits beendet als der Goldstandart der Weltreservewährung aufgehoben wurde. Seither taumelt das durch die Zentralbanken orchestrierte Finanzsystem und die von diesem abhängige Weltwirtschaft,… Mehr

EddyNova3122
1 Jahr her

Bezeichnend – in France gibt es ab 67 unabhängig davon wielange eingezahlt wurde eine Mindestrente von E 1.200 – ob 62 oder 64 ist aufgrund der dortigen Reglung gar nicht so erheblich …
In den Clips habe ich eigentlich kaum jemand gesehen der in den nächsten 20 Jahren davon überhaupt betroffen ist – das Problem der Unzufriedenheit muss also tiefer liegen.

Paul Brusselmans
1 Jahr her

Hier gibt es wieder einmal ab und zu Vorurteile. Die Franzosen sind nicht fauler als die Deutschen. Bitte, wer hat denn alles bei der EZB mitgemacht, wer hat denn freiwillig einen Grossteil des Britenbeitrags in der EU übernommen? Es geht im Augenblick weniger um die Rentenreform als darum, dass Macron mit der Brechstange ein derartiges Vorhaben mit einer Ausnahmeregelung am Parlament vorbei durchdrückt. Einer Ausnahmeregelung, die innerhalb von weniger als einem Jahr zum elftenmal genutzt wird. Rente – dies betrifft die Einnahmen- und Ausgabenseite. Während sich diese Reform auf die Einnahmenseite konzentriert, sprich Marine Le Pen die Ausgabenseite an und… Mehr

Edwin
1 Jahr her

Die Franzosen wehren sich halt wenigstens, während das deutsche Lamm demnächst die Erhöhung der Altersgrenze auf 70 Jahre ohne Murren akzeptiert. Man kann den Franzosen ja nicht vorwerfen, wenn die Deutschen sich alles gefallen lassen. Unsere Angelegenheiten müssen wir schon selbst regeln.
Am besten hat mir heute die Mitteilung von BR1 gefallen: Bei den Demos in Paris gab es Spruchbänder auf denen stand: „Ludwig XVI. wurde geköpft, Macron es geht wieder los“!

Guzzi_Cali_2
1 Jahr her

Meine Schwester lebt in Paris und hat ein Geschäft in einer kleinen Seitenstraße mitten im Zentrum. Unter der Woche scheint es relativ „normal“ zuzugehen, aber schon am Freitag mittag bricht sie mit ihrem Lebenspartner immer in die Provinz auf und bleibt dort bis Montag vormittags. Sie hat mir gesagt, daß sie sich nie sicher ist, ob es ihren Laden noch unbeschädigt gibt, wenn sie am Montag mittag dort eintrifft. Wo sind wir Europäer gelandet? Wie kann es sein, daß EIN selbstsüchtiger, von Soros und Schwab gesteuerter Befehlsempfänger ein komplettes Land ins Chaos stürzen kann? Ich fürchte, die archaischen Methoden der… Mehr

R.S.
1 Jahr her

Unterschied Deutschland -Frankreich…in Deutschland gibts nur zum Jahreswechsel brennende Barrikaden…..

Elisabeth D.
1 Jahr her
Antworten an  R.S.

Und, nur zur Erinnerung, nicht wegen der grottenschlechten und dummen Politik der Ampel. Nein, ein Mob „westasiatischer“ Herkunft tobte sich aus, gegen die deutsche Polizei und die deutschen Schlafschafe. Ein bisschen Spaß muss sein! Auf denn zur Rente ab 70 für den dann immer noch schwindelfreien Dachdecker, den Hitze- und Kältegewohnten Strassenbauarbeiter oder die Krankenschwester im Schichtdienst. Die froh sein kann, nach oder vor der Spätschicht nicht vom fröhlichen Partyszenevölkchen „ gemessert“ zu werden.

Hugo Treppner
1 Jahr her

Während der Michel am Freitag nochmal richtig anpackt, hat sich der Franzose schon an der Côte d’Azur auf ein verlängertes Wochenende eingerichtet. In Frankreich gilt die 35 Stunden Woche. Wer drei Tage in der Woche in der Sonne liegt, der hätte auch gerne möglichst schnell die restliche vier- auch frei. Das muss man verstehen.

JamesBond
1 Jahr her
Antworten an  Hugo Treppner

Im Süden Frankreichs gibt es wenigstens Sonne. Hier wollen uns die Grünen weismachen, es gelte das Klima zu retten; nein, die Grünen Lügen (die von fast allen Politclowns übernommen wurden) führen geradewegs in den gesellschaftlichen Untergang.

Chris Groll
1 Jahr her

Wir dürfen uns nicht beschweren. Nur weil die Deutschen alles hinnehmen, auch arbeiten bis zum Tode, müssen die Franzosen das noch lange nicht tun. Sie gehen zumindest für ihr vermeintlichen Rechte auf die Straße. Ich warte in Deutschland noch immer darauf, daß die Menschen auch mal den Mut haben, sich zu trauen. Auch wenn sie anschließend in die rechte Ecke gestellt werden.
Bei uns können Menschen aus Wohnungen/Heimen vertrieben werden ohne daß man irgend einen Protest erlebt. Könnte ich noch viele weitere Beispiele aufzählen, schenke es mir aber.

Astrid
1 Jahr her
Antworten an  Chris Groll

Der Zenit in Deutschland endlich auf die Straße zu gehen, bezüglich der vermeintlichen Rechte, ist schon lange überschritten. Das deutsche Volk ist mittlerweile so eingestampft und gehirngewaschen, so dass hier keine Aufstände zu erwarten sind. Corona und der Ukraine-Krieg haben ganz klar gezeigt, was die Menschen hier mit sich machen lassen. Wir erleben gerade wie unser Land mit Pauken und Trompeten untergeht, aber die Masse interessiert das nicht. Hauptsache RTL läuft und das Bier ist kalt, noch…

Wilhelm Roepke
1 Jahr her

Spannend.Tja, wie in jedem Sozialismus geht langsam das werthaltige Geld aus…

meckerfritze
1 Jahr her

Auf die Barrikaden! Am besten auch hier, gegen die grünbraune Diktatur!