Anklage gegen die Stilllegung der letzten drei deutschen Kernkraftwerke

Erstmalig in der Wirtschaftsgeschichte verfügt Deutschland über 
kein tragfähiges Konzept darüber, wie zumindest der Grundlastbedarf an 
elektrischer Energie für Industrie, Verkehr und den Privatsektor in Zukunft gedeckt werden 
soll. Der Autor klagt die Verantwortlichen an wegen „energiepolitischer Antinomie“.

IMAGO / Daniel Kubirski
Eines der drei letzten Atomkraftwerke: Neckarwestheim in Baden-Württemberg Deutschland

Am 15. April 2023 sollen die drei letzten noch in Betrieb befindlichen KKW Isar 2, 
Neckarwestheim 2 und Emsland nach Beschluss der Bundesregierung vom Netz gehen. Es 
bedürfte keines besonderen Kommentars, auf diesen Vorgang hinzuweisen, verfügte 
Deutschland als eines der führenden Industrieländer der Welt mit seinem immensen und 
steigenden Strombedarf über ausreichende Grundlast-Kraftwerke auf Basis anderer 
Einsatzenergien, um die aus der Stilllegung fehlenden Strommengen auszugleichen. Da das 
nicht der Fall ist, sind zurzeit mehrere Solidaritätsbewegungen pro Kernkraft darauf 
gerichtet, kurz vor Toresschluss die Gefahr einer politischen Fehlentscheidung abzuwenden,
 die nicht nur den industriellen Lebensnerv Deutschlands treffen, sondern auch seine 
europäischen Nachbarn nachhaltig in Mitleidenschaft ziehen würde.

Zeit zum Lesen
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Denn die als Energie der Zukunft herausgestellten „Erneuerbaren“, die zurzeit mit 19 
Prozent zum deutschen Primärenergiebedarf beitragen, dürften es weder aus physikalischen 
noch aus ökonomischen und sozialen Gründen schaffen, den deutschen Energiehunger 
heute und morgen allein, das heißt ohne Beiträge fossiler Energieträger und ohne Kernkraft, zu 
decken. Das bedeutet, dass wir erstmalig in unserer Wirtschaftsgeschichte, in der unsere 
Ingenieure eine weltweit als vorbildlich anerkannte Energiewirtschaft aufgebaut haben, über 
kein tragfähiges Konzept darüber verfügen, wie zumindest der Grundlastbedarf an 
elektrischer Energie für Industrie, Verkehr und den Privatsektor in Zukunft gedeckt werden 
soll.

Schon im übernächsten Jahr 2025 droht nach Berechnungen der Beratungsfirma 
McKinsey eine Stromversorgungslücke von 4 Gigawatt, was in etwa der in Volllast laufenden
 Leistung der drei zur Abschaltung anstehenden KKW entspricht.

Ein Schildbürgerstreich, den sich die Regierung eines der (bisher noch) führenden 
Industrieländer der Welt eigentlich nicht leisten sollte. Zumal in Erinnerung an jenes 
überlieferte Missgeschick, als die Schildbürger dessen Gewahr wurden, dass sie beim Bau 
ihres neuen Rathauses die Fensteröffnungen vergessen hatten und im Nachhinein 
vergeblich versuchten, das Sonnenlicht von außen in Säcken in das stockdunkle Gebäude 
zu verbringen. Dessen eingedenk sollte sich die deutsche Bundesregierung davor hüten, im 
Alleingang „fensterlos“ in die Zukunft zu planen, sondern den auf gute Aussicht und helles 
Denken setzenden europäischen Nachbarn zu folgen, die sich bei ihren Energieplanungen 
aus guten Gründen seit langem für die weltweit favorisierte Kernenergie entschieden haben.

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Die meisten EU-Mitgliedsländer können heute mit ansehnlichen Kernenergie-Anteilen an 
ihrer Stromerzeugung aufwarten, wie eine Auswahl zeigt: Frankreich 69 Prozent, Slowakei 
52 Prozent, Belgien 51 Prozent, Ungarn 47 Prozent, Tschechische Republik 37 Prozent, 
Bulgarien 35 Prozent, Finnland 32 Prozent, Schweden 31 Prozent. Die guten Gründe für 
diese gemeinsame Ausrichtung auf die Kernenergie, die unsere Nachbarn mit den 
Industrieländern in aller Welt (inklusive des Fukushima geschädigten Japan) teilen, sind im 
klassischen Dreiklang rationaler Energiepolitik zusammengefasst, nach dem bevorzugt 
Energieträger zum Einsatz kommen sollen, die nicht nur versorgungssicher sowie umwelt- 
und klimaschonend, sondern auch vergleichsweise kostengünstig sind.

So nachvollziehbar das daraus abgeleitete energiepolitische Entscheidungshandeln 
praktisch aller Industrieländer außer Deutschland auch sein mag, den Koalitionspartnern der 
Grünen in der Bundesregierung ist es bisher nicht gelungen, die Partei aus dem Starrkrampf 
ihres Gründungsmythos zu befreien und sie in diesem Punkt zu rationalem Handeln 
umzustimmen. Der Journalist Stefan Locke hat dieses „schwarze Loch“ deutscher 
Energiepolitik im Leitartikel „Erodiertes Vertrauen“ einer führenden Tageszeitung treffend 
beschrieben: „Dass selbst in einer derart angespannten Lage Ideologie noch immer vor Pragmatismus geht, lässt viele Leute schier ratlos zurück.“

In einem Land, das sich zugutehalten darf, zu den Anführern der Aufklärung zu gehören, darf
 in existenziellen Fragen Ratlosigkeit keine Verhaltensnorm sein. Da schuldig beim Tun und 
Unterlassen nicht nur der Handelnde, sondern auch der werden kann, der gravierendes 
Fehlverhalten zulässt, haben die Wohlmeinenden noch einen Pfeil im Köcher. Denn die von 
Stefan Locke angemahnte Glaubwürdigkeit im Regierungshandeln kann in Sachen Energiepolitik als eindeutig verletzt nachgewiesen werden.

Energieversorgung
Polen rüstet sich für die Zukunft – und steigt in Atomkraft ein
Als seit 60 Jahren praktizierender Energiewirtschaftler, der vor 56 Jahren mit einer 
energiewirtschaftlichen Studie an der Hamburger Universität promoviert wurde, mache ich 
mich zum Sprecher unserer Zunft und klage die für die aktuelle deutsche Energiepolitik 
Verantwortlichen an: des Verstoßes gegen das Glaubwürdigkeitsgebot sowie der 
Fahrlässigkeit und Widersprüchlichkeit des politischen Entscheidungshandelns, das ich in 
Kurzform auf den Begriff einer „energiepolitischen Antinomie“ bringe: Während die übrige 
Welt auf Kernenergie setzt, steigen die Deutschen als ihre Erfinder und als anerkannte Erbauer
 der sichersten KKW aus Angst vor ihrer Gefährlichkeit aus, sind aber zur Deckung der 
dadurch entstehenden Energielücke bereit, diese durch Stromimporte aus dem europäischen 
Verbund auszugleichen, wissend, dass sie zu nicht unerheblichen Anteilen aus Atomstrom bestehen.

Bei der Begründung meiner Anklage bin ich in meinem Archiv auf eine Unterstützerin 
gestoßen, die schon vor fünfzehn Jahren im Deutschen Bundestag zu dieser Frage Stellung 
bezog. Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel am 22. Mai 2008:

„Ich halte es nicht für sinnvoll, 
dass ausgerechnet ein Land mit den sichersten Atomkraftwerken die friedliche Nutzung der 
Atomenergie einstellt. Deutschland macht sich lächerlich, wenn es sich dadurch ein gutes 
Gewissen machen will, dass Atom- und Kohlekraftwerke stillgelegt werden und gleichzeitig 
Strom, der aus denselben Energieträgern erzeugt worden ist, aus den Nachbarländern 
importiert wird.“


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Kommentare ( 68 )

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68 Comments
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beko
1 Jahr her

Dass die Nachbarn bzw. beinahe die ganze Welt auf Kernenergie setzt ist die eine Sache. Die Kernenergiegewinnung wird immer sicherer. Es gibt wohl, seit ihrer Existenz/Nutzung, nur zwei wirkliche Unfälle, die durchaus hätten vermieden werden können. Die Atombombenabwürfe auf Hiroschima und Nagasaki hätten auch vermieden werden können – wurden sie aber aus politischen Gründen nicht. Und ich denke, die Tschernobyl-Katastrophe hätte es auch nicht gegeben, wenn die Sowjetunion nicht von den USA sanktioniert worden wäre (Elektronik). Ebenso sprechen für ihre Nutzung, die Verringerung der Strahlungsdauer der Brennstäbe. Zudem wird an der kalten und heißen Kernfusion geforscht. Ein Durchbruch könnte oder… Mehr

Gerhard_F_Mossmayr
1 Jahr her

Vous accusez, Herr Müller-Michaelis? Wohl doch nicht, wie es scheint. Ich mache mich hier jetzt sicher nicht sehr beliebt, aber das ist keine Anklage, das ist Lamentieren. Genau darin besteht unser Grundproblem. Sehenden Auges in den Abgrund und es lametierend zulassen. Ich nehme mich da nicht aus! Den Kipppunkt für dieses Land verzeichne ich bei der Bundestagswahl 2013, als die Merkel-Regierung nach der höchst erstaunlichen Volte der Kanzlerin zur Kernenergie dennoch mit Zuwächsen für die Union bestärkt wurde und in der großen Koalition mündete. Im Nachhinein ist das für mich der point-of-no-return. Das ist jetzt zehn Jahre her und unser… Mehr

beko
1 Jahr her
Antworten an  Gerhard_F_Mossmayr

Gar nicht so falsch oder abwegig, Ihre Kommentaraussagen, Gerhard_F_Mossmayr. Ich denke ähnlich wie Sie bzw. beschäftige mich auch mit diesen Gedanken. Familiäres Umfeld – zumeist taube Ohren. Freundes-/Bekanntenkreis zumeist taube Ohren oder die Aussage: „Na du Spinner!“ Dennoch, ich spreche bei ihnen und wo ich kann – beim Einkauf, beim Friseur, in der Gaststätte, in der Kfz-Werkstatt, im Kundengespräch, wenn möglich – usw. die Tagespolitik an – lustig, mit Spitzen oder „Anstupsern“ untermalt. Leicht bohrend oder so?! Und man glaubt es kaum, von einigen „Rüffeln“ oder notorischen „Rüfflern“ abgesehen – es wird seitens der „Angstupsten“, nicht selten, mit konkreten Antworten… Mehr

swengoessouth
1 Jahr her

Die Grünen Parteien im Bundestag haben gegen die Verlängerung der Laufzeiten der AKWs im Bundestag gestimmt, weil die Atomkraft so gefährlich ist. Gleichzeitig dulden sie, das England abgereicherte Uran Munition in die Ukraine liefert. Im Ex Jugoslawien wurde diese Munition von der NATO eingesetzt und verursacht noch heute noch massenhaft Krebs bei den dort lebenden Menschen. Aber für die Grünen ist dies kein Problem. IRRER geht es nicht mehr.

Astrid
1 Jahr her
Antworten an  swengoessouth

Das Eine ist das Eine und das Andere ist das Andere!!! Ich mach mir die Welt widde, widde, wie sie mir gefällt.

Wolfgang Schuckmann
1 Jahr her

Wer sich mutwillig in Gefahr begibt, kommt darin um. Wer von anderen dazu gezwungen werden kann, hat schon verloren ehe begonnen wurde. Warum ist in diesem Land nicht möglich, was bei Nachbarn die Selbstverständlichkeit bedeutet. Spricht z.B. in Frankreich jemand von Nazis oder anderen Sonderlichkeiten, weil es so richtig raucht im Karton?

chino15
1 Jahr her

Alles gut und allgemein bekannt. Aber werden Sie diese Anklage auch vor Gericht bringen? Eine Grundlage dafür wäre ja das Urteil des Verfassungsgerichtes zum „Klimaschutz“: wie verträgt sich das oberste Ziel des „Klimaschutzes“ mit der Abschaltung der AKW und verstärkter Nutzung der Kohlekraftwerke? Welcher Anwalt mit Sachverstand und Rückgrat wagt es, diese Klage vor’s Verfassungsgericht zu bringen?

Vielfahrer
1 Jahr her

„Dass selbst in einer derart angespannten Lage Ideologie noch immer vor Pragmatismus geht, lässt viele Leute schier ratlos zurück.“ Das ist ja nun beileibe kein energiepolitisches Alleinstellungsmerkmal, sondern zieht sich wie ein roter Faden durch alle Bereiche der deutschen Politik spätestens seit Merkel. Das Land ist restlos durchideologisiert. Das gab es schon einmal – und es endete schlimm.

Unglaeubiger
1 Jahr her

Merkel unterwarf sich den Befehlen der „Mächtigen“, die Kernkraftwerke abzuschalten, Migration etc, ohne wenn und aber, den Psychopathen der „Weltenrettung“. Der Klimahype, so wie er durchs Land gejagt wird, ist nach Corona der größte Schwindel ever, da er nur die Natur und Menschen zerstört, aber kein bißchen dem Klima zu Gute kommt! WARUM? Erpressung? Gekauft? Eingeschüchtert? Wahnsinn? Muss schon etwas Gewaltiges sein, um sich so zu drehen!

Mausi
1 Jahr her

Ich vermisse immer noch einen verständlichen Artikel über das europäische Verbundsystem. Wobei mich der Umbau des Netzes für das Funktionieren in der Zukunft nur insoweit interessiert, als es mit der Abschaffung von Gas, Kernenergie und Kohle Schritt hält. Ich habe es bisher so verstanden, dass es den anderen Ländern gelungen ist, sich vor Ds volatilem Strom zu schützen. Aber wie schaut es mit der Versorgung Ds aus? Aktuell sehe ich, dass D jede Stromerzeugung außer Wind und Sonne abstellen wird, sich deindustralisiert und sich den Rest aus dem Ausland liefern läßt. Wie groß ist die Chance, daß das im europäischen… Mehr

Last edited 1 Jahr her by Mausi
Juergen P. Schneider
1 Jahr her

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel am 22. Mai 2008: „Ich halte es nicht für sinnvoll, dass ausgerechnet ein Land mit den sichersten Atomkraftwerken die friedliche Nutzung der Atomenergie einstellt. Deutschland macht sich lächerlich, wenn es sich dadurch ein gutes Gewissen machen will, dass Atom- und Kohlekraftwerke stillgelegt werden und gleichzeitig Strom, der aus denselben Energieträgern erzeugt worden ist, aus den Nachbarländern importiert wird.“
Da hatte die Dorfkommunistin aus der Uckermark noch alle Tassen im Schrank. Ab 2011 sind sie dann alle nacheinander herausgepurzelt.

H. Priess
1 Jahr her

So lange in einer Doku rotzfrech behauptet wird, daß die Städte um Tschernobyl noch 20 000 in Worten Zwanzigtausend Jahre unbewohnbar bleiben und es Leute gibt die den Blödsinn glauben gibt es keine Änderungen. Angst vor dem Strahlentot kann es ja nicht sein denn sehr viele halten einen begrenzten Atomkrieg zwischen den Ukras und den Russen für durchaus akzeptabel. Ich glaube, es ist die totele Unkenntnis über die Funktionsweise moderner KKWs gepaart mit dem Unwillen darüber etwas zu lernen. Bildungsverweigerung hat ja einen großen Stellenwert bei uns. Vor drei oder vier Jahren gab es bei TE mal einen Artikel über… Mehr