Sturm der Entrüstung über Macron: Der „Impfpass“ spaltet die Franzosen

Mit seinem Interview mit "Le Parisien" hat Macron ganz allein die nächste Stufe des französischen Präsidentschaftswahlkampfes gezündet. Frankreich geht tiefer in die Spaltung, während die Regierungsmehrheit versucht, 2G durchzusetzen. Das Thema überstrahlt derzeit alle anderen, doch wie lange noch?

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Die vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron in einem Interview mit dem Parisien geäußerte „große Lust“, die ungeimpften Franzosen „bis zum Anschlag zu nerven“ (wörtlich „emmerder“, also eigentlich „mit Scheiße zu überhäufen“), haben das gesamte politische Spektrum gegen den amtierenden Präsidenten vereint und aufgebracht. Noch dazu bezeichnete Macron die „Ungeimpften“ als verantwortungslos und deswegen seien sie keine „citoyens“ – das heißt Staatsbürger mit den dazugehörigen Rechten.

Konkret will Macron den „passe sanitaire“ in einen „passe vaccinal“ umwandeln, also die Maßnahmen einführen, die in Deutschland unter „2G“ firmieren. „Wir üben Druck auf die Nicht-Geimpften aus, indem wir, so weit wie möglich, ihren Zugang zum sozialen Leben einschränken“, erklärt er das Kalkül der geplanten Änderungen, die schon zur Monatsmitte in Kraft treten sollen. Es handle sich um eine kleine, widerspenstige Minderheit, die man nur durch zusätzliches „Nerven“ (es ist derselbe Ausdruck wie oben) reduzieren könne. Ein Streit ist auch um die richtige Übersetzung ins Englische entbrannt, den die Nachrichtenagentur mit „piss them off“ löste.

— Richard Carter (@rdcParisAFP) January 5, 2022

Entnervt zeigten sich vor allem die Abgeordneten aller übrigen Parteien von den Worten des Präsidenten – und zwar bei der gleichzeitig stattfindenden Parlamentsdebatte zum Impfpass, also zur französischen 2G-Regelung. Der den Vorsitz führende Parlamentspräsident sah sich gezwungen, die Debatte abzubrechen und auf den Donnerstag zu verschieben. Die Bedingungen für eine ruhige Arbeit seien nicht mehr gegeben gewesen. Mit Verspätung wurde der Impfpass dann doch in der Nationalversammlung beschlossen.

Tatsächlich erntete Macron eine Menge harsche Worte aus den Reihen des Abgeordnetenhauses und der französischen Politik. Damian Abad, der Fraktionsvorsitzende der konservativen Républicains, sprach von „unwürdigen, unverantwortlichen und vorsätzlich gewählten“ Worten, die vom „kindischen Zynismus“ des Präsidenten zeugten. Auch Valérie Pécresse zeigte sich im Interview mit CNews entgeistert: Der Präsident der Republik scheine es nicht zu ertragen, dass Bürger anders denken als er: „Es ist nicht Aufgabe des Präsidenten, die Franzosen in gute und schlechte Bürger einzuteilen.“ Er müsse sie so nehmen, wie sie sind. Die Beleidigung sei nie eine Lösung.

Ähnliche Töne, die in Richtung Mäßigung weisen, kamen aus der sozialistischen Partei, etwa vom Bürgermeister von Mayenne, Jean-Pierre Scornet, der Macron „politischen Zynismus“ zuschrieb: „Ich glaube, dass es die Rolle des Präsidenten ist, die Franzosen zu beruhigen, nicht gegen sie zu opponieren.“ Ein Abgeordneter der linken Partei La France Insoumise warf Macron vor, einen Teil der Franzosen zu beleidigen. Der extrem linke Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon fand die Ansichten Macrons „verblüffend“. Der geplante Impfausweis sei ganz klar eine „kollektive Bestrafung gegen die individuelle Freiheit“. Und diese Kritik muss sich der vorgeblich liberale Macron von einem Linkssozialisten gefallen lassen.

Die Zeit verstreicht, der Bürger bleibt

Marine Le Pen, Parteivorsitzende und Präsidentschaftskandidatin des Rassemblement national (RN), sprach im französischen Parlamentsfernsehen von einer „nie gesehenen Vulgarität und Heftigkeit“ in den Worten Macrons. Die von ihm geplante Politik beginne „eine Art Krieg gegen einen Teil der Franzosen, der gegen kein Gesetz verstoßen hat“. Dem Präsidenten, der eigentlich „der Garant der Einheit der Nation“ sein sollte, warf sie vor, die Nation zu spalten, indem er Nicht- Geimpfte zu Bürgern zweiter Klasse machen wolle. Er begehe aber einen politischen und einen moralischen Fehler dabei. Er sei folglich „seines Amtes unwürdig“. Sie werde ab dem kommenden April „die Präsidentin aller Franzosen“ sein.

Präsidentschaftskandidat Éric Zemmour, der jüngst seine Partei Reconquête gegründet hat, sprach von „der zynischen Aussage eines Politikers“, der auf seine Chance im begonnenen Wahlkampf sehe. Es sei die offen eingestandene Grausamkeit, mit der Macron unter den von ihm verachteten Franzosen herumstolziere. Außerdem wandte Zemmour sich Macron im kritischen Gestus zu: In den fünf Jahren Präsidentschaft habe er es sorgsam vermieden, die Gangs, die Dschihadistenschüler, die illegal Eingewanderten, die Antifas und Ideologen zu nerven. „Feige gegenüber den Starken, grausam mit den Schwachen“, resümiert Zemmour Macrons Haltung.

Die Zustimmung aus seiner eigenen Partei und Regierung erscheint dagegen wie abgesprochen. Der Fraktionsvorsitzende Jean Castaner meinte, die Franzosen hätten die „Freimütigkeit“ des Präsidenten nötig. Dass viele Franzosen Macrons Worte teilen, möchte man dennoch nicht glauben. Für Premierminister Jean Castex ist Macrons Formulierung „vollkommen kohärent“. Allerdings wich er von den Worten des Präsidenten ab, wenn er sagte: „Die Nicht-Geimpften bleiben Bürger, aber man hat Rechte und Pflichten. Man muss verantwortungsvoll und solidarisch sein. Die Zeit verstreicht und macht derlei Verhaltensweisen immer unerträglicher.“

Man kann durchaus fragen, welches Kalkül Macron zu seiner – kaum überraschend – umstrittenen Formulierung greifen ließ. Laut einer Blitzumfrage von BFMTV waren 53 Prozent der Franzosen schockiert von Macrons Aussage (die andere Hälfte hatte vielleicht nichts Besseres erwartet). 68 Prozent der Franzosen wollen nicht in so „familiären“ Begriffen von ihrem Präsidenten angesprochen werden. Wie es scheint, hätte das Interview eigentlich einen Tag später herauskommen sollen, so wird zumindest aus Macrons Partei behauptet. Doch die verfrühte Veröffentlichung machte das Poltern des unsicher gewordenen Präsidenten erst recht deutlich. Macron verzichtet damit schon fast auf seinen Amtsbonus bei den kommenden Wahlen, tritt lieber als Provokateur auf, der nur einen Teil der Franzosen vertritt, vielleicht nicht einmal den.

Auch AFP fragt unsicher: „Fehltritt oder Strategie?“ Die Antwort werden die Umfragen in einigen Tagen geben. Derzeit führt Macron sie noch unbestritten mit um die 25 Prozent an. Der zweite Platz ist heftig umkämpft zwischen Pécresse, Le Pen und Zemmour, mit derzeit leichtem Vorteil für die Kandidatin der Républicains, die nun Nicolas Sarkozys „Kärcher“ für die Vorstädte aus dem Keller holen will: „Man muss die Ordnung auf den Straßen wiederherstellen.“ Eine Antwort auf die „Gewalt der neuen Barbaren“ sei notwendig.

Pompidou verlangte: Hört auf, die Franzosen zu nerven

Dass Macron mit all dem auch auf einen Ausspruch seines Amtsvorgängers Georges Pompidou Bezug nahm, ändert wenig an dem Skandal – es macht ihn eher noch größer. Denn Pompidou hatte sich im Jahr 1966 zornig gegen die politische Klasse seines Landes gewandt und verlangt, die Franzosen nicht mehr zu „nerven“. Macron zitierte ihn, um seine Aussage dann für die Gruppe der Nicht-Geimpften umzudrehen. Wenn er kürzlich erst in einem Interview gesagt hatte, er wolle damit aufhören, die Franzosen zu spalten und zu verletzen, dann hat er in der Tat schlecht Wort gehalten.

Als gewählter Präsident müsste er eigentlich der Repräsentant aller Franzosen sein. Stattdessen inszeniert er sich einmal mehr als zynischer Machtpolitiker mit markigen Sprüchen. Um eines geht es ihm dabei ganz sicher nicht: die Impfunwilligen von den bisher zugelassenen gentherapeutischen Mitteln zu überzeugen. Dann hätte er sie versöhnlicher angesprochen. Doch Macron will lieber Härte zeigen und so die Gegenseite fest auf seine Seite ziehen. Er könnte die Rechnung ohne den unbändigen Freiheitsdrang der Franzosen gemacht haben, die kein Diktat eines wie auch immer gewählten Monarchen auf Zeit akzeptieren werden. Lieber ziehen sie auf die Straßen und in die Rathäuser, picknicken, wo andere in Restaurants sitzen, und stürmen Läden, die ihnen verschlossen sein sollen.

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