Danke für die Unzufriedenheit

Zufriedenheit gilt allgemein als wertvolle Charaktereigenschaft. Dabei hat auch die Unzufriedenheit gute und wichtige Seiten. Krisen und Unzufriedenheit sind der Humus, auf denen etwas Neues entstehen kann.

Ich besuche einen 70-Jährigen zum runden Geburtstag. Ich frage das Geburtstagskind: „Sind Sie ein zufriedener Mensch?“ Eigentlich erwarte ich eine bejahende Antwort. „Zufriedenheit ist eine Zier“ – so mögen es Pfarrer in der himmlischen Reinheit von Frieden, Freude, Eierkuchen.

Doch das Geburtstagskind gibt mir eine erfrischend freche Antwort: „Zufriedenheit? Das ist für mich gar nicht erstrebenswert. Das hört sich so satt an. So unbeweglich. So nach Biedermeier. Ich will lieber unzufrieden sein. Über meinen Fitnesszustand. Über Missstände im nahen und weiten Umfeld. Ich will mich aufrütteln und durchrütteln lassen. Für Zufriedenheit bin ich noch viel zu jung und zu lebendig.“ Was für eine querdenkerische Lebendigkeit, die man provozierend so zuspitzen könnte: „Zufriedenheit ist der Anfang allen Übels.“

Frank-Walter Steinmeier ist zufrieden und klopft sich selbstgewiss auf die Schulter: „Ja wir leben heute im besten Deutschland, das es jemals gegeben hat. Wir Glückskinder in der Mitte Europas.“ Erich Honecker mag das 1988 mit der DDR ähnlich gesehen haben. Auch der babylonische Herrscher Nebukadnezar (640-562 vor Christus) war durch und durch mit sich und seiner Politik zufrieden. „Ich, Nebukadnezar, hatte Ruhe in meinem Hause und lebte zufrieden in meinem Palast“ (Daniel 4,1). Das scheint den Machthabenden seit Jahrtausenden eigen zu sein, dass sie aus ihren Elfenbeintürmen zufrieden auf die Welt herabschauen. Indirekt machen sie dabei allen Menschen ein schlechtes Gewissen, die es wagen, das grundlegend anders zu sehen.

Doch in der Bibel wird Nebukadnezar von Gott in seiner Sattheit nicht gestärkt. Im Gegenteil: Gott „erschreckt“ Nebukadnezar durch einen Traum (Daniel 4,2), in dem ihm der baldige Untergang des babylonischen Reichs vorhergesagt wird (Daniel 4,7-11).

Der Soziologe Niklas Luhmann hat herausgearbeitet, dass sogar konfliktfreudige Menschen eine innere Tendenz haben, im tiefsten Herzen ebenfalls Harmonie und Ausgeglichenheit erreichen zu wollen. Es braucht wohl beinahe göttliche Kräfte, eine gesunde Unzufriedenheit angesichts von Missständen aufrechterhalten zu können. Bereits am 17. Juni 1953 beim Arbeiteraufstand oder spätestens beim Mauerbau 13. August 1961 war überdeutlich, dass das sozialistische Experiment DDR fundamental gescheitert war. Doch menschliche Anpassung an das eigentlich Unannehmbare hat die DDR noch weitere 28 Jahre am Leben erhalten. Die menschliche Fähigkeit, sich auch in kranken Systemen mehr oder weniger zufrieden einzurichten, wird zum Opium des Volkes. Vielleicht braucht es gegen dieses menschliche Opium eine neue theologische Betrachtung des Friedens mit Gott, der die Gläubigen stärkt, Unzufriedenheit gegen alle Beschönigungstendenzen durchzuhalten.

Ich danke allen Menschen, die 1989 unzufrieden mit den Zuständen in der DDR waren und die dadurch Neues möglich gemacht haben.

Ich danke allen Menschen, die heute unzufrieden sind mit den Medien, wenn diese allzusehr mit den Regierenden kuscheln. Durch diese Unzufriedenheit ist die Medienlandschaft wohltuend in Bewegung geraten.

Ich danke allen Menschen, die damit unzufrieden sind, dass Herbert Grönemeyers irre Utopie Wirklichkeit geworden ist: „Kinder an die Macht. Sie berechnen nicht, was sie tun“. Und wenn der Verwaltungswissenschaftler Stephan Kohn in der Coronazeit trotzdem die Kosten berechnet hat, dann ist er von seinem Dienst suspendiert worden.

Ich danke allen Menschen, die mit dem Zustand in unserem Land mit dem Blick auf Bildung, Gesundheit, Infrastruktur, Deindustrialisierung, Meinungsfreiheit, Kriegstreiberei, Corona-Aufarbeitung, Staatsquote, Rentensystem, Migration, Energiewende, EZB-Geldmengenausweitung, EU-Bürokratismus, Politisierung der Judikative, Instrumentalisierung des Verfassungsschutzes etc. unzufrieden sind.

Krisen und Unzufriedenheit sind der Humus, auf denen etwas Neues entstehen kann. Lassen wir uns nicht von anderen einreden, worüber es erlaubt ist, unzufrieden zu sein. Reden wir uns nicht selber ein, dass Bravsein besser sei als Unzufriedenheit.

Geborgen in Gott dürfen wir gerne ein paar Portionen unzufriedener und frecher sein. Aber nicht, um der Unzufriedenheit willen. Es geht darum, wie in der Mathematik ein positives Pluszeichen vor unsere Klammer der Unzufriedenheit zu bekommen, wodurch auch der Inhalt der gesamten Klammer positiv wird. Wie bei dem 70-jährigen Geburtstagskind wird dann die Unzufriedenheit für ein Zeichen der Lebendigkeit und Jugendlichkeit. Und wenn wir mit unserer Unzufriedenheit in den Spiegel schauen, dann können wir zufrieden sein, dass wir nicht gute Miene zum bösen Spiel machen.

So sagen mir die weisen Alten im Altenheim: „Zufriedenheit ist eine Zier. Doch weiter kommt man ohne ihr.“ Die Senioren wissen: Wer seine Unzufriedenheit nicht äußert, der kann beim wöchentlichen Duschen angesichts des Pflegenotstandes schon mal übersehen werden.

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Kommentare ( 14 )

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Retlapsneklow
2 Monate her

Politische Unzufriedenheit ist eine Partie mit Gegner, wo Unzufriedenheit vice versa besteht.

Wer nur an sein eigenes Anliegen denkt und auch sonst die Augen fest verschlossen hält, hat diese Erfahrung freilich nie gemacht.

Retlapsneklow
2 Monate her

« Krisen und Unzufriedenheit sind der Humus, auf denen etwas Neues entstehen kann. »

Das denken die Linken wohl auch.

Unzufriedenheit kommt von allein, Zufriedenheit hat Mühe gemacht.

Jetzt mal logisch: Wenn Unzufriedenheit so eine gute, voranbringende Sache ist, dann kann es nicht verkehrt sein, wenn die Politik unzufrieden macht. Danke dafür?

Die Komplexität von Gefühlen erfordern doch noch tiefere und breitere Analysen…

Apropos: Es gibt nicht nur Gratismut. Es gibt auch Gratisdank, für den andere etwas tun sollen.

Peter Pascht
2 Monate her

„Zufriedenheit gilt allgemein als wertvolle Charaktereigenschaft.“ ???? „wertvolle Charaktereigenschaft“, bei Menschen oder bei Schafen ? 😉 Wie kommt man auf so eine typisch deutsche Plattitüde ? Denn unzufriedene Menschen sind immer so unartig 😉 gegen weltliche und nichtweltliche Autoritäten 😉 Denn unzufriedene Menschen sind immer so nicht unterwürfig 😉 Sie grüßen dann z, Bsp. den Gesslerhut nicht 😉 oder verweigern sogar die feudalen Abgaben 😉 oder verweigern ganz „frech“ unartig die Reverenz vor weltlichen und geistigen Autoritäten 😉 Zufriedenheit ist ein subjekttiver Aspekt des menschlichen Wohlbefindens. Es beruht auschließlich auf subjektivem menschlichem Empfinden, eigenes Empfinden oder Empfinden durch andere, und… Mehr

Last edited 2 Monate her by Peter Pascht
Laurenz
2 Monate her

Ja, Herr Zorn, dann schneiden wir doch mal die alten Zöpfe ab & Sie hängen Ihre Soutane an den Nagel. Nach 2.000 Jahren völligen Mißerfolgs dürfen wir mit Ihrer Profession unzufrieden sein & sie dahin schicken, wo sie herkam. Return to sender, address unknown, no such number, no such zone. We had a quarrel, a lover’s spat. You write I’m sorry, but Your letter keeps coming back.

achijah
2 Monate her
Antworten an  Laurenz

Sorry, ich finde das Leben Jesu und das Neue Testament, basierend auf dem Alten Testament, einen völligen Erfolg. Dafür stehe ich gerne mit und ohne Talar ein.

Retlapsneklow
2 Monate her
Antworten an  achijah

Worin besteht der „völlige“ Erfolg, und in welche Richtung läuft es schon seit langer Zeit weiter?

Wenn es denn ein völliger Erfolg gewesen sein soll, warum dann Unzufriedenheit gepredigt?

Andreas Meier
2 Monate her
Antworten an  Retlapsneklow

Jesus sagt:“Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ Joh18,36 und „riesige Menschenmenge, so groß, dass niemand sie zählen konnte. Sie standen vor dem Thron“ Off7,9. Das ist der Erfolg, aber ich merke, daß ein Atheist das nicht verstehen kann. Aber es ist Liebe, und Liebe ist freiwillig. Wer nicht will, der findet es nicht.

Retlapsneklow
2 Monate her
Antworten an  Andreas Meier

Warum lassen Sie nicht den Angesprochenen auf meine Fragen antworten, Herr Meier? Unter einem vollen(!) Erfolg stelle ich mir gerade in religiöser Hinsicht etwas anderes vor als Abzählungen.

Was ist mit der Entwicklung bis heute und darüber hinaus? Gibt es dazu nichts zu sagen? Ich darf erinnern, es ging um Unzufriedenheit(!) und sogar den Vorschuss-Dank dafür, sprich Aufforderung. Liebe? Voller Erfolg? Das verstehen Sprücheklopfer wohl nicht.

notabene
2 Monate her

Herzlichen Dank für das Wort zum Sonntag. Ich warte jeden Samstagabend darauf, weil es mich immer zum Nachdenken anregt und vor allem; seelisch berührt. Dass ich sowas mal schreiben würde – das hätte ich bis vor etwa 10 Jahren nicht für möglich gehalten. Aber seitdem hat sich so unfassbar vieles (!) verändert und dadurch auch meine Rückbesinnung auf das Wesentliche und Wahrhaftige.

Gabriele Kremmel
2 Monate her

„Den Fortschritt verdanken wir den Nörglern. Zufriedene Menschen wünschen keine Veränderungen.“ (H. G. Wells)

Retlapsneklow
2 Monate her
Antworten an  Gabriele Kremmel

Zufriedene Menschen brauchen keine Veränderungen. Klagen wir nicht ständig, weil uns Veränderungen vor die Nase gesetzt wurden, weil es Unzufriedene gab, die sich diese Veränderungen wünschten?

Waldschrat
2 Monate her

Ich glaube, das Eine bedingt das Andere. Gibt es Zufriedenheit ohne Unzufriedenheit, gibt es Unzufriedenheit ohne Zufriedenheit? Man kann, mit etwas Toleranz, mit sich im Reinen sein und einen gewissen Zustand der Zufriedenheit erleben. Das schließt aber nicht aus, dass man mit seinem Umfeld, mit bestimmten Sachverhalten zufrieden sein muss. Dagegen anzugehen und versuchen, die Unzufriedenheit „aus der Welt“ zuschaffen, vielleicht auch mal einen Erfolg zu spüren, fühlt man für einen Moment oder eine Weile Zufriedenheit. Klappt etwas nicht, ist man für den Moment oder eine Weile unzufrieden, ohne aber seine eigene innere allgemeine Zufriedenheit in Frage zu stellen. Das… Mehr

Kassandra
2 Monate her

Machthabenden? Ich mag Abstand halten zu solchem und nun schreiben Sie solche Worte?
Im Islam ist das allerdings nicht der Fall, denn die dürfen erst zufrieden sein, wenn die Umma der Alleingläubigen erreicht ist.

Laurenz
2 Monate her
Antworten an  Kassandra

Volker Pispers drückte das klar aus, Muslime nehmen Ihren Glauben ernst. Bei Katholiken (& Protestanten) unvorstellbar. Im 18. Jahrhundert brannten die letzten Hexen bei uns, in Polen im 19. Jahrhundert. Seitdem hat Pispers Recht. Außerdem scheiterte dieser Jesus als Prophet völlig. Kündigte seine baldige Wiederkehr an & hat bis heute verschlafen. Deswegen sind die Juden auch der Meinung, daß so ein Hanswurst nicht der Messias sein kann. Ben Gurion ist quasi der Jüdische Messias.