Nur bedingt kriegstauglich

Eigentlich möchten viele Soldaten keine Soldaten auf der anderen Seite erschießen, sondern würden sich lieber gütlich einigen. Erst recht, wenn sich Brüdervölker gegenüberstehen, die in Kultur, Sprache und Glauben zusammengehören.

Der Leutnant kommt am Abend zu seinen Soldaten und spricht mit energischer und ernster Stimme: „Morgen beginnt unsere große Frühjahrsoffensive. Das wird die Entscheidungsschlacht. Da geht es Mann gegen Mann.“ Da meldet sich der Soldat Fred und bittet: „Leutnant, könnten Sie mir den Namen meines Mannes sagen, gegen den ich kämpfen muss. Vielleicht kann ich mich gütlich mit ihm einigen.“ Die Interessen der Regierung in einem Krieg sind nicht unbedingt die Interessen des einzelnen Soldaten.

Die ukrainische Regierung hat die höchsten Tugenden aus der Schublade geholt. So hören wir aus Kiew: „Wir kämpfen gegen einen bestialischen Aggressor unerschütterlich für das Überleben unseres Landes, für Gerechtigkeit, für Freiheit und für Demokratie.“ Annalena Baerbock betont, dass in der Ukraine der Westen mit seinen Werten auf dem Spiel steht. Unsere Sicherheit wird nicht nur am Hindukusch, sondern auch im Donbass verteidigt. Darum muss die Ukraine „diesen Krieg gewinnen, und die Ukraine wird diesen Krieg gewinnen“ (Christian Lindner).

Natürlich hat auch Putin große Worte auf seine Fahnen geschrieben. Putin redet von Liebe, von Nächstenliebe zu den Menschen im Donbass, denn „wir haben kein moralisches Recht, uns nahestehende Menschen den Henkern auszuliefern, damit diese sie zerreißen“. Und Putin redet von Notwehr und Freiheit: Russische Soldaten kämpfen heroisch zum Schutz der territorialen Integrität Russlands „gegen die aggressive Politik westlicher Eliten, deren Ziel es ist, unser Land zu schwächen, zu spalten und letztlich zu zerstören … Die Bürger Russlands können sicher sein, dass die territoriale Integrität unseres Heimatlandes, unsere Unabhängigkeit und unsere Freiheit mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gewährleistet werden … Ich glaube an Ihre Unterstützung.“ Erstaunlich, mit was für edlen Werten selbst der schäbigste Krieg geheiligt werden kann. Und erstaunlich, wie einträchtig sich die Massen hinter dieses Narrativ versammeln.

Doch einige Soldaten an den Front sehen die Dinge weit nüchterner: „Ich will einfach nur durchkommen. Und zurück zu meiner Familie. Ich hoffe, dass unsere kleine Wohnung nicht zerstört wird.“ Martina Wasserloos-Strunk, Präsidentin der europäischen Sektion der Weltgemeinschaft der reformierten Kirchen, berichtet nach einer Reise in die Ukraine, dass die Wahl zwischen Selenskyj und Putin „für viele Ukrainerinnen und Ukrainer eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera ist … Die Begeisterung und den Willen zum Sieg habe ich dort nicht gefunden – mag sein, dass ich nicht an den richtigen Orten war, aber ich habe nur Menschen gefunden, die schon jetzt vieles verloren haben und die noch mehr verlieren werden.“

Ich hoffe, dass auch auf russischer Seite gegen alle Propaganda diese menschliche Stimme des grundlegenden Zweifels am Sinn des Krieges wächst. Muss dazu erst die Hoffnung auf einen Siegfrieden elendig im Blut der eigenen Kinder ertrinken?

Eigentlich möchten viele Soldaten keine Soldaten auf der anderen Seite erschießen, sondern würden sich lieber gütlich einigen. Erst recht, wenn sich Brüdervölker gegenüberstehen, die in Kultur, Sprache und Glauben zusammengehören. Es braucht massive Kriegspropaganda, wenn man Männer und Frauen zum Abdrücken bringen möchte. Staatlich kontrollierte Medien müssen den Menschen unaufhörlich einhämmern: „Der Gegner ist so schlecht und böse, dass man sich nicht gütlich mit ihm einigen kann. Und obendrein wäre es Hochverrat an den eigenen noblen Kriegszielen, wenn man sich gütlich einigen würde.“ Ohne perfide Propaganda, die den Gegner konsequent entmenschlicht, ist Krieg nicht zu machen.

Ich mag den mutigen Fred, der nur bedingt kriegstauglich ist. Er tritt aller Propaganda, allem Kriegskollektivismus und aller Staatsgläubigkeit entgegen. Als kleiner, unbedeutender, einzelner Mensch erhebt er seine Stimme, naiv, individualistisch. Und doch schaut er tiefer und weiter und sieht auch den kleinen Soldaten auf der anderen Seite. In der Perspektive des einzelnen leidenden Menschen erfährt der Krieg die stärkste Infragestellung seiner Sinnhaftigkeit.

„Leutnant, können Sie mir bitten den Namen meines Mannes sagen, gegen den ich kämpfen muss. Vielleicht kann ich mich gütlich mit ihm einigen.“

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Kommentare ( 9 )

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verblichene Rose
11 Monate her

Sehr geehrter Herr Zorn. Glauben Sie wirklich, dass es nur diese einzige Front gibt? Eine Front, an der ein „Fred“ darüber nachdenkt, keinen Feind erschiessen zu müssen, wenn er nur seinen Namen kennen würde, auf dass er dann mit ihm verhandelt? Nun, dann muss ich Ihnen leider sagen, dass es an der „Front“ meistens bereits zu spät für Verhandlungen ist. Die erfolgen nämlich immer erst, wenn BEIDE, nämlich Fred und Paul tot im Schützengraben liegen. Nun, es schadet zwar nicht, wenn es mehr Freds geben würde, aber der „Krieg“ hat sich bereits so weit in unser aller Leben gefressen, dass… Mehr

Steve Acker
11 Monate her

„Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.“ — Erich Maria Remarque

F.Peter
11 Monate her

Natürlich sind es immer die Interessen von einigen Wenigen, denen aus Macht- und Geldgier jedes Opfer recht ist, sofern es nicht sie selbst betrifft! Der sogenannte kleine Mann denkt da zwangsläufig anders, weil nämlich er es ist, der die Opfer zu bringen hätte.
Dennoch ist unverständlich, wieso dieser dann genau immer die Figuren mit der Macht betraut, die am wenigstens daran interessiert sind, sich für seine Interessen einzusetzen!

Andreas aus E.
11 Monate her

Schöne Geschichte mit dem Soldaten Fred.

Axel Fachtan
11 Monate her

Die westlichen Werte stehen auf dem Spiel. Ach so.
Wenn Russland in der Ukraine gewinnt, dann darf Biden Deutschland nicht weiter die Energieversorgung wegsprengen.
Und er darf auch keine neuen Irakkriege mit 500.000 Toten befehligen.
Und er darf auch nicht mehr weltweit durch Militärputsch gewählte Regierungen beseitigen.
Was da nicht alles an westlichen Werten auf dem Spiel steht.
Erst killt der verdeckte Staat JFK. Dann fangen die USA den Krieg in Vietnam ein und die Waffenindustrie macht prima Umsätze. Bomben und Granaten sind nicht dazu da, herumzugammeln. Die müssen eingesetzt werden.

Deutscher
11 Monate her

Vor mehreren Monaten schrieb ich bereits an verschiedenen Stellen, dass die Ukrainer in einigen Jahren dem Westen vorwerfen werden, sie in einen Stellvertreterkrieg gehetzt und mit Waffenlieferungen den Krieg verlängert zu haben. Sie werden beklagen, dass ihre Söhne, Brüder und Väter für uns gestorben sind – und sie werden Wiedergutmachung in Milliardenhöhe fordern!

Diese Woche las ich zum ersten mal irgendwo, dass Ukrainer dem Westen die Schuld am Krieg geben…

giesemann
11 Monate her

Ja, es ist eine Schande, was da abläuft. Orthodoxe werden von Orthodoxen, also Rechtgläubigen überfallen, massakriert. Fast wie schon immer, erinnere nur an die 30-Jährigen 1.0 von 1618 – 48 und 2.0 von 1914 – 45. Irgendwie ist das Christentum nicht so ein Renner?

achijah
11 Monate her
Antworten an  giesemann

Der christliche Glaube spielt in diesem Krieg nun wirklich eine sehr sehr untergeordnete Rolle. – Ist mal wieder höchstens Blinddarm der Politik.

Markus Termin
11 Monate her
Antworten an  achijah

Was den Glauben betrifft, mag das stimmen. Was die Kirchen betrifft, definitiv nicht. Der Krieg findet ungefähr auf der Trenn-Linie orthodox/katholisch statt. Plus: die Gabel in der Ukraine-Flagge hat eine merkwürdige Geschichte. Selbstverständlich hätten beide Kirchen die Macht, zusammen oder getrennt entschieden Frieden zu fordern. Das hätte einiges Gewicht. Und ich meine hier nicht die halbherzigen Sprüche des Jesuiten-Papstes mit den shareholder-value Interessen im background. Stattdessen segnen sie – wie immer schon – Waffen.