Wolfgang Schäuble wünscht sich angepasste Bürger

Vordergründig geht es in Wolfgang Schäubles jüngstem Zeitungsaufsatz um nationale Identität und das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen. Doch dann offenbart der Parlamentspräsident, was er von den Deutschen in Ost und West erwartet: Anpassung.

John MacDougall/AFP/Getty mages

Wolfgang Schäuble ist nicht nur der dienstälteste Spitzenpolitiker der Republik – und wohl neben der Bundeskanzlerin auch der gerissenste. Der Bundestagspräsident erweist in diesen Tagen erneut sein Talent zur hintergründigen Rede. Nicht von der Kanzlerin, sondern von Schäuble erfahren Bürger, wenn sie es denn wissen wollen, was die politische Klasse mit ihnen vorhat. 

Zunächst war da, pünktlich zum Weihnachtsfest, die Ansage: „Es gibt Klimaschutz nicht zum Nulltarif“. Die Klimaschutz-Maßnahmen der Bundesregierung sollten den Menschen nicht „als soziale Wohltat“ verkauft werden. Aber: „Wir haben in der Geschichte viel größere Herausforderungen bewältigt“. Das ist für die Berliner Republik der späten Merkel-Ära in etwa das, was zu Winston Churchills Zeiten eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede war. 

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Nun hat der protokollarisch zweite Mann im Staat eine noch viel raffiniertere Aufforderung an die Bürger ausgesendet. Auf den ersten Blick ist Schäubles Gastbeitrag für die „taz am Wochenende“ vor allem Balsam für die Seele der Ostdeutschen – verbunden mit etwas Bildungshuberei über nationale und europäische Identität samt Fukuyama- und Lilla-Zitaten.

Aber die wichtigste Botschaft des Textes betrifft alle Deutschen. Die Ostdeutschen sollten nämlich „selbstbewusst darauf (zu) verweisen, den Menschen im Westen eine wertvolle Erfahrung vorauszuhaben: die Anpassung an massive gesellschaftliche Umwälzungen.Es würde nachhaltig zur inneren Einheit beitragen, angesichts der Zumutungen von Globalisierung und Digitalisierung, die vor den westlichen Gesellschaften nicht haltmachen, diesen Erfahrungsvorsprung gesamtgesellschaftlich zu erkennen und gemeinsam zu nutzen.“

Klingt wie ein Kompliment. Aber ist es das wirklich? Soll Anpassung wirklich als Quelle für Selbstbewusstsein herhalten? Offenbar wünscht sich Schäuble das. Die wirkliche, bleibende historische Leistung der ostdeutschen Bürger bleibt bei Schäuble unerwähnt: nämlich den Fall des DDR-Regimes mit herbeigeführt zu haben. Daran erinnert Schäuble nicht. Daraus sollen seiner Ansicht nach die Ostdeutschen wohl auch nicht ihren spezifischen landsmannschaftlichen Stolz ziehen.

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„Anpassung“ soll also nach Schäubles Wunsch ihre „wertvolle Erfahrung“ gewesen sein, Anpassung an Umwälzungen, nicht das Umwälzen selbst. Und daraus muss man wohl den Schluss ziehen, dass Schäuble auch jetzt dasselbe von seinen Bürgern in Ost und West erwartet: Anpassung an etwas, das nicht selbst hervorgerufen und nicht mitbestimmt ist. 

Nicht der selbstbewusste, politisch mitbestimmungswillige und -fähige Bürger, nicht die Demonstranten von 1989, sondern die angepassten und sich anpassenden Ostdeutschen sollen also unser aller Vorbild sein. Leute wie, nun ja, Leute zum Beispiel wie eine gewisse Angela Merkel, die nicht gegen die SED-Herrschaft demonstriert hatte, sondern sich erst, als die Diktatur schon zusammengebrochen war, nach einer politischen Karrieremöglichkeit umsah und beim Demokratischen Aufbruch fündig wurde.

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Kommentare ( 143 )

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Peter Gramm
4 Jahre her

das Problem unserer Gesellschaft sind Politopas wie Schäuble, Brock, u.a.m.. Zwei Legislaturen wären genug. Das Festkrallen an wie auch immer gearteten Ämtern tut der Gesellschaft nicht gut. Solche Leute verlieren mit der Zeit den Kontakt zur Bevölkerung und vor allem deren Problemen. Sie leben in ihrer Blase und sind der Meinung so ist das Leben. Konsequenzen für deren Fehleinschätzung müssen sie ja nicht tragen. Die Kosten für ihr Tun werden dem Steuerbürger aufgeladen. Da lebt es sich halt leicht. Zu lange in der Politik verdirbt den Charakter. Das permanente Hauen aund Stechen im Politikbetrieb färbt ab.

anita b.
4 Jahre her

Mir kommt alles was von Schäuble kommt immer als reiner Zynismus vor.
Es macht ihm irgendwie Freude ganz hintergründig seiner Verachtung der Menschen Ausdruck zu geben.

Perlentaucher10
4 Jahre her

Angepasste Bürger? Die hat er doch schon.

caesar4441
4 Jahre her

Auch Schäuble wird bald nicht mehr dabei sein.

Amerikaner
4 Jahre her

Ich würde mir eine Politik wünschen, die sich dem Bürger/Souverän anpasst. Nicht umgekehrt. Zeigt aber auch nur wie denen die Koordinaten verrutscht sind.

Hasselrodt
4 Jahre her

Schäubles Denken lässt sich – wie so viele andere politische Schattierungen am besten mit WUTOP beschreiben. Ein neuer Begriff, der gestern in der Epoch Times und einen Video des parteilosen Landtagsabgeordneten in Baden-Württemberg, Dr. med. Fiechtner, vorgeschlagen wurde. Er hat sich etwas getraut, was bisher noch kein Politiker getan hat: Er präsentiert gestische Lesungen aus einer Neuerscheinung, in welcher er sowohl die neuen Thesen als auch die politisch korrekte Gegenpropaganda darstellt.
Sehenswert und hier zu finden: https://youtu.be/80OjigV2P9M

Golfblue55
4 Jahre her

Wissen Sie Herr Knauss, über diesen selbstgefälligen und klugscheissenden alten kranken Mann rege ich mich schon lange nicht mehr auf. Er ist der hinterhältige Wadenbeisser Merkels und ihrer Blockpateienentourage. Ich hoffe auch er wird für das Herunterwirtschaften unseres Landes eines Tages die Quittung bekommen.
Ihnen und allen Foristen ein hoffentlich erträgliches neues Jahr.

kawilger
4 Jahre her

Ich möchte die Rolle der damaligen Bürger der DDR nicht unterbewerten, aber in meinen Augen, haben die DDR- Bürger nur eine Nebenrolle gespielt, um nicht zu sagen sie waren Statisten in einem Demonstrations- Film. Die erste Grenze die überrannt wurde und die Grenzposten standen wie heute ratlos da und sahen dem munteren Treiben ungläubig zu. Und zweitens sollte dieser Film der ganzen Welt zeigen, wie schön Demokratie doch sein kann. Wie glücklich sie doch, alle freuen sich und die ganze Welt sieht zu. Ich sag mal so, das war der Trailer für das, was dann auf uns zu kam. Fazit:… Mehr

Koedoe
4 Jahre her

Kann das Problem nicht darin sehen, dass Schäuble „ostdeutsche Erfahrungen“ bemüht, sondern darin dass er sie mißbräuchlich und irreführend bemüht. Die Ostdeutschen wollten Freiheit, und sie landeten im „Rechtsstaat“. Sie haben es halt ertragen. Man nennt das wohl Resilienz. Doch die Resilienz der Ostdeutschen zum Vorbild für die gewünschte Duldsamkeit gegenüber Klimawahn und „täglich neu auszuhandelndem Zusammenleben“, fürs Stillehalten beim gemolken-werden zu mißbrauchen, das ist die eigentliche Unverschämtheit. How dare you, Mister Schäuble?!? Ihr Politiker greift uns nur deshalb tief in die Taschen, um euch Stimmen zu kaufen bei einem Publikum, dessen höchstes Ziel in größtmöglicher Alimentierung besteht. Glaubt es… Mehr

Dr. Slonina
4 Jahre her

Anpassung an Merkel und ihre mit geradezu krimineller Energie betriebenen Weg der Ausgrenzung einer von 6 Mio. Personen gewählten Partei sowie an andere von ihr so gewünschten Entscheidungen haben ja Herrn Schäuble so lange in gut bezahlter Position gehalten.
Nun meint er, den Deutschen das vergiftete Beispiel der im Zuge der Wiedervereinigung notwendigen Anpassung der Ostdeutschen an westdeutsche Verhältnisse beispielhaft für eine Aufgabe jedweden Widerstands der Bevölkerung gegen die aktuelle linksgrüne Wahnsinnspolitik unserer sogenannten Regierung vorzuschlagen. Was für ein elender Opportunist und Geschichtsfälscher!