Europa im Umbruch – wenn selbst Sozialdemokraten die rote Linie ziehen

Während in Brüssel alte Narrative verteidigt und Richterrechte über Bürgerrechte gestellt werden, wächst unter Europas Regierungschefs der Widerstand. Eine neue Achse der Realisten, von Dänemarks Sozialdemokratin bis Italiens Konservativer, fordert: Sicherheit zuerst – selbst wenn das ein Bruch mit der bisherigen EU-Politik bedeutet.

picture alliance / ANSA | CHIGI PALACE PRESS OFFICE/FILIPP

Schon im Laufe des Junis könnte sich die Dynamik in der EU deutlich verändern. Ende des Monats findet ein weiterer EU-Gipfel statt, auf dem neben der Ukraine und Nahost auch die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Länder und die Migration auf der Tagesordnung stehen. Das ist nicht zum ersten Mal so der Fall. Inzwischen ist aber das patriotische Lager ziemlich gut aufgestellt. Das ist – neben den eigentlichen Mitgliedern des Lagers – vor allem der dänischen Regierungschefin Mette Frederiksen zu verdanken, die sich gerade unbürokratisch zur „Patriotin“ erklärt hat. Frederiksen hat sich damit und mit ihren anderen Äußerungen schon fast in die Mitte dieses Lagers gestellt. Zuwanderung sei die größte Bedrohung für Dänemark und seine Nachbarn, sagt die Sozialdemokratin. Das gilt aus ihrer Sicht auch genauso für Deutschland.

Kampf um Abschiebungen
Kritik an Menschenrechtskonvention: EU-Länder fordern härteres Vorgehen gegen Migranten
Eine ganz große Koalition könnte also auf der EU-Ebene vor der Tür stehen. Frederiksen hat sich unter anderem mit der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni über eine schärfere Ausweisungspolitik verständigt. Gemeinsam unterschrieben die beiden Frauen einen offenen Brief an die EU- und Europarats-Partner, in dem sie Mängel in der Europäischen Konvention für Menschenrechte und in deren Auslegung durch das damit beauftragte Straßburger Gericht kritisieren.

In ihrem offenen Brief schreiben insgesamt neun EU-Regierungschefs, darunter auch der Belgier Bart de Wever sowie die Regierungen von Estland, Lettland, Litauen, Österreich, Polen und Tschechien: „In aller Bescheidenheit glauben wir, dass wir in unserem Ansatz stark mit der Mehrheit der Bürger in Europa übereinstimmen.“ Dafür gibt es in der Tat Anzeichen, wenn man Wahlergebnissen noch irgendeine Bedeutung schenkt. Die Neun wollen nun ein neues, offenes Gespräch über die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention beginnen. Über diese Konvention, der nicht nur EU-Mitglieder beigetreten sind, sondern einst auch Großbritannien und Russland, ärgern sich auch Konservative und „Reformisten“ in London immer wieder. Denn sie enthält einige sehr großzügige Regelungen für kriminelle Zuwanderer. So konnte ein verurteilter Vergewaltiger in England die „Störung seines Familienlebens“ durch eine Ausweisung ins Feld führen und wurde nicht abgeschoben. Das Gericht gab ihm Recht.

Vor allem bei schwerer Gewalt und Drogendelikten

Die neun Regierungschefs bringen zuerst ihren Unglauben darüber zum Ausdruck, dass Straftaten von Zuwanderern gemäß der richterlichen Auslegung der Konvention etwas Akzeptables sein sollen. „Es ist für uns unbegreiflich, dass Menschen in unsere Länder kommen, an unserer Freiheit und unseren vielfältigen Möglichkeiten teilhaben können und sich dann entschließen, Verbrechen zu begehen.“ Das mag naiv klingen. Aber das eigentlich Gravierende ist, dass es in politischen Gremien – gerade auf der EU-Ebene – erst noch gesagt werden muss.

Viele Migranten seien nach Europa gekommen, ohne jede Absicht sich zu integrieren. Vielmehr hätten sie sich von Anfang an von „unseren Grundwerten der Gleichheit, Demokratie und Freiheit“ distanziert und in Parallelgesellschaften isoliert. Viele von ihnen leisten dabei auch „keinen positiven Beitrag zu den Gesellschaften, die sie aufgenommen haben, und haben sich entschieden, Straftaten zu begehen“. Es ist der Unglaube der Regierungschefs, der in diesem Fall Berge versetzt, nämlich Parteiprogramme, die einst mehr oder minder migrationsfreundlich waren. Im Brief steht der Satz: „Was früher richtig war, ist vielleicht nicht die Antwort von morgen.“

Politisch motivierte Kriminalität häutet sich
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Konkret fordern die neun Regierungschefs, dass ihnen auf nationaler Ebene mehr Freiraum gegeben wird, selbst zu entscheiden, wann kriminelle Ausländer abgeschoben werden, vor allem wo es um schwere Gewalttaten oder Drogendelikte geht. Urteile des Straßburger Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) schränken „Ausweisungen krimineller Ausländer“ zu sehr ein, so der offene Brief der Neun: „Unserer Meinung nach ist die Sicherheit der Opfer und der großen Mehrheit der gesetzestreuen Bürger ein wesentliches und entscheidendes Recht. Und es sollte generell Vorrang vor anderen Erwägungen haben.“

Und wenn ein Straftäter wirklich nicht abgeschoben werden kann, dann möchten die Neun zumindest mehr Freiheit dabei haben, die Kriminellen zu überwachen. Außerdem werden „wirksame Schritte“ gegen „feindselige Staaten“ an den Grenzen der EU gefordert, die Migranten „instrumentalisieren“ und die Grenzen passieren lassen. Mit dieser Formulierung hat man auch Estland, Lettland, Litauen und Polen gewonnen, die zu den Unterzeichnern gehören. Aber die russlandkritische Note ist auch hier nur ein Teil der Botschaft. Der andere Teil dürfte sein, dass auch andere Nachbarn die illegale Migration nicht instrumentalisieren sollten. Und diesen Punkt dürften vor allem Dänemark und Italien, vielleicht auch Österreich in EU-Gremien bearbeiten.

In ihrer gemeinsamen Pressekonferenz sagte Frederiksen: „Wir kommen aus sehr verschiedenen Ländern, und wir haben eine starke Partnerschaft begründet.“ Giorgia Meloni ergänzte: „Wir müssen mutig sein, wir müssen auf eine neue Art denken und die Situation so beschreiben, wie sie ist.“

„Spiegel“ weiß nichts von Kriminalitätsbelastung

Der Brief der Neun, mit Frederiksen als skandalöser Mitunterzeichnerin, erregte genügend Unruhe, damit sich auch die deutsche Haltungspresse der Politikerin aus dem Norden zuwandte. Gegenüber dem Spiegel spricht Frederiksen erneut von der „Massenmigration“ nach Europa und deren schädlichem Einfluss auf die europäischen Gesellschaften. Als die Fragesteller Frederiksen fragen, ob ihre Forderung zur Eindämmung der illegalen Migration vielleicht taktischer Natur sei, weil sie so dem US-Vizepräsidenten Vance gefallen wolle, wird die Dänin sehr ernst, lehnt sich „leicht nach vorn über den Tisch“ und sucht nach dem richtigen englischen Wort, das schließlich ihr Berater findet: Sie fühlt sich beleidigt von solchen Unterstellungen, die auch tatsächlich absurd sind.

O-Ton Frederiksen: „Wer so etwas sagt, beleidigt mich. Ich sage seit mehr als zehn Jahren dasselbe über Migration. Man muss sich sicher fühlen, wenn man nachts den Bus nimmt, frühmorgens zur Arbeit geht, in der Schule.“ Beim jetzigen Kriminalitätsniveau in Europa gebe es „Gegenden, in denen sich die Menschen nicht mehr sicher fühlen“.

Die Fragesteller vom Spiegel hatten zuvor „Unmut“ bei europäischen Parteifreunden der Dänin ausgemacht, worauf Frederiksen nur sagt: „Ich bin Sozialdemokratin. Das prägt meine Haltung. Auch zur Migration. Und ich vermute, dass die Mehrheit der Deutschen mir zustimmen würde.“ Massenmigration habe in Deutschland wie in Dänemark „Teile unseres Alltagslebens zerstört“. Aber das verstehen die Hamburger Interviewer nun gar nicht und fragen verdutzt, wie Frederiksen denn darauf kommen könne. Antwort: „Ich lese deutsche Zeitungen und sehe, was auch in Ihrem Land passiert.“ Nur beim Spiegel liest man derlei vielleicht nicht oder ignoriert es nach Kräften.

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Kommentare ( 33 )

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giesemann
11 Tage her

Die „rote Linie“ ist bereits 1982 von einem Sozialdemokraten gezogen worden: SPD-Kommunalexperte Martin Neuffer (1924 – 2004) über die Ausländerpolitik der Bundesrepublik: Eine radikale Neuorientierung der Bonner Ausländerpolitik fordert der langjährige hannoversche Oberstadtdirektor, Städtetagpräside und NDR-Intendant Martin Neuffer, damals 57. In seinem soeben erschienenen Buch »Die Erde wächst nicht mit. Neue Politik in einer überbevölkerten Welt«. Verlag C. H. Beck, München; 195 Seiten; 17,80 Mark, plädiert der linke Sozialdemokrat dafür, die Einwanderung von Türken in die Bundesrepublik »scharf« zu drosseln und auch das Asylrecht »drastisch« auf Europäer zu beschränken. Auszüge: 18.04.1982, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 16/1982(!!). Habe beim Verlach angeregt, das Buch doch… Mehr

a.bayer
11 Tage her

Die deutschen Sozialdemokraten sind aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage, zu ähnlichen Einsichten zu gelangen wie ihre dänischen Kollegen. Diese Gründe im Einzelnen auszuführen würde nicht nur die Sozis beleidigen, sondern auch die Intelligenz des TE- Lesers.

Sonny
11 Tage her

Eines hat die Geschichte der letzten 10 Jahre auf jeden Fall bewiesen: Geld regiert die Welt. Und diejenigen, unfassbar reich an Geld, die diesen Niedergang mit ihrer teuflischen Egomanie in Gang gesetzt haben, werden doch nicht triumphieren. An allen Ecken und Enden bröckelt es, denn den (rechtschaffenen) Menschen geht es schlecht. Sehr schlecht. Was einmal als „black lives matter“ begann, ist völlig ausgeufert in ideologische Sektiererei in jegliche, noch so absurde Richtung. Schlechter könnte es eine echte Klimakrise oder eine echte Pandemie auch nicht verursachen. Es schien, als hätten die Rattenfänger gewonnen. Und sind dadurch noch sehr viel reicher (an… Mehr

Last edited 11 Tage her by Sonny
CasusKnaxus
11 Tage her

Wenn das schon eine Sozialdemokratin sagt, sollten bei allen endgültig die Alarmglocken klingeln. Aber es müssen dann auch Taten folgen…

Del. Delos
12 Tage her

Wenn EU-Recht vor nationales Recht geht und der EuGH dieses EU-Recht auch noch regelmäßig bestätigt, dann können wir uns unsere nationalen, demokratisch gewählten Parlamente alle schenken. Dann bestimmt nämlich NUR noch die EU-Kommission, deren Mitglieder von den Regierungen und NICHT von den sie kontrollierenden Parlamenten eingesetzt sind, was die 550 Millionen EU-Bürger zu tun und zu lassen haben. Das ist Regieren nach Gutsherrenart. Und ja, natürlich bestätigt der EuGH das undemokratische und auf undemokratische Weise zustande gekommene EU-Recht regelmäßig… denn dafür wurde er ja geschaffen: er soll die Durchsetzung der Agenden, hier 2030, sicherstellen…). Es wird allerhöchste Zeit, dass die… Mehr

Ralf Poehling
12 Tage her

Das klingt jetzt vielleicht im ersten Moment komisch, aber die Linken in Europa wissen schon viel länger was hier läuft als die Rechten, ihre Antwort darauf war aber zu unpräzise und damit zu schwach. Die Rechten stoßen jetzt konsequent dazu. Das sollte nun endlich genug Wumms entwickeln, das Problem wirklich komplett und an der Wurzel abzustellen. Man muss aber damit rechnen, dass das dann eskalieren und unschöne Bilder geben könnte. Aber da müssen wir durch. Europa muss jetzt zeigen, dass es nicht nur mit dem Mund sondern auch physisch handlungsfähig ist. Internationale Geopolitik ist eine Sau. Da zählt nur das… Mehr

amendewirdallesgut
12 Tage her

Leider sind diese Erkenntnisse bei 80% der deutschen Wähler noch nicht angekommen , und der bewußt herbeigeführten kultur.-und identitätszersetzenden Agenda der woken internationalsozialistischen Sekte ist so schnell nicht beizukommen es sind mittlerweile zu viele Institutionen unterwandert .

joseph
12 Tage her

Österreich kann man aus dem Brief wieder raustreichen, denn die Koalitionspartner der ÖVP (SPÖ und Neos) unterstützen den Inhalt nicht und haben sich beschwert nicht darüber informiert worden zu sein.

Dr. Rehmstack
12 Tage her

Ich vermute, die Fragestellererin war Melanie Amann, die in einer Talkshow öffentlich bekannte, dass sie von Problemen auf dem Hamburger Jungfernstieg noch nie etwas gehört habe; hierzu hatte der NDR vor kurzem eine eigene Sendung:“Viel Polizei, wenig Perspektive: Hamburgs Problemzone Jungfernstieg.“
Die Entfernung vom Jungfernstieg zum Spiegel Redaktionshaus beträgt 1300 m.

Jens Frisch
12 Tage her

„Unserer Meinung nach ist die Sicherheit der Opfer und der großen Mehrheit der gesetzestreuen Bürger in wesentliches und entscheidendes Recht.“
Das ist keine „Meinung“ – das nennt sich „Gesellschaftsvertrag“ und war die Voraussetzung dafür, dass sich der Staat das Gewaltmonopol angeeignen durfte:
Der Bürger bleibt friedlich – dafür bietet der Staat Schutz.
Unsere „liberalen Demokratien“ haben diesen Vertrag einseitig aufgekündigt – Deutschland spätestens 2015 mit dem Satz: „Nun sind sie halt da.“