Huntingdon: Eine Gewalt-Epidemie, die sich wie Terror anfühlt

Einen Tag nach dem Doppel-Messerangriff in einem Regionalzug bei Peterborough ist noch immer nichts über das Motiv der Täter bekannt. Die britische Politik ist in Schockstarre. Medien lancieren Diskurse über Bahnsicherheit, als ob darin das Problem bestünde.

picture alliance / empics | Chris Radburn
Huntingdon, UK, 01.11.2025

Nach dem Messerangriff in einem Regionalzug von Peterborough nach London am Samstagabend kämpfen noch immer zwei von elf schwer Verletzten um ihr Leben. Vorausgegangen waren Szenen des Chaos. In einigen Waggons war alles voller Blut. Ein älterer Mann hatte sich einem Angreifer in den Weg gestellt, als dieser ein junges Mädchen angreifen wollte, und trug Verletzungen an Kopf und Hals davon. Ein weiterer Mann, der sich einem Angreifer in den Weg stellte, wurde in die Brust gestochen.

Der Zug hielt außerplanmäßig in dem Örtchen Huntingdon, kurz hinter Peterborough in Cambridgeshire. Opfer mit Stichwunden schleppten sich auf den Bahnsteig, auch sie waren voller Blut. Fahrgäste hatten sich in den Toiletten des Zugs versteckt. Einige wurden niedergetrampelt beim Versuch zu fliehen. Fahrgäste rannten durch die Waggons, um den Angreifern zu entkommen, und informierten so andere über die Attacke. Indessen gab es eine Durchsage des Zugpersonals, die von einem „Vorfall“ sprach und empfahl, dass die Passagiere für ihre Sicherheit sorgen, was einige als besonders beängstigend empfanden: „We are aware there is an incident… just keep yourselves safe.“ Andere hatten den Angriff für einen Halloween-Scherz gehalten.

Als der Zug in Huntingdon hielt, hämmerten die Passagiere an die Türen. Als die sich öffneten, strömten sie hinaus. Einige sammelten sich im Bahnhofsgebäude, andere rannten weiter um ihr Leben, erreichten Wohnhäuser, klingelten und wurden eingelassen, wie der Telegraph berichtet.

Terrorattacke oder doch nicht?

Am Samstagabend wurde zunächst der nationale Code für Terrorattacken („Plato“) von der Polizei gebraucht, bevor man ihn wieder zurückzog. Aber noch andere Details an dem Geschehen rund um die Messerattacke erstaunen nachhaltig. So erfuhr die Bürgermeisterin des Orts, Audrey McAdam, erst am folgenden Morgen von dem Attentat, das sich am Samstagabend kurz nach halb acht ereignet hatte. Sie erfuhr es aber nicht aus einer offiziellen Quelle, sondern weil ihre Schwester sie anrief.

Am Samstagabend erklärte die britische Bahnpolizei: „Dies wurde zu einem schweren Vorfall erklärt, und die Terrorismusbekämpfungspolizei unterstützt unsere Ermittlungen, während wir daran arbeiten, die vollständigen Umstände und Motive für diesen Vorfall aufzuklären.“ Aber bislang hat die Terrorpolizei noch keine Hochstufung zum Terrorakt bekannt gegeben.

Keir Starmer sprach nur von einem „schrecklichen Vorfall in einem Zug in der Nähe von Huntingdon“, der „zutiefst beunruhigend“ sei. Er bat darum, dass nun alle den Ratschlägen der Polizei folgen. Innenministerin Shabana Mahmood sagte im Grunde das gleiche und ergänzte: „Ich fordere die Menschen dazu auf, in dieser frühen Phase Kommentare und Spekulationen zu vermeiden.“ Nur Nigel Farage fordert umgehend zu wissen, wer „diese schrecklichen Angriffe“ begangen hat.

Am Sonntagmorgen forderte auch der konservative Abgeordnete für Huntingdon, Ben Obese-Jecty, dass mehr Informationen zu den Tätern bekannt gegeben werden, auch um Fehlinformationen zu vermeiden. In Antwort auf einen Tweet habe er „Hunderte von Kommentaren“ erhalten, in denen „über die Art des Angriffs, das Motiv und den Hintergrund des Angreifers spekuliert wurde“.

Inzwischen gab die Polizei die Ethnizität der Täter bekannt: Die Täter waren ein 32-jähriger Schwarzer und ein 35-jähriger Mann mit karibischer Abstammung. Beide sind britische Staatsbürger und wurden am Sonntag in verschiedenen Polizeistationen festgehalten und befragt. Über die Religionszugehörigkeit der beiden ist noch nichts bekannt geworden. Einer der Angreifer wurde als „schwarzer, schwarz gekleideter Mann“ beschrieben. Aber das klärt auch wenig. Eine der Hauptfragen wird sein: Wie kam es, dass sich zwei junge Männer, offenbar beide dunkler Hautfarbe, zu einem solchen Attentat verabredeten?

Verteidigungsminister: Briten sind ziemlich zäh

Verteidigungsminister John Healey fand es am Sonntagmorgen „nicht hilfreich“, darüber zu spekulieren, ob der Angriff eine terroristische Attacke war. Später sagte er im Fernsehsender Sky News die Worte: „Nun, meiner Meinung nach sind die Briten ziemlich zäh und widerstandsfähig. Wir lassen uns nicht davon abhalten, unser normales Leben weiterzuführen. Und das ist richtig so, ich möchte nicht, dass die Menschen das Gefühl haben, sie könnten oder sollten das nicht tun.“

Das sind Aufrufe wie aus einem Weltkrieg. Wenn vor 80 Jahren die Bomben auf London fielen, dann war es sicher an Winston Churchill, seine Landsleute zur Zähigkeit aufzurufen. Nun sagt der aktuelle Verteidigungsminister etwas sehr Ähnliches in Friedenszeiten. Und es ist nicht so sehr ein Bürgerkrieg, der damit offen vor der Tür steht (vielleicht auch), sondern zunächst ein Grad an allgemeiner Verunsicherung des öffentlichen Raumes, der beängstigend wirken muss.

Was sagte Healey noch? „Ich denke, wir alle müssen wachsamer sein, wachsamer in Bezug auf unsere elektronischen Geräte, in Bezug auf das Risiko von Cyberbetrug und Cyberangriffen, und wir müssen einfach wachsamer sein, wenn es darum geht, auf andere in unserer Umgebung zu achten.“ Noch einmal: Es wird eine analoge Messerattacke von zwei durchaus analogen Männern verübt, und der Verteidigungsminister warnt seine Landsleute wegen der Sicherheit ihrer Handys.

Die Parteichefin der Konservativen, Kemi Badenoch, sagte das Gegenteil von Healey: „Wir können kein Land sein, in dem Menschen unschuldig ihren Geschäften nachgehen und mit derartiger Gewaltkriminalität konfrontiert werden.“

Gewalt-Epidemie, die an Terrorismus grenzt

Nun werden Rufe laut, die Sicherheit in Zügen derjenigen an Flughäfen anzunähern. Aber was für den Eurostar in St Pancras schon Realität ist, dürfte für das weit ausgebreitete Streckennetz insgesamt utopisch bleiben: Passkontrollen und Gepäckscanner. Eine Mittellösung habe Israel gefunden, liest man im Spectator: Dort patrouillieren Beamte in Zivil in Bahnhöfen, um Passagiere mit verdächtigem Verhalten aufzuspüren. Bei Bedarf können dann Taschen durchleuchtet werden. Aber auch das würde das einst praktisch unbekannte Problem nicht völlig zum Verschwinden bringen. Dennoch geht wohl auch Großbritannien unaufhaltsam solchen Sicherungsmaßnahmen entgegen, die in Israel einen eindeutigen Hintergrund haben: die Terrorgefahr durch die Palästinenser.

Im Nachrichtenkanal GB News hieß es: Fünf Millionen Fahrgäste am Tag stünden nur 3000 Bahnpolizisten gegenüber. Nun sind Extrakräfte für landesweite Kontrollen angesetzt, was dann doch eine allgemeinere Beunruhigung der Behörden verrät. Zumindest Trittbrettfahrer-Taten hält man offenbar für möglich. Und dann ist allerdings die Frage, wie man diese Art von Gewalt-Epidemie nennen soll, die heute – im Gegensatz zu noch vor ein paar Jahren – offenbar in einem gewöhnlichen Regionalzug zu erwarten ist. Sie fühlt sich wohl fast genauso an wie die Lage im Heiligen Land, nur dass man nicht stets und überall sofort weiß, welche Kräfte dahintersteckten.

Die Angriffe im Regionalzug mögen kein Terrorismus im bekannten Sinn gewesen sein. Aber sie üben gleichermaßen Terror auf die Bürger aus. Klar ist auch, dass die Unsicherheit im öffentlichen Raum zugenommen hat, nicht nur im UK. Die Journalistin Sue Reid geht noch weiter: „Man kann nicht in den Zug steigen. Man kann nicht in die U-Bahn steigen. Man kann nicht durch die großen Hauptstraßen Londons gehen, ohne sich bedroht zu fühlen.“

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Kommentare ( 75 )

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75 Comments
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Powerhitter
12 Tage her

„Eine der Hauptfragen wird sein: Wie kam es, dass sich zwei junge Männer, offenbar beide dunkler Hautfarbe, zu einem solchen Attentat verabredeten?“—> Tiktok-Challenge???

Apfelmann
12 Tage her

Schön das Tichy von Messertätern im Ausland berichtet. Der Messermord an der Edekakasse hier bei uns in Deutschland, wo ein Teenager mit einem Stich in den Kopf abgeschlachtet wurde war Tichy keine Zeile wert.

Kassandra
12 Tage her

Weiter: so gut wie nichts über den Täter – und über die Opfer sowieso gar nichts:
Allerdings beschreiben sie jetzt welche, die halfen, das Massaker nicht noch schlimmer werden zu lassen: https://www.dailymail.co.uk/news/article-15251491/Hero-passengers-train-knifeman-stabbed-carriage.html
.
Und dass der Messermann psychische Probleme hatte, das wissen sie jetzt auch schon: https://www.dailymail.co.uk/news/article-15251649/Knifeman-stabbed-Huntingdon-train-rampage-mental-health.html
Bei AlJazeera heißt der Täter „Anthony Williams“: https://www.aljazeera.com/news/2025/11/3/uk-police-charge-man-with-11-counts-of-attempted-murder-over-train-stabbingUnd die Times of India bebildert: https://timesofindia.indiatimes.com/world/uk/cambridgeshire-stabbing-32-year-old-charged-for-knife-attack-on-london-bound-train-faces-11-attempted-murder-counts/articleshow/125054108.cms

a.stricker
12 Tage her

Was für ein Geblödel der Behörden. Der grundlose und wahllose Angriff auf Menschen ist Terrorismus, ganz gleich, was das Motiv dahinter ist.

Konservativer2
12 Tage her

Sch… auf „Motive“. Mir ist völlig klar, welchen Hass Leute aus tribalistischen Gesellschaften auf den überlegenen Westen haben. Wer nicht mithalten kann, sticht zu, wie er es zu Hause gelernt hat. Weshalb muss ich mittelalterlich Denkende hier tolerieren, verdammt nochmal?

Haba Orwell
12 Tage her
Antworten an  Konservativer2

Inzwischen bleibt nur noch ein Täter in Haft – in Großbritannien geboren, mit Wurzeln in den Karaiben. Gibt es irgendwelche Angaben wenigstens über seine Religion? Karaiben sind wohl kein klassisches Islam-Siedlungsgebiet. Der Westen agiert nicht tribalistisch, echt jetzt? Eine der Stimmen zur vermeintlichen „Überlegenheit“: https://wassersaege.com/blogbeitraege/die-entwertung-des-wertewestens-teil-2-doppelmoral/ > „… Der Westen mit einem starken Bedürfnis nach moralischer Überlegenheit besitzt dieses Ethos schon lange nicht mehr, ganz im Gegenteil! Die übrige Welt – so des Öfteren vom „Wertewesten“ aus herablassender und narzisstischer Hybris genannt –, besser gesagt: der Großteil der Menschheit, sieht dem Treiben des Westens, insbesondere der Selbstzerstörung Europas nur noch kopfschüttelnd… Mehr

Deutscher
12 Tage her

„…ist noch immer nichts über das Motiv der Täter bekannt.“

Nun, man weiß eben noch nicht, wie man es umschreiben soll. Aber wie wäre es mit „Hass“? Ach so, ich vergaß: Hass ist ja, wenn man was sagt oder schreibt…

Haba Orwell
12 Tage her
Antworten an  Deutscher

Hass auf wen genau und weswegen? Bisher habe ich keinen Beleg gesehen, dass der Täter mit Karaiben-Wurzeln überhaupt Muslim ist. Es hindert dennoch manche Schreier nicht, dem Islam einen Heiligen Krieg zu erklären – mit „Belegen“ ähnlicher „Güte“ wie bei den „Putins Drohnen“, die angeblich überall in Westeuropa rumschwirren.

Deutscher
12 Tage her
Antworten an  Haba Orwell

Lieber Herr Orwell, Ihre schon öfter geäußerten, mutmaßlich antiisraelisch begründeten Islamsympathien in allen Ehren, aber: Mir wurscht, ob er Moslem ist oder nicht. Kann auch ein Kolonialrächer sein. Aus Liebe zu England, zum Westen und zur weißen Zivilisation scheint er jedenfalls nicht gehandelt zu haben. So wenig wie der Typ, der vor einigen Wochen in den USA eine weiße junge Frau im Zug erstochen hat.

Irgendwie sind die ganzen Messerjungs halt immer auffallend nicht weißer ethnischer Herkunft. Das ist schon eine bemerkenswerte Häufung, finden Sie nicht?

Last edited 12 Tage her by Deutscher
Kassandra
12 Tage her

Konträre Politik in den USA: Trump räumt auf – gestern im Interview: „60 minutes tries baiting Trump and getting him to condemn ICE and say they’ve gone too far but Trump had the perfect response: “I think they [ICE] HAVEN’T GONE FAR ENOUGH.. you have to get the people out… Many of them are m*rderers.. criminals.” https://x.com/libsoftiktok/status/1985095782320500968 Und Tom Homan geht damit an die Öffentlichkeit, dass ICE um 10.000 Männer verstärkt wird: „BREAKING: ICE to bring on 10,000 new agents to find and arrest the millions of illegals who Biden released into our country“ https://x.com/libsoftiktok/status/1984997230202269758 . Eine Einheit ist gerade in… Mehr

Deutscher
12 Tage her
Antworten an  Kassandra

Amerikaner, die gegen Trump sind, müssen verrückt sein.

teujur52
12 Tage her

Seien wir ehrlich. Die Briten sind uns nur Millimeter voraus. Sollte es ihnen gelingen, erfolgreich Abwehrmechanismen zu entwickeln, werden sie ihren Terror nach Europa und Deutschland exportieren. Das schwächste Glied in der Kette wird der Leidtragende sein.

Montesquieu
12 Tage her
Antworten an  teujur52

Das Pech von Briten und Franzosen war, dass sie so große Kolonialgebiete abzuwickeln hatten und in einem Anflug von fehlgeleiteter Großherzigkeit all den Bewohnern der ehemaligen Kolonialgebiete ihre Staatsangehörigkeit angeboten haben. Das hat ihnen ein paar Jahrzehnte Vorsprung beschert. Aber unser Zwischenspurt ist mehr als beachtlich.

Last edited 12 Tage her by Montesquieu
epigone
12 Tage her

Nun, das ist ja Realsatire vom feinsten, wenn der britische Verteidigungsminister von der Gesellschaft Robustheit, Zusammenstehen und Zuversicht im Stil eines Winston Churchill zur Zeiten des Zweiten Weltkrieges fordert. Mal abgesehen von der Analogie einer vernichtenden militärischen Bedrohung, die ganz soweit tatsächlich gar nicht hergeholt ist, fehlt ein entscheidender Faktor: der wie selbstverständlich vorausgesetzte innere Zusammenhalt der britischen Gesellschaft! Denn anders als im Zweiten Weltkrieg trifft dieser Terror nicht ein in seiner Identität gefestigtes Land von außen sondern ein in seiner Identität schwer zerrüttetes Land aus der Mitte der Gesellschaft. Man könnte auch pointiert formulieren: was früher der Nazi für… Mehr

Sonny
12 Tage her

Es herrscht Krieg. Und zwar nicht nur in der Ukraine. Der Krieg hat uns alle erwischt. Und wer glaubt, er lebe auf einer „Insel“ und hätte damit nichts zu tun, wird früher oder später eines besseren belehrt. Durch diese Zustände. Unser Leben hat sich in den letzten zehn Jahren nachhaltig verschlechtert. Die Ungewissheit, das ängstliche Abscannen der Umgebung gehören zum Alltag. Bestimmte Gegenden und Plätze muss man meiden. Wer lebt, als wäre nix, begibt sich in hochgradige Lebensgefahr. Wer aber die Realitäten anerkennt, ist schon praktisch gezwungen, aufzurüsten. Man muss sich bewaffnen, ob man will oder nicht, denn die Regierungen… Mehr

Last edited 12 Tage her by Sonny
Kassandra
12 Tage her
Antworten an  Sonny

Alternativ wies hier einer neulich auf Farbspray hin, was einerseits einen Überraschungseffekt birgt, andererseits aber, wird der Täter getroffen, auch für einen hohen Wiedererkennungswert bei der Fahndung sorgt, trifft man Gesicht und Haar.