Islamkritiker Lee Anderson fliegt aus Tory-Fraktion – geht er zu Reform UK?

Im Vereinigten Königreich spielt sich gerade ein Streit ab, der ganz Europa bevorstehen könnte. Die Islamkritiker werden aus der konservativen Partei aussortiert. Heißt das freie Bahn für Reform UK, die Partei von Nigel Farage? Sie steht bei zehn Prozent und dürfte die Konservativen viele Siege kosten. In Deutschland sieht die Lage ähnlich aus.

IMAGO / SOPA Images
Lee Anderson, London, UK, 6. Februar 2024

In Großbritannien stehen die Konservativen über kurz oder lang vor einer Zerreißprobe. Egal, was der suspendierte Abgeordnete Lee Anderson als nächstes unternimmt, Frieden wird er wohl nicht mehr stiften. Im Hintergrund läuft ein Machtkampf, mindestens seit dem Unterhausvotum zu Sunaks Sicherheit-von-Ruanda-Gesetz, als rechte Rebellen das Scheitern des Entwurfs androhten. Auch Anderson war unter ihnen, konnte aber am Ende nicht gegen seine Regierung stimmen, obwohl er früher selbst bei Labour gewesen war. Kurz zuvor hatte Suella Braverman ihr Amt als Innenministerin zur Verfügung stellen müssen, nachdem sie etwas zu großen Eifer bei der Niederringung der großen pro-palästinensischen Demonstrationen und Umzüge gezeigt hatte. Nun tat Braverman das, was man im Englischen „to double down“ nennt: Sie legte nach.

In einem Gastbeitrag für den Telegraph wiederholte sie unter dem Titel „Islamisten drangsalieren Britannien in die Unterwerfung“ ihre (für London evidente) These, dass muslimische Extremisten und Linksradikale die Straßen Englands übernommen hätten. Man erinnert sich an den Waffenstillstandstag (11. November), an dem eine Belagerung des Cenotaph befürchtet wurde. Es kam schlimmer: Der Slogan „From the river to the sea“ wurde skandiert, Demonstranten forderten die Zerstörung Israels, mit Kufiya (Palästinensertuch) vermummte Mitmarschierer trugen Hamas-Stirnbänder zur Schau.

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Doch für Braverman bezeichnen die seither rhythmisch wiederkehrenden Demonstrationen (fast Konvulsionen) nicht die ganze Tiefe des Problems: Denn daneben werden schon länger Lehrer im Namen der islamischen Gesellschaftsordnung verklagt und drangsaliert. Auch Mike Freer, Staatssekretär im Justizministerium, wurde mit Mord bedroht. Er war durch Pro-Israel-Ansichten zur Zielscheibe für extremistische Muslime geworden. Im Dezember wurde ein Brandanschlag auf Freers Wahlkreisbüro verübt, das machte seine Familie nachdenklich. Freer hat seinen Abschied aus der Politik verkündet. Im Oktober 2021 war der Abgeordnete David Amess in seinem Wahlkreisbüro erstochen worden; der Attentäter Ali Harbi Ali wurde zu lebenslänglich verurteilt.

Verweis auf eine tumultuarische Unterhaussitzung

Da wird das Reden von der „Erfolgsgeschichte des multikulturellen Britanniens“ im Munde schal. In der Tat scheinen die Minderheiten sich nicht wirklich dem Vereinigten Königreich zugehörig zu fühlen, wie die zornigen Demonstrationen der Muslime zeigen. Doch auch die Unterstützung der weißen Bevölkerung für das Projekt eines multikulturellen oder multiethnischen Britanniens scheint langsam zu bröckeln.

Es ist vielleicht eine bedeutende Station in der Debatte über Multikulti à la Britannien, dass inzwischen mit Suella Braverman eine Tochter von außereuropäischen Einwanderern feststellt, dass der Multikulturalismus im Königreich gescheitert ist. Offenbar spricht sich Braverman nicht dagegen aus, dass Menschen mit unterschiedlichen Vorgeschichten, Hautfarben oder Religionen Teil des Landes sein können, wohl aber gegen die Ankunft von Zuwanderern, die am Ende „parallele Leben“ innerhalb der eigenen Gesellschaft leben. Ein Leserbrief in der Financial Times vom letzten Oktober legte seinen Finger tiefer in die Wunde, wenn er rundheraus bestritt, dass Großbritanniens Erfolg als „multiethnische Demokratie“ (Sunak) von seinem Multikulturalismus herrühre. Der Briefschreiber aus Bangkok beharrte darauf, dass es um die Einordnung der Einwanderer in eine bestehende Gesellschaft, die „britische Art zu leben“ gehe. Also eine Leitkultur, der laut dem Opinium-Institut 58 Prozent der Parteimitglieder zustimmen.

Laut Braverman breitet sich der radikale Islam zunehmend in Justiz, Anwaltschaft und an den Universitäten des Vereinigten Königreichs aus, ergreift Besitz von diesen Lebensbereichen. Nun sei er im Parlament angekommen – damit verweist Braverman auf eine tumultuarische Unterhaussitzung, in der der Speaker Lindsay Hoyle (einst für Labour ins Parlament gewählt, doch nun zur Neutralität verpflichtet) eine Abstimmung über einen Labour-Antrag zur Gaza-Politik zuließ, und das entgegen wiederholten Warnungen von der Tory-Seite des Hauses, aber angeblich nach erfolgreicher Beratung (lobbying) durch Labour-Führer Keir Starmer.

Zwingen Islamisten London in die Unterwerfung?

Vorausgegangen war ein Antrag der schottischen Nationalisten von der SNP. Die SNP, derzeit geführt vom First Minister Humza Yousaf (mit pakistanischen Wurzeln), forderte eine sofortige Waffenruhe und die Befreiung aller Geiseln. Schon im November hatte das schottische Parlament in diesem Sinn abgestimmt. Der SNP-Antrag brachte vor allem Labour in Bedrängnis. Starmer, der sich bisher vor einer billigen Anti-Israel-Position gehütet hat, wollte unbedingt über einen „umgehenden humanitären Waffenstillstand“ abstimmen lassen, um eine Rebellion in den eigenen Reihen abzuwenden. Sunak rief in seinem Gegenantrag zu Schritten zu einem „dauerhaften, nachhaltigen Waffenstillstand“ auf. In Schottland ist Labour unter seinem Vorsitzenden Anas Sarwar (auch mit Paki-Hintergrund) ohnehin kompromisslos für einen Waffenstillstand mit der Hamas.

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Derweil versammelten sich erneut tausende Gaza-Unterstützer und Waffenstillstands-Anhänger vor dem Parlament. Mit dem neuen Labour-Antrag hat Starmer seine Position vom November revidiert. Damals war er gegen jeden Waffenstillstand, worauf acht Schattenminister und zwei parlamentarische Sekretäre der Labour-Fraktion zurücktraten, darunter die verbal omnipräsente Jess Phillips (als Schatten-Innenministerin eine englische Nancy Faeser im Wartestand) und einige muslimische Amts- und Würdenträger. Insgesamt lehnten 56 Abgeordnete Starmers Haltung ab und traten folglich von ihren (Schatten-) Ämtern zurück – ein ziemlicher Blutverlust für Starmer. Dabei waren schon im Oktober die Schattenminister für Justiz, Verteidigung und Äußeres aus Protest gegen Starmers Gaza-Politik zurückgetreten. Kehrt der Pro-Palästina-Fügel nun zurück auf die Führungsbrücke von Labour? Zumindest hat er schon einen halben Abgesandten in Starmer. UK

Für Braverman ist die Sache auch so klar genug: Keir Starmer ist gefallen und mit ihm Labour. Zudem habe Starmer den Speaker gekapert und so dem Parlament geschadet: „Das ist das Verhalten von Tyrannen. Man stellen sich nur vor, was Starmer als Premier tun würde.“ Daneben ist für Braverman das Gesamtbild eindeutig: „Die Wahrheit ist, dass die Islamisten, die Extremisten und die Antisemiten jetzt das Sagen haben. Sie haben die Labour-Partei drangsaliert, sie haben unsere Institutionen bedrängt, und jetzt haben sie unser Land in die Unterwerfung gezwungen.“ Nichts anderes sollte auch Lee Anderson kurz danach in eigene Worte kleiden. Das Verdikt ist ernst, selbst wenn man annehmen kann, dass Braverman Houellebecq gelesen hat und Buch und Titel „Soumission“ hier etwas für ihre politische Rhetorik ausbeutet.

Es drohen informelle Blasphemie-Gesetze

Die „erfolgreiche multikulturelle Gesellschaft“, von der viele im Königreich gerne schulterklopfend reden, kann Braverman nicht erkennen. Aber die politische Führung des Landes sei in panischer Angst vor Rassismusvorwürfen befangen. „Der massenhafte Extremismus paradiert stolz auf unseren Straßen, die Universitäten bleiben gefährliche Orte für Juden, und die Labour-Partei ist immer noch durch und durch verrottet.“ Braverman selbst spricht vom 7. Oktober als dem „Angriff eines islamistischen Todeskultes auf einen unserer engsten Verbündeten“. Nun warnt sie vor Angriffen auf das Anti-Terrorprogramm der Regierung mit dem Namen „Prevent“. Denn auch das Programm, das Terror-Schläfer aufspüren und neutralisieren soll, wird als „islamophob“ und „rassistisch“ angegriffen (ähnlich wie eine geplante Meldestelle für religiöse Vorfälle an Berliner Schulen). 75 Prozent der Ermittlungen des Geheimdienstes MI5 befassen sich mit islamischem Terrorismus, doch unter den Prevent-Fällen machen „Islamisten“ heute nur elf Prozent aus, bei sinkender Tendenz. Die Ex-Innenministerin dürfte wissen, wovon sie spricht. Sie scheint ein großes Sich-Wegducken und Wegschauen in Bezug auf den radikalen und terroristischen Islam zu erkennen, das auch andere Beobachter beschreiben: In Frankreich weist man radikale Imame aus, wenn man kann, in England scheint das ausgeschlossen.

Handlungsbedarf sieht Braverman auch beim Einsatz gegen die Einführung von Blasphemie-Gesetzen „durch die Hintertür“. Lehrer dürften nicht aus ihren Schulen vertrieben werden, wenn sie Bilder oder Karikaturen Mohammeds zeigen, Kinder nicht getadelt werden, wenn sie versehentlich einen Koran anstoßen oder fallen lassen. Kritik an den verschiedenen Religion sei vollständig legal im Vereinigten Königreich und dürfte nicht kriminalisiert werden.

Khan als das freundliche Gesicht des Islams

Sie selbst sei als Ministerin entlassen worden, weil sie sich gegen eine Politik der Beschwichtigung (appeasement) gegenüber dem „Islamismus“ gestellt hatte. Doch Braverman will an diesem Punkt standhaft bleiben. Diesen von Fakten unterfütterten, zum Teil auch schon zuspitzenden Beitrag hat Lee Anderson, bis zum neuen Ruanda-Gesetz auch Vizeparteichef der Tories, im Nachrichtenkanal GB News kommentiert und sich daran die Zunge verbrannt. Seine Zusammenfassung, wonach die „Islamisten“ vielleicht noch nicht „die Kontrolle über unser Land übernommen haben“, aber sehr wohl die Kontrolle über den Londoner Bürgermeister Sadiq Khan, über die Stadt London selbst und über Starmer, führte zu seiner Entfernung aus der Fraktion. Anderson verwies auch auf „die schockierenden Szenen“ aus dem Parlament, als „Starmer zusammenbrach“ (crumbled) und gleichzeitig „Druck auf den Parlamentspräsidenten ausübte, um die Regeln zu ändern“. Dass einer in viele kleine Teile zerbricht und gleichzeitig Druck ausübt, mag eine unübliche Metaphernmischung zu sein. Es war dennoch real: Starmer ergab sich dem Druck aus seiner Fraktion und gab ihn an den Speaker weiter.

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Von den mittlerweile seit Monaten weitergehenden Gaza-Protesten in London sagte Anderson: „Die Leute kommen zu Tausenden und machen, was sie wollen, und sie lachen über die Polizei. Ich fühle mich absolut angewidert. Das hat etwas mit Khan zu tun. Er hat unsere Hauptstadt an seine Kumpel (mates) verschenkt.“ Nun ja, auch das ist eine ziemliche Zuspitzung. Aber ist das immer schlecht? Noch nicht gesagt hatte Anderson damit, dass Khan bis aufs Haar die Ansichten seiner demonstrierenden Glaubensbrüder teilt. Daran erkennt man die übergroße Sensibilität in der Debatte an diesem Punkt: Jede Andeutung einer quasi „rassistischen“ Zusammenstellung von Muslimen wird hier schuldig gesprochen und ins gesellschaftliche Abseits katapultiert.

Denn mit Sicherheit wurde Khan in eine sunnitische Familie indisch-pakistanischer Herkunft geboren. Sicher kritisierte er einst Tony Blair wegen der Beteiligung am Irak-Krieg, welcher den „Extremisten, die uns alle bedrohen“, Munition geliefert habe. Wahr ist auch, dass Khan im Nachgang des Irak-Kriegs versuchte, Labour wieder näher an die Muslime Britanniens heranzuführen, weil die Partei unter Blair den Kontakt mit ihnen verloren habe. Beiläufig verkündete Khan auch seine Null-Toleranz für Antisemitismus, Homophobie. Er spielt so den Vermittler, gilt als „gemäßigter, sozial-liberaler Muslim“, der aber trotzdem das Ramadan-Fasten beachtet. Khan möchte nicht, dass der Islam nur von „zornigen Männern mit Bärten“ repräsentiert wird. Aber so ist er eben das freundliche Gesicht, das dafür sorgt, dass diese Religion in allen Lebensbereichen eine Stimme bekommt, die annehmbar erscheint. Man kann ihn als Türöffner sehen.

Die Kritik der Zustände wird abgespalten

Khan hat dabei auch selbst immer wieder Kontakt zu Radikalen und Extremisten unterschiedlichster Couleur gehabt. So verteidigte er als Anwalt den katarischen Muslimbrüder-Prediger Yusuf al-Qaradawi. Zu Khans Netzwerk gehören freilich auch pro-palästinensische Organisationen, bei denen die Radikalen nie fern sind. Im iranischen Fernsehen bezeichnete er 2009 die gemäßigten Muslime Großbritanniens als „Onkel Toms“, also als gutmütige Haussklaven, wie einst Bernhard-Henri Lévy in einem Zeitungsbeitrag schrieb.

Nach Andersons Bemerkungen beklagte Khan, dass der Premierminister die Worte Andersons nicht verurteilte. Der Fraktionschef Sunak tat schließlich mehr und entfernte Anderson aus der Fraktion. Die Begründung: Abgeordnete dürften nicht Debatten in einer Weise anheizen, die „schädlich für andere“ sei – ein sehr weiter Begriff, wie man spätestens seit den neuesten Anti-Meinungsfreiheit-Gesetzen weiß. Und wer entscheidet, wo die „Schädigung“ beginnt und die Meinungsfreiheit folglich endet?

Für Sunak war das im Moment egal. Er ist bemüht, seine Partei vom Vorwurf der „Islamophobie“ reinzuwaschen. Da passte es ihm wenig ins Konzept, dass ein weiterer Tory von „No-Go-Arealen“ in London (Tower Hamlets) und Birmingham (Sparkhill) sprach und damit vorwiegend muslimisch besiedelte Viertel meinte.

Auch Paul Scully (gewählt für den Londoner Vorortbezirk Sutton and Cheam) geriet umgehend ins Feuer der „Rassimusvorwürfe“ und rechtfertigte sich, dass Furcht viele Quellen haben könne: darunter „Muslim-Patrouillen“ (wie es sie in mindestens einem Fall gab), Gangs oder „unzufriedene“ Personen generell. Auch das galt als schwerer Fehler im Diskurs, denn es gebe ja wohl gar keine „muslimischen Gangs“, wie die BBC in ihren Bericht einfließen ließ. Und davon hatte ja auch Scully nicht gesprochen, sondern von „Scharia-Patrouillen“ oder Gangs oder auch Unzufriedenen allgemein. Doch auch Scully musste sich für die von ihm angerichtete „Spaltung“ entschuldigen. Das erscheint wie Neusprech in einer Situation, in der offenbar Personen mit Meinungen wie Scullys aus der Gesellschaft ausgesondert, also abgespalten werden sollen. Aus dem Umfeld von Bürgermeister Khan hörte man, dass Scully leider zu „notorischen islamophoben Sprachbildern“ greife.

Ein weiterer Hinterbänkler schrieb in einer Gruppenunterhaltung der auch eher rechtsflügeligen „Common Sense Group“: „Die Fakten sprechen für sich. Der islamistische Extremismus stellt die größte Bedrohung für die nationale Sicherheit und das Wohlergehen dar.“ Die Auffassung fand einigen Rückhalt in der Gruppe, auch wenn ein anderer MP forderte, den Post umgehend zu löschen. Die Common-Sense-Gruppe konservativer MPs will vor allem Themen wie „nationale Identität, Gemeinschaft, Migration, Rechtsstaatlichkeit und öffentliche Ordnung“ behandeln.

Die muslimischen Pro-Hamas-Demonstranten als Khans Kumpel

Zu Anderson schrieb Khan im Evening Standard, der habe „Benzin auf die Flammen des Hasses geschüttet“. Ein seinerseits aufschlussreiches Sprachbild, denn die „Flammen des Hasses“ waren offenbar schon vor Andersons Äußerung da, zumal auf den Gaza-Demonstrationen. Und genau diese Emotion der pro-palästinensischen Menge malte auch Khan gewissermaßen an die Wand. Man könnte sagen, so funktioniert das „Drangsalieren“ in die Unterwerfung, von dem die Buddhistin Braverman gesprochen hatte.

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Allerdings muss Anderson gar nicht gemeint haben, dass Khan direkt von „Islamisten“ kontrolliert würde. Der Begriff des „Islamismus“ selbst besitzt ja eine gewisse Unklarheit. Genau genommen, ging Anderson einen Schritt hinter Bravermans Einschätzung zurück: Nach ihm ist noch nicht das Land schlechthin in der Hand der Extremisten, wohl aber Khan und London und Starmer. Anderson machte hier den Fehler, zu konkret zu werden.

Andersons Worte verraten sicher ein klares Feindbild: Labour und das tonangebende Milieu der Hauptstadt. Verraten sie auch ein klares Urteilsvermögen? Das bleibt umstritten, insbesondere die Einordnung der Demonstranten als Khans „Kumpel“, Genossen, mates gilt als grenzüberschreitend. Aber Anderson hatte die Demonstranten zwar als „widerwärtig“, doch nicht durchgehend als Extremisten bezeichnet. Es waren offensichtlich Muslime und Genossen, Palästinenserfreunde – und Khan hatte einst gezeigt, dass dies auch seine Freunde, sein Rückhalt und seine Gesprächspartner waren. Was nun?

Braverman ist mit ihren nicht weniger scharfen Aussagen nichts passiert. Aber sie gilt vielleicht eh als verlorenes Schaf, allerdings eines mit Chancen auf die Sunak-Nachfolge. Dagegen ist Anderson ein Tory-Rebell außerhalb der Fraktion. Er bleibt formal Parteimitglied. Schon länger wird ihm ein Übertritt zu Reform UK, der früheren Brexit Party von Nigel Farage (Ehrenvorsitzender) und Richard Tice (Parteichef), angedichtet.

20 Jahre wokes Venezuela mit einer Spur Islamophilie

Was so immer offensichtlicher wird, ist der innere Bruch in der konservativen Partei, die eigentlich schon länger aus zwei Parteien besteht. Die eine wird von den linken One-Nation-Tories gebildet, die beispielsweise keine zu große Schärfung des Ruanda-Gesetzes wünschten, weil sie um die Stimmen von Wechselwählern bangten. Es sind klassischerweise Blue-Wall-Abgeordnete aus dem Süden Englands, die auch ohne die neue Ausrichtung der Partei durch Johnson und den Brexit noch auf eine Wiederwahl rechnen können. Auf der anderen Seite steht eine – selbst vielfältige – Koalition aus entschiedenen Konservativen und Red-Wall-Kandidaten, die ihrerseits ein klareres Profil benötigen, um die Wahlkreise im Norden zu verteidigen, die früher regelmäßig an Labour gingen.

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Die Zuspitzung dieses innerparteilichen Duells hängt aber auch mit der äußeren Bedrängnis der Konservativen zusammen. In den Umfragen werden sie dauerhaft durch 15 bis 25 Prozentpunkte von Labour getrennt. Zugleich hat sich Reform UK bei zehn Prozent Stimmenanteil eingependelt. Der Rechts-Konkurrent setzt den Konservativen zu und könnte sie einige Sitze kosten, auch ohne selbst welche zu gewinnen. Anderson hat seine Worte inzwischen als ungeschickt eingordnet, allerdings seien sie aus „purer Frustration“ über das gespeist gewesen, das derzeit in der britischen Hauptstadt passiert. Entschuldigen will sich Anderson aber nicht. Er hält seinen Kommentar nicht für rassistisch, und in der Tat spricht nichts dafür. Anderson schließt aber einen Wechsel zur Reform-Partei nicht aus. Noch ist er fast so etwas wie der Wolfgang Bosbach der britischen Konservativen. Ob er den Sprung zu Reform macht, wird sich weisen. Noch scheint eine erneute Kandidatur mit den Konservativen möglich. Alte Kollegen fordern Andersons baldige Wiederaufnahme.

Doch die regierende Partei scheint ihrer Vernichtung entgegen zu gehen. Der kanadische Psychologe Jordan Peterson hat vorausgesagt, dass ein Labour-Sieg Großbritannien für 20 Jahre zu „Venezuela“ machen würden. Es sind aber noch andere Szenarien möglich: In einem Land, in dem der nationale Gesundheitsdienst seinen Patienten die Auswahl zwischen „zwölf Genders, zehn sexuellen Präferenzen und 159 Religionen“ anbietet, scheint einige Verwirrung eingekehrt. Vor der Tür steht also vielleicht ein wokes Venezuela mit einer Spur Islamophilie, denn, egal ob nun eingebildet oder real, gehört die Frage nach I-Philie und I-Phobie sicher zu den tieferliegenden des Landes.

In Berlin: Missverstandene „religiöse Codes“ und Salehs persönlicher Einsatz gegen Islamophobie

Und in Berlin? Sieht es dort anders aus? Nicht wirklich: Als in der Stadt eine Stelle für „konfrontative Religionsbekundung“ begründet werden sollte, hieß es von „Experten“, die Konflikte etwa um das muslimische Gebet oder das Kopftuch seien nur „religiös codiert“. Auch Sexismus, Mobbing und Homophobie will man nicht mit dem Islam in Verbindung bringen – nur die Jugendlichen tun das. Und so gab es keine Stelle, dafür aber inzwischen viel Gerede über Muslimfeindlichkeit in der Schule. Der Anderson-Bosbach der Berliner CDU war in diesem Fall Falko Liecke, der anhaltend für die Stelle eintrat.

Mittlerweile gibt es aber sogar eine islamische Privat-Grundschule in Berlin. Aktuell protestieren Schüler einer Charlottenburger berufsbildenden Schule gegen ein „Gebetsverbot“ an der Schule – gemeint ist natürlich das demonstrative Beten mit Teppich (schreibt die taz). Im laizistischen Frankreich wehrt man sich strikt gegen Gebete und islamische Kleidung in Uni-Bibliotheken, sie kommen aber trotzdem immer öfter vor, wie der Figaro berichtet.

Und zu schlechter Letzt will auch der Berliner SPD-Co-Chef und alleinige Fraktionschef Raed Saleh den „Kampf gegen Islamfeindlichkeit und Rassismus“ neben dem „Kampf gegen Antisemitismus“ in die Landesverfassung aufnehmen. Saleh hält das offenbar für eine Riesenchance für Berlin, das er auch als „die Stadt der vielen Religionen“ beschreibt, als „die Stadt, in der es egal ist, an wen jemand glaubt oder ob man glaubt“. Das gilt allerdings nicht in allen Gesellschaftsbereichen. Viele Töchter und Frauen strenggläubiger Muslime werden nicht danach gefragt, ob sie ein Kopftuch tragen wollen oder nicht. Saleh kam 1982 als Fünfjähriger aus dem Westjordanland nach Deutschland. Sein Vater fand glücklicherweise Arbeit, er selbst machte Karriere im Imbisskettengeschäft. Nun macht er die Anti-Islamophobie zur Chefsache, will selbst in die für Vorschläge zur Rassismus-Prävention zuständige Enquete-Kommission gehen. So könnte Saleh der Berliner Mini-Khan werden. Als exponierter Vertreter des Islam treibt er natürlicherweise dessen Bedeutung in der Stadt vor sich her.

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Kommentare ( 16 )

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NiceChappie
1 Monat her

Hervorragender Artikel, Herr Nikolaidis. Eine klügere, tiefgründigere, und umfassendere Analyse der äußert besorgniserregenden Situation in Großbritannien sucht man vergeblich in den deutschen (und wohl britischen) Medien. Herzlichen Dank. Als ehemaliger Verfechter der Vision einer multikulturellen Gesellschaft muss ich leider Ihnen auch zustimmen: das Experiment ist gänzlich gescheitert. Ohne Leitkultur fällt eine Gesellschaft moralisch, kulturell und ja intellektuell auseinander. Und gerade diesen Verfallsprozess erleben wir gerade, und nicht nur in GB. Meine und die Hoffnungen vieler Menschen ruhen in Zukunft auf Suella Braverman und Kemi Badenoch. Aber zuerst ist Labour dran. Erlauben Sie mir den britischen Politologen Matthew Goodwin zu zitieren:… Mehr

Ralf Poehling
1 Monat her

Es wird im Westen zu viel drumherum geredet. Das Problem lässt sich auf einen einzigen Satz runterbrechen: Der Islam ist mit den westlich-laizistischen und toleranten Gesellschaften und ihren Rechtsgrundsätzen im Falle seiner vollen Ausübung NICHT kompatibel! Ich nehme mal Deutschland als Beispiel, weil es da anhand des Grundgesetzes einfacher zu erklären ist, die Briten haben ja keine Verfassung, aber weitgehend die gleichen Rechtsgrundsätze. In Europa tut sich da ja nicht viel. Also: Schaut man auf unser deutsches Grundgesetz, so stellt der Kenner der islamischen Welt sofort fest, dass der Islam in seiner vollen Ausprägung bereits mit den ersten 20 „ewigen“… Mehr

Wilhelm Rommel
1 Monat her
Antworten an  Ralf Poehling

Volle Zustimmung, Herr Mitforist! Hoffentlich gelingt es dieser Kurzmitteilung heute, durch den ‚Drahtverhau‘ (Sie wissen, was ich meine…) zu schlüpfen: Mein völlig ‚unschuldiger‘ Kommentar vom gestrigen Tage blieb jedenfalls ‚elend stecken‘ wie weiland der arme Varus im Sumpf von Kalkriese…

Ralf Poehling
1 Monat her
Antworten an  Wilhelm Rommel

Bei denen, die es wirklich wissen müssen, ist das längst angekommen. Allerdings wurden die bis vor kurzem blockiert, weil da finanzielle Interessen Vorrang hatten.
Aber das knacken wir jetzt auch.
Als alter Germane weiß man, wie man einen übermächtig wirkenden Feind erfolgreich nieder ringt…

Helfen.heilen.80
1 Monat her

Die Befürworter einer multikulturellen Gesellschaft scheinen sich bei ihrer Vorstellung an die progressiven Richtungstendenzen aus der Zeit von Martin-Luther-King und Woodstock anzulehnen. Heute jedoch wird anerkannt, dass sich die Mélange in den USA weniger zu einem „melting-pot“ entwickelt hat, als zu einem fraktioniertem Flickenteppich. Nicht nur dies gelte es in Europa heute zu beachten, sondern, dass sich die EU-Entwicklung von jener in den USA durch die schwerwiegende Komponente des „Islamismus“ unterscheidet. Insofern kann schwerlich von einer synchronen Gesellschaftsentwicklung zu jener in den USA ausgegangen werden. Keine der klassischen US-amerikanischen Subkulturen bringt eine ähnliche Herausforderungsstruktur mit sich wie der Islam in… Mehr

Lesterkwelle
1 Monat her

Dazu passt: Der Ex-Labour Maverick Linksaussen George Galloway gewinnt just die Rochdale byelection mit 40% und widmet seinen Sieg Gaza. „Keir Starmer, this is for Gaza!“ Demokratie eben!

Wilhelm Rommel
1 Monat her

Was Sie da so eindrucksvoll und detailliert beschreiben, verehrter Herr Nikolaidis, ist letztlich nichts anderes als das Ergebnis einer schon lang andauernden islamischen Unterwanderung des politischen Gefüges in GB, deren Protagonisten nun beginnen, endlich die Früchte ihrer Mühen zu ernten. Steht uns allen hierzulande ebenfalls bevor, nimmt hier aber den ‚eleganten‘ parlamentarischen Umweg über die jüngst erfolgte Parteigründung (DAVA), die andere islamische Splittergruppen aufsaugen könnte! Die ‚wertkonservativen alten weißen Männer mit Restverstand‘ können da warnen, wo immer und soviel sie wollen. Lesenswert in diesem Zusammenhang natürlich wieder mal der hinlänglich bekannte Sarrazin, aber auch ein stabil zahlenbasierter Beitrag von Jurij… Mehr

Last edited 1 Monat her by Wilhelm Rommel
horrex
1 Monat her

Vielen Dank für die Berichte von anderen „Fronten“.

Jens Frisch
1 Monat her

Ich habe Arabisch studiert und den Koran im Original gelesen. Es gibt nur drei Suren, die wir „kuffar“ kennen müssen:

5:51 Nehmt euch die Juden und Christen nicht zu Freunden
5:61 Allah hat sie als Affen und Schweine erschaffen
9:5 Tötet sie, wo immer ihr sie findet

Diese Eroberungsideologie kann, will und darf sich nicht „integrieren“ – was natürlich nicht jeden einzelnen Anhänger zu treffen mag.

Last edited 1 Monat her by Jens Frisch
3 Finnen
1 Monat her
Antworten an  Jens Frisch

Der Koran ist im Original in Syro-Aramäisch geschrieben. Die heutigen arabischen Ausgaben sind nur eine Übersetzung. Da arabische Islamgelehrte kein syro-aramäisch können, ist für diese fast ein Viertel des Korans unverständlich. Es gibt Wissenschaftler, wie ein Luxenberg, die diese Sprache beherrschen und daher viel besser über den Inhalt des Korans Auskunft geben können.
Aber zu diesen von Ihnen zitierten Suren sagt auch er das Gleiche. Kommt nicht aus dem christlichen Teil des Korans. Sollte eigentlich Allgemeinwissen sein, dass in der Schule den Kindern im Religionsuntericht beigebracht wird.

Petra Horn
1 Monat her

Die Briten und die Franzosen sind uns ein paar Jahr voraus.
Die kleinen Länder Schweden und Dänemark, und mir scheint auch Finnland sind mittlerweile aufgewacht.
Je größer, desto schwieriger scheint das zu sein.
Offenbar droht so oder so ein großer Schlag, die Frage ist wann.

Winnetouch
1 Monat her
Antworten an  Petra Horn

Aufwachen? Dafür ist es zu spät. Die Demographie entscheidet und wenn man sich die Zahlen ansieht für Deutschland oder GB oder Frankreich oder Schweden anschaut – dann ist der Drops gelutscht. Es brãuchte JETZT Maßnahmen, die für hässliche Bilder im Land sorgen würden. Kein Politiker wäre aus Angst um seine Karriere bereit diese durchzusetzen.

Last edited 1 Monat her by Winnetouch
BK
1 Monat her

Unterm Strich sind Politiker nur sich selbst verpflichtet. Denn wenn du ein Junge oder Mädchen (vielleicht auch fluid divers) bist, ohne Ausbildung dastehst und nichts zu bieten hast, dann ist eine Funktionärslaufbahn mitunter der einzige Weg, um dem Bürgergeld zu entgehen. Eine Leistungsgesellschaft ist Deutschland nur noch deshalb, dass Versager und Faulpelze belohnt, ehrgeizige und fleißige Menschen jedoch bestraft werden. Wie hier schon oft geschrieben, lohnt sich Arbeit nicht und wird schlimmer besteuert als jede Gemeinde Vergnügungssteuer verlangt. Die liegt schließlich nur zwischen 10 – 13 %. Harte Arbeit ist in diesem Land ein Verbrechen.

rainer erich
1 Monat her

Eine umfangreichere Anmerkung zur islamischen Eroberung des „Wertewestens“ dank der sogen. Linken ist muessig. Sie ist schon deshalb sinnlos, weil sich die Legende von den “ verschiedenen“ Formen oder Ausprägungen des Islam derart hartnäckig haelt, dass hier Absicht vermutet werden darf. Auch bei den sogen Liberalkonservativen und ihrem permanenten Spagat zwischen ihrer Regime – bzw Kartell – oder Systemtreue und ihrem leichten Unwohlsein. Aehnlich wie bei den Rotgruenen reicht „Unwissenheit“ schon lange nicht mehr als Erklärung aus. Interessant ist, dass einzelne muslimische Vertreter wie der brave Bürgermeister durchaus zutreffend als eine Art troyanische Pferde beschrieben werden, daraus aber partout keine… Mehr