Einige Rechte, gespaltene Rechte: Unübersichtlicher Wahlkampf in Frankreich

In Frankreich erinnert Éric Zemmour die Wähler an ein grundlegendes Problem ihres Landes. Vor Polizisten mahnt er die Wiederherstellung des Rechtsstaats in ganz Frankreich an. Derweil rumort es bei Konservativen wie Nationalen. Einige Politiker haben schon die Reihen gewechselt, weitere könnten folgen.

IMAGO / ZUMA Wire

Es ist eine titanische Aufgabe, die sich Éric Zemmour selbst in seinem Wahlprogramm zur Immigration stellt (hier im Original nachzulesen). Die seit Jahrzehnten bestehende, jüngst extreme Höhepunkte erreichende Einwanderung sieht Zemmour als die „Mutter aller Schlachten“ an. So sei die Immigration seit Jahrzehnten verantwortlich für die „Explosion der Kriminalität“. Das dauere schon seit Ende der Siebzigerjahre an. Scheinbar paradox formuliert Zemmour: „seitdem hat sie nicht mehr aufgehört zu explodieren“. Man muss es sich als eine immer weiter steigende Kurve vorstellen: insgesamt eine Vervierfachung seit den Sechzigerjahren.

— RECONQUÊTE ! (@Reconquete_Z) February 2, 2022

Aus diesem und anderen Gründen schlägt Zemmour eine Null-Einwanderung vor, die er als einziger fordere. Dies ist der erste von drei Punkten: „Stopper les flux“ – „den Zustrom stoppen“. Allgemein bekannt ist, dass es in den großen Städten Frankreichs heute „Enklaven“ gibt, auf die der Rechtsstaat keinen Zugriff hat. Das wurde immer wieder bei Unruhen in den betroffenen Vorstädten deutlich, zuletzt als Innenminister Gérald Darmanin angab, etwas gegen die Drogenkriminalität getan zu haben.

Zemmour spricht hier nicht mehr nur von No-Go-Areas oder Unrechtsvierteln, sondern legt Wert darauf, dass in diesen Gebieten ein anderes Recht gelte als das des französischen Staates – zum Beispiel das von muslimischen Maghrebinern untereinander ausgemachte – und dass diese „Enklaven“ eben wirklich nicht mehr Teil Frankreichs sind, so wie es der Begriff des „Separatismus“ schon seit einiger Zeit nahelegt.

Seine Rede hielt Zemmour am Mittwoch vor der nationalen Polizeiallianz. Die Polizisten sprach er auch direkt an: Man befinde sich in einem „Konflikt der Zivilisationen“, und nur die Ordnungskräfte wüssten, was wirklich passiert. Die Polizei sei selbst zur Zielscheibe eines Guerrilla-Kampfes geworden. Sie erlebe täglich die Dinge, mit denen der normale Franzose nur ab und zu in Berührung komme.

Um diesen Zustand zu beenden, ihn sozusagen rückgängig zu machen, schlägt Zemmour seine Migrationspolitik vor. Er will die Straßen wieder von den Kriminellen befreien, die sich auf ihnen ausgebreitet haben und so auch die Viertel wieder zurückgewinnen. Zunächst aber müsse man den Zufluss von neuen Problemen stoppen, die Zuwanderung auf Null setzen, die Familienzusammenführung aussetzen und die Studenten aus dem Ausland besser auswählen. Außerdem will er das Asylrecht einschränken, und zwar sowohl auf ein Kontingent als auch dahingehend, dass Anträge schon im Ausland bei französischen Konsulaten gestellt und bearbeitet werden sollen.

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Um die auch finanziellen Ansprüche an den französischen Staat zu senken („Schluss mit der Saugpumpe“), will Zemmour das Geburtsortprinzip abschaffen, nach dem ein in Frankreich geborenes Kind in jedem Fall Franzose ist. Er will die Einbürgerung „drastisch“ erschweren und Sozialleistungen für Außereuropäer einschränken. Die Einbürgerung von illegal Eingereisten soll nicht mehr möglich sein.

Als drittes Teilpaket schlägt Zemmour vor: die konsequente Ausweisung von straffällig gewordenen Ausländern; Doppelstaatler verlieren ihre französische Staatsbürgerschaft im Falle der Delinquenz, sodass sie ausweisbar werden. Auch Sozialleistungen sollen in der Folge gestrichen werden und der Anspruch auf eine Sozialwohnung verfallen. Man müsse sehr „feste, unerbittliche Maßnahmen“ ergreifen, etwa auch durch harte Gerichtsurteile ohne Strafnachlass, Wiedereinführung eines echten Lebenslänglich. „Alle unerwünschten Ausländer“ müssten ausgewiesen werden.

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Es gab – das ist im Wahlprogramm Zemmours zusammengefasst – noch nie so viele Ausländer in Frankreich, gleichermaßen in absoluten Zahlen wie als Anteil an der Gesamtbevölkerung: 5,1 Millionen machen heute demnach 7,6 Prozent der französischen Bevölkerung aus. Es gab auch nie so viele Immigranten in Frankreich, nämlich 6,8 Millionen oder ein Anteil von 10,2 Prozent. In Deutschland spricht man an dieser Stelle von „Migrationshintergrund“, und selbst diesen Begriff wollen einige abschaffen.

Als skandalöses Faktum nennt die Zemmour-Kampagne außerdem die Zuwanderung von 350.000 Ausländern im Jahr 2019. Das seien mehr als die Bevölkerung von Nizza, der fünftgrößten französischen Stadt. Aus deutscher Perspektive kann man an dieser Stelle nur müde lächeln. Denn diese 350.000 Einwanderer sind in Deutschland offiziell gewollt und eigentlich noch viel mehr. Die politische Klasse des Landes wünscht sich bekanntlich 400.000 Nettozuwanderung pro Jahr, also nach Abzug der Auswanderer, die ebenfalls immer mehr werden.

In Frankreich liegt das Hauptproblem dabei direkt vor der Haustür. Die meisten neuen Aufenthaltstitel werden an Tunesier, Algerier und Marokkaner vergeben. 41 Prozent aller Titel gehen an Menschen afrikanischer Herkunft (ohne Unterscheidung in Maghreb und Subsahara-Gebiete). Doch nur 14 Prozent der Aufenthaltserlaubnisse seien durch Arbeitsmigration begründet. Den Hauptanteil machen die Familienzusammenführung und Studien aus. Hinzu kommen 138.000 Asylanträge im Jahr 2019. Man sieht, die französischen Probleme sind zwar etwas anders gelagert als die deutschen, aber letzten Endes dieselben. Die Kosten für dieses Asylsystem beziffert die Kampagne von Éric Zemmour bei 1,3 Milliarden Euro pro Jahr.

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Zemmour sagt in der Rede vor den Polizisten immer wieder, dass er gewisse Forderungen als einziger vertrete. Aber das wichtigste Stilmittel seines Programms ist die Verknappung. Im Grunde hatte Marine Le Pen fast alle seiner Forderungen schon 2017 im damaligen Präsidentschaftswahlkampf vertreten. Es fehlte nur das einheitliche Bild, das Zemmour nun zeichnet: die Migration als Ursache oder Verstärkerin vieler Übel, als „Mutter aller Schlachten“. War das nicht auch der Ausdruck Horst Seehofers gewesen? Man könnte sagen, dass Le Pen am Ende doch etwas härter formuliert und Zemmour so als bürgerlich-konservativer Kandidat daherkommt, der aber erhebliche Anleihen beim Rassemblement national macht.

Doch wird es überhaupt zur Umsetzung dieses Programms kommen? Könnte Zemmour die von ihm erträumte Vereinigung der französischen Rechten gelingen, von den konservativen Républicains (LR) bis zum Rassemblement national (RN)? Das bleibt vorerst ungewiss. Doch einzelne Apostaten von beiden Seiten haben sich gefunden oder winken zumindest mit dem Zaunpfahl der Sympathie für Zemmours neue Partei Reconquête („Rückeroberung“).

Kleine Flut der Übertritte

Der ehemalige stellvertretende Vorsitzende der Républicains, Guillaume Peltier, twitterte: „Ich habe mich entschlossen, den einzigen Kandidaten der Rechten zu unterstützen.“ Zemmour sei heute der einzige Kandidat des „RPR“, also der 2002 in den späteren Républicains aufgegangenen neo-gaullistischen Partei der 1990er Jahre. Seine umfangreiche Begründung beginnt mit dem Satz „Weil ich will, dass Frankreich Frankreich bleibt“ und setzt sich fort, indem Peltier fordert, die „schweigende Mehrheit“ dürfe sich nicht von einer „Tyrannei der Minderheiten“ unterdrücken lassen. Außerdem wünscht er sich eine gefestigte und – allerdings – einige Rechte in Frankreich. Tatsächlich ist die französische Rechte heute in drei Kandidaten zerfallen.

Der Rechtsaußen der Républicains, der Provençale Éric Ciotti tadelte Peltier denn auch sogleich, er begehe einen „schweren Fehler“. Peltier hatte einst die Jugendorganisation des Front national angeführt und war zuletzt Vorsitzender der Parteigliederung „La droite forte“ innerhalb der Républicains. Doch Peltier hatte seiner ehemaligen Partei schon zuvor eine Öffnung hin zu den Wählern Zemmours und Le Pens empfohlen. Zemmour hat den 45-Jährigen umgehend zu seinem Kampagnensprecher ernannt.

Aber noch ein weiterer Vizechef der Républicains könnte die Seiten wechseln: Gilles Platret, der sich mit kritischen Wortmeldungen zum Islam hervortut, die nicht weit von jenen Éric Zemmours entfernt sind. So warnt er die „macronistische“ Mehrheit vor den Gefahren des muslimischen „Separatismus“ und vor dem Fortbestehen islamischer Parallelgesellschaften in Frankreich, die Macron ja vorgeblich bekämpfen wollte.

Doch auch führende RN-Mitglieder wechselten bereits zu Zemmour, so der EU-Abgeordnete Gilbert Collard und der Gruppenvorsitzende im EU-Parlament, Jérôme Rivière. Man könnte sagen, dass allgemein Bewegung in die ID-Fraktion kommt, wenn man an deutsche Verhältnisse denkt. Auch Damien Rieu, der Gründer der „Génération identitaire“ und Ex-RN-Mitglied, schloss sich Zemmour an. Er warf Marine Le Pen vor, die Theorie des „remplacement“, der Ersetzung der einheimischen Franzosen durch Zuwanderer, nicht hinreichend zu würdigen. Sie spiele damit das Ausmaß der Masseneinwanderung herunter. Andere Parteimitglieder des Rassemblement national, etwas Julien Rochedy, beklagen eine gewisse Sklerotisierung der Partei, in der die Nähe zum Le-Pen-Clan viel, vielleicht alles bedeute.

Sind Mila und Marion Maréchal für Zemmour?

Doch auch in dieser Familie deutet sich eine Spaltung an, denn die Gerüchte, dass Marion Maréchal, die Nichte Marine Le Pens, sich zu Zemmour bekennen wird, reißen nicht ab. Maréchal, die den Namen ihres Großvaters seit einiger Zeit nicht mehr führt, gilt als konservativer als ihre Tante Marine und zugleich liberaler in Wirtschaftsfragen – ein Profil, das gut zu dem von Zemmour passen würde. Marion Maréchal hat nun zunächst verlauten lassen, dass sie ihre Tante nicht bei den kommenden Wahlen unterstützen werde, was Marine Le Pen als „brutale und schmerzhafte“ Erfahrung beschrieb.

Zemmour nannte Marion Maréchal „eine alte Freundin“ und eine „großartige, intelligente Frau“. 2017 hatte Marine Le Pen ihre Nichte aus ihrem Schattenkabinett ausgeschlossen, da deren Positionen nicht den ihren entsprächen. Das räche sich nun sozusagen, so Zemmour: „Marion Maréchal hat nicht dieselben Ideen wie Marine Le Pen, sie hat eine andere Vorstellung von Frankreich und von der Wirtschaft…“ Im Übrigen könne es sich nicht um „Verrat“ handeln, hier gehe es offensichtlich um Politik.

Maréchal hatte sich aus der Politik zurückgezogen, eine private Hochschule gegründet und setzt sich seither für eine Union der Rechten ein, die auch zu einer Regierungsmehrheit führen könnten. So trat sie auch 2019 auf der von Zemmour organisierten „Convention de la droite“ auf. Im Herbst reisten Zemmour und Maréchal gemeinsam nach Budapest, um Viktor Orbán zu treffen.

Daneben hat sogar Mila – eine junge Instagrammerin, die in Konflikt mit dem radikalen Islam geriet und seitdem unter Personenschutz lebt – inzwischen öffentlich darüber nachgedacht, eine „Stimme für mein Leben“, also für Zemmour abzugeben, obwohl sie politisch nicht auf der Rechten zuhause ist: „Éric Zemmour zu ermutigen geht gegen meine Werte. Aber ich werde in meinem eigenen Land dermaßen terrorisiert, dass ich mir sage, vielleicht gibt es keine andere Wahl mehr.“

Nun warnt gar Pécresse vor der „Unterwerfung“ Europas

Marine Le Pen forderte, dass ihre Gegner, wenn sie Zemmours Reihen stärken wollten, die Partei jetzt verließen. Jedes Zögern verglich Le Pen mit der islamischen Methode der „taqiya“, der Verstellung in Feindesland.

In aktuellen Umfragen streiten sich meistenteils Le Pen und die Konservative Valérie Pécresse um den zweiten Platz hinter Amtsinhaber Macron und damit um den Einzug in den zweiten und entscheidenden Wahlgang der Präsidentschaftswahlen am 24. April. Der erste Wahlgang wird am 10. April stattfinden. Macron liegt in den Umfragen derzeit bei etwa 24 Prozent, auch wenn er seine Kandidatur noch gar nicht erklärt hat. Die beiden Verfolgerinnen liegen um die 17 Prozent, Zemmour bei rund 14 Prozent.

Können die neuen Unterstützer Zemmour den nötigen Schwung geben, um in den zweiten Wahlgang vorzustoßen? Oder wird er nur Marine Le Pen so weit schwächen, dass am Ende Valérie Pécresse den Wettlauf um den zweiten Platz gewinnt? In einem Gastbeitrag für die Welt warnt sogar Pécresse vor einer „Unterwerfung“ Europas, die drohe, wenn die gemeinsamen Grenzen nicht geschützt würden. Der Ton im französischen Wahlkampf ist härter geworden, seit Zemmour die Landschaft auf der Rechten aufgebrochen hat.

Emmanuel Macron wird diesem Zeitgeist immer weniger gerecht. Insofern ist auch sein Sieg im zweiten Wahlgang vielleicht nicht mehr garantiert. Am knappsten wäre angeblich die Auseinandersetzung Macron–Pécresse mit aktuell 52 zu 48 Prozent. Bei Marine Le Pen läge der Stimmenabstand ungefähr bei zehn Prozent, bei Zemmour angeblich noch höher. Der Journalist ist ein genialer Zuspitzer und Erklärer seines Programms, wie weit er hinter sich vereinen kann, muss sich erst noch zeigen.

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