Deutschland wanderte in die Bundesrepublik ein

Die neue politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Führungsschicht im "Beitrittsgebiet" hat sehr schnell die Weltsicht jener im Westen weitestgehend übernommen. Die gerufen hatten, "Wir sind ein Volk", überwiegend nicht. In der politischen Krise, die aus dem Unvermögen entstand, mit der plötzlich viel größeren Zuwanderung seit 2015 umzugehen, brach der unsynchrone Prozess der Weltsicht zwischen "Oben" und "Unten" unübersehbar und unüberhörbar auf - ein Prozess, der sich zweifelsohne noch lange fortsetzen wird.

© Sean Gallup/Getty Images

„Bundesrepublikaner“ nannten sich viele Bewohner der Bonner Republik, wenn sie nicht von sich als Bonnern, Kölschen, Westfalen, Rheinländern, Ober- und Nieder-Bayern, Franken und so weiter sprachen, sondern von allen zusammen. Wer von „Bundesdeutschen“ sprach, setzte sich schon einem gewissen Nationalismus-Verdacht aus, von der Bevölkerung der Bonner Republik als „Deutschen“ sprach kaum jemand. Ich gehörte nach 1990 zu denen, die es lieber gesehen hätten, die Bundeshauptstadt wäre Bonn geblieben. In Berlin, war mein Argument, würde aus der Bonner „Käseglocke“ eine noch viel schlimmere werden.

1990 kam für den Zustand der alten Bundesrepublik zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Die tiefe Krise von CDU und FDP war 1989 noch ausgeprägter als die der SPD. Ich schrieb damals wiederholt über die reale Gefahr der 5-Prozent-Hürde für die FDP bei der nächsten Bundestagswahl. In der CDU wurde intensiv über den künftigen Kurs der Volkspartei debattiert. Sollte sie die verloren gegangenen Wähler an die Republikaner von Franz Schönhuber versuchen wiederzugewinnen oder sich noch weiter in die Mitte öffnen und der FDP, aber auch der SPD, Stimmen abnehmen. Die SPD drehte sich bei der Frage im Kreis, wie sie mit den Verlusten an die Grünen umgehen sollte. Die Grünen waren mit ihrer weiteren Etablierung beschäftigt, ihrem Anpassungsprozess an die schon länger etablierten Parteien. Die FDP war nach dem Abgang der allermeisten Sozialliberalen in einem politischen Zustand, in dem sie mit einer CDU, die dem von Heiner Geißler begonnen Öffnungskurs weiter folgt, auch hätte fusionieren können. Dass das niemand wollte, lag mehr an den Posten, die man verlieren würde als an politischen Inhalten.

Den SPIEGEL 21/1989 vom 22. Mai1989 zierte als Titel: „Aufruhr in China – Ende des Kommunismus?“. Drinnen ging es im Beitrag „Viertes Reich“ um die Frage, wie es mit Bundesrepublik und DDR weitergehen könnte: noch keine Ahnung von bald Bevorstehendem. Vor allem aber brachte das Magazin einen ausführlichen Bericht, den ich heute wieder denkwürdig aktuell finde.

bildschirmfoto-2016-10-03-um-10-52-14Seit die Partei der Republikaner bei der Berliner Wahl am 29. Januar 1989 aus dem Stand 7,5 Prozent schaffte, hofften nicht nur Franz Schönhuber und seine Leute, dass sie sich bei der nächsten Bundestagswahl in Bonn als fünfte Partei etablieren könnten (als möglicher Termin wurde damals der 9. Dezember 1990 vermutet). Auch viele Beobachter hielten das für möglich. Selbst ein Ergebnis der REPs als drittstärkste Partei vor den Grünen und der FDP wurde nicht ausgeschlossen.

Der SPIEGEL-Bericht von damals enthält auch und gerade für heute höchst interessante Daten und Erkenntnisse, hier ein paar davon:

  • Eindeutig bestätigen die Umfragen die Vermutung des CDU-Generalsekretärs Geißler, daß viele Wähler der Republikaner ‚Fleisch vom Fleische der Union‘ seien. 81 von 100 gaben an, für welche Partei sie sich bei der letzten Bundestagswahl im Januar 1987 entschieden hatten: 51 Prozent nannten die CDU/CSU, 17 Prozent die SPD, je 6 Prozent die FDP oder die NPD sowie 1 Prozent die Grünen.
  • Brächte die Bundestagswahl ein Ergebnis wie die SPIEGEL-Umfrage im März (SPD 40, CDU/CSU 37, Grüne 9, FDP 8, Republikaner 5 Prozent), so könnte es zwar eine Koalition der beiden Großen geben, die den drei kleineren Parteien weitere Wähler zutreiben und ein Fünf-Parteien-System etablieren würde. Im übrigen reichte es aber nicht zu einer Mehrheit, die herkömmlichen Vorstellungen entspräche: weder für CDU/CSU und FDP noch für SPD und Grüne, noch für SPD und FDP.
  • Was die Bundesbürger insgesamt angeht, so steht nur eine Minderheit dem bundesdeutschen politischen System ablehnend gegenüber. Aber diese Minderheit hat sich – wie der Vergleich mit früheren Umfragen zeigt – in den letzten Jahren von einem Viertel auf ein Drittel vergrößert.
  • Nicht mehr 62 Prozent wie im Jahre 1980, sondern nunmehr 75 Prozent stimmten der Meinung zu: ‚Den Parteien geht es eigentlich nur um die Wählerstimmen, aber nicht darum, was die Leute denken.‘

Womit die Bonner Republik 1990 hätte umgehen müssen, hätte in jenem Jahr die einzige je frei gewählte Volkskammer der DDR nicht den Beitritt zur Bundesrepublik beschlossen, beschrieb der SPIEGEL so:

„Was dann in Bonn arithmetisch nur noch möglich wäre, erscheint aus heutiger Sicht politisch unmöglich: ein Dreierbund entweder der CDU/CSU mit der FDP und den Republikanern oder der SPD mit der FDP und den Grünen.“

1990 wanderte Deutschland in die Bundesrepublik ein

Ich bin damals viel in der ausgehenden DDR, die dann so sprechend längere Zeit „Beitrittsgebiet“ genannt wurde, rumgekommen. Mehr zufällig habe ich auch im letzten Sommer, in dem das möglich sein sollte, mehrere Teilrepubliken Jugoslawiens zu Gesprächen mit den neuen Politikern nach der Implosion der Sowjetunion bereist. Für die Naumann-Stiftung habe ich das erste Büro einer deutschen politischen Stiftung noch unter dem letzten kommunistischem Regime in Budapest eröffnet.

Wäre es bei zwei deutschen Staaten geblieben, hätten die politischen Kräfte in der DDR ihre eigene Demokratie aufgebaut, wäre dieser Staat der EU beigetreten wie seine östlichen Nachbarn, gehörte er heute ohne Zweifel zur Visegrad-Gruppe.

In der Bonner Republik war die politisch-kulturelle Hegemonie der Grünen 1989 tiefer in die westdeutsche Gesellschaft eingedrungen, als es den Grünen damals selbst bewusst war. Die instinktive Gegnerschaft gegen den Zusammenschluss von West und Ost der führenden Köpfe der Grünen und des linken Teils der SPD mit Oskar Lafontaine an der Spitze kam nicht von ungefähr. Sie wussten selbst nicht, dass ihre Sympathie für die DDR – auch oder vor allem – darin bestand, dass die deutsche Teilung zu ihrem Selbstverständnis von der historischen Verpflichtung gehörte, die sich für sie aus dem politischen Verbrechen des Nationalsozialismus ergab. Sie und mit ihnen große Teile aller Westparteien hatten so etwas wie eine Wiedervereinigung abgeschrieben. Ein Deutschland sollte es als historische Strafe nie wieder geben.

Wie wir alle wissen, dauerte der Widerstand dieser Linken nicht lang, Willy Brandt zusammen mit Helmut Kohl und in ihrem Gefolge Hans-Dietrich Genscher zogen mit ihrer verwandten gesamtdeutschen Seelenlage alles mit. Sie waren es auch, die bei der Entscheidung über den Umzug der Bundeshauptstadt nach Berlin den Stimmungsausschlag gaben. Sich dieser Stimmung zu entziehen, war damals wohl kaum möglich.

Systemdefizite zugedeckt

Für die Fortsetzung von Schwarzgelb hätte es 1990 bei Wahlen in der alten Bundesrepublik nicht gereicht. Den vom SPIEGEL genannten „Dreierbund“ von CDU/CSU und FDP mit den Republikanern wären weder Union noch FDP eingegangen. Mit SPD und Grünen hätte die FDP eines Vorsitzenden Lambsdorff nicht koaliert. Es wäre zur Großen Koalition von Union und SPD gekommen. Kohl und Brandt, die sich über der Wiedervereinigung menschlich nahe kamen, hätten das geistige Patronat gewährleistet. Die Republikaner hätten ihre Wahlergebnisse gesteigert, die Grünen auch, die FDP wäre damals schon unter die Räder gekommen.

Die erste gesamtdeutsche Wahl deckte alles zu. Die Masse der SED-Wähler stimmte für die Unionsparteien (43,8%), die FDP erbte für einmal die LDPD-Wähler und erreichte für sie schwindelnde 11 Prozent. Die Mitglieder der LDPD hätten die Herrschaft in der FDP übernommen wegen ihrer schieren Überzahl, wäre es in der FDP demokratisch zugegangen. Die SPD (33,5%) kaute lange an dem Schock, dass nicht sie in ihren historischen Stammlanden erste Wahl war, sondern die CDU. Die Grünen wären fast an der 5-Prozent-Hürde gescheitert. PDS und REPs kamen kaum über 2%. Union und FDP konnten mit komfortabler Mehrheit weitermachen. Auf die Zahlen der abgegebenen Stimmen, die erst wirklich Auskunft über die Entwicklung des Verhaltens der Wahlberechtigten geben, lenkt die Berichterstattung der Medien die Aufmerksamkeit nie – das erleichtert es auch den Parteifunktionären, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen. Die CDU z.B. errang bei der Bundestagswahl im Januar 1987 gemessen an der Zahl aller Wahlberechtigten (45.290.668) 28,8 Prozent (13.045.540 Stimmen). 1990 stieg die Zahl der Wahlberechtigten auf 60.436.560. Die CDU wählten 17.055.116. Das war kein Zugewinn, sondern ein Verlust, denn die genannte Zahl bedeutet 28,2 Prozent aller Wahlberechtigten. Um nicht noch mehr Zahlen zu nennen, nur noch das Unionsergebnis insgesamt, in dem die ostdeutschen Wähler der DSU enthalten sind: Die Union verlor zwischen 1987 und 1990 3,2 Prozentpunkte.

Aber das eigentliche Ergebnis war, die alten Parteien vergaßen alles, was sie in den vergangenen Jahren kritisch mit sich selbst angefangen hatten auszutragen. Die Welt war in Ordnung: Übergang zur Tagesordnung. Drinnen in allen Parteien blieb nicht nur alles beim Alten, sondern verschlimmerte sich kontinuierlich weiter. Je mehr sich die Grünen berappelten und stabilisierten, desto mehr der Krankheiten der anderen übernahmen sie. Ihrem Beispiel folgte später viel schneller die PDS, nachdem das einmalige Duo Lafontaine-Gysi Die Linke aus der Taufe hob.

Über allem deutschen Geschehen, der Mutation zur EU, dem Euro, der Ausweitung der NATO, dem Rückzug Russlands und was sonst noch so geschah, blieb ein Prozess vollständig außerhalb des Blickwinkels der Öffentlichkeit, nicht nur der veröffentlichten Meinung. Niemand realisierte wirklich, was zu Beginn des Prozesses, den ich meine, der Wechsel des Slogans bei den Montags-Demonstrationen signalisierte: Von „Wir sind DAS Volk“ zu „Wir sind EIN Volk“.

Mit den Bürgern der DDR wanderte Deutschland in die Bundesepublik ein. Sehr bald nannten sich die öffentlich hörbaren Westbürger (viele vor dem Mauerfall „Rübergemachte“ eingeschlossen) nicht mehr Bundesrepublikaner, Ossis sowieso nicht. Bildhaften Ausdruck gewann diese Veränderung im schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer bei der Fußball-WM 2006. Die Welt staunte, die – nunmehr – Deutschen schwenken Fahnen und singen keine nationalistischen Lieder.

Die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Führungsschicht der Bonner Republik ging, ohne je nachzudenken, davon aus, dass ihre Weltsicht auch die der Berliner Republik wäre. Wer im Osten genauer hinschaute und hinhorchte, wusste früh, dass dem nicht so war. Je länger je mehr fühlten sich jene im Westen, die lange geschwiegen hatten (außer am Stammtisch), durch osmotische Verbindungen mit dem Osten und tatsächliche Begegnungen ermutigt, dem Zeitgeist leise murrend zu widersprechen. Verwunderlich daran ist nur, wie lange das dauerte. Denn selbstverständlich waren die Leute im Westen ja nicht verschwunden, über die der SPIEGEL aus seinen drei großen Umfragen 1989 berichtet hatte, und gleich Gesinnte im Osten waren dazugekommen.

Die neue politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Führungsschicht im „Beitrittsgebiet“ hat sehr schnell die Weltsicht jener im Westen weitestgehend übernommen. Die gerufen hatten, „Wir sind EIN Volk“, überwiegend nicht. In der politischen Krise, die aus dem Unvermögen entstand, mit der plötzlich viel größeren Zuwanderung seit 2015 umzugehen, brach der unsynchrone Prozess der Weltsicht zwischen „Oben“ und „Unten“ unübersehbar und unüberhörbar auf – ein Prozess, der sich zweifelsohne noch lange fortsetzen wird. Dieser Prozess, täuschen wir uns nicht, findet in Ost UND West statt – innerhalb der Bundesrepublik Deutschland und in Ost- und West-Europa.

Kein neues Ost-West-Gefälle, sondern ein Oben-Unten-Gefälle von Führungsschicht und Bürgern

Eine neue deutsche Ost-West-Teilung, die zunehmend das Medienbild beherrscht, erweist sich allein bei dem Blick auf das hier in Erinnerung gerufene SPIEGEL-Bild von 1989 als abwegig und komplett irreführend. Die REPs von damals als Partei mit der AfD heute gleichzusetzen, wäre falsch, auch wenn es Schnittmengen gibt, über deren Größe wir (noch) keine Daten haben. Aber eines ist klar. Wenn es damals ein Drittel Westbürger gab, die „dem bundesdeutschen politischen System ablehnend gegenüber“ standen, sollte sich jeder hüten, heute mit dem Finger auf Ostbürger als systemfeindlich zu zeigen. Und wie die vor allem mit der CDU Unzufriedenen sich Ende der 1980er von ihr ab- und den REPs zuwandten, tun es nun die mit CDU und anderen Unzufriedenen heute – sonst gäbe es die Erfolge der AfD nicht (und die wesntlich kleineren der FDP).

Noch einen Denkanstoß für Politik und Medien enthält der SPIEGEL von 1989 als Ergebnis seiner drei großen Studien: „Die Anhänger der Republikaner sind politisch interessierter als die Durchschnittsdeutschen.“ Mit Politikverdrossenheit hatten die Ergebnisse der REPs damals nichts zu tun und haben die Ergebnisse aller Parteien heute nichts zu tun, sondern mit der Unzufriedenheit über die Politik der Regierungsparteien wie der nicht opponierenden Opposition und dem Protest dagegen. Ein heute wie damals großer Teil der Wahlberechtigten bleibt der Wahl fern und stellt inzwischen schon traditionell die größte „Partei“ der Nichtwähler. Politik wie Medien ignorieren diese große Reserve chronisch, die bei zunehmender Polarisierung bei jeder kommenden Wahl – von niemandem beachtet – ganz plötzlich zu völlig unerwarteten Ausschlägen bei den Wahlergebnissen führen kann: sicher nicht zugunsten von Union, SPD und Grünen.

Der 3. Oktober wird als Tag der Einheit nie in die Herzen der Bundesbürger in Ost, West, Nord und Süd einziehen, weil er nur in der Erinnerung von politischen Chefbürokraten etwas bedeutet, die 1990 ihre Unterschriften unter einen Vertrag setzten, bei dem nicht nur das Volk, sondern auch die Parteien kein Wort mitzureden hatten.

Der SPIEGEL-Bericht von 1989 kann uns lehren, dass wir es mit keiner neuen Qualität von Problemen zu tun haben.

Dass sie in einer neuen Quantität wiederkehren, sollte lehren, dass die politischen Chefbürokraten von heute – selbst mit Unterstützung der Mehrheit der Meinungsführer-Medien – die tatsächlichen Probleme mit dem Vorschlaghammer des Ignorierens der sich täglich deutlicher abzeichnenden Mehrheits-Bürgermeinung nicht lösen werden. Ich weiß, das wird trotzdem weiter versucht. Aber vielleicht fangen qualifizierte Minderheiten an, über intelligentere Wege nachzudenken.

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