Das EU-Parlament greift nach der Macht

Eine bizarre Resolution des Europaparlamentes erklärt Ungarn zur „Wahl-Autokratie“. In Wahrheit geht es um die Macht in Brüssel – Orbán ist nur ein Vorwand. Teil 6 einer TE-Serie zur Zukunft der EU.

IMAGO / ZUMA Wire

Am 15. September nahm das Europa-Parlament mit überwältigender Mehrheit (433 Ja-Stimmen, 123 „Nein“) den sogenannten Delbos-Corfield-Bericht zur Lage der Demokratie in Ungarn an. Darin hieß es, Ungarn sei keine Demokratie mehr, sondern eine „Wahl-Autokratie“.

Es war der jüngste in einer langen Reihe von EP-Berichten zu Ungarn, immer angeführt von Grünen-Politikern: Der Tavares-Bericht (2013), der Sargentini-Bericht (2018), und nun eben der Bericht der in Großbritannien geborenen, aber in Frankreich aufgewachsenen Gwendoline Delbos-Corfield. Sie sitzt seit 2019 für die französischen Grünen im EP. Jedem dieser Berichte ging eine „fact-finding“ Mission voraus, wobei diverse Europaabgeordnete (für die verschiedenen Fraktionen im EP) in Ungarn recherchierten.

Zeit zum Lesen
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Die Entstehung des Sargentini-Berichts und des Delbos-Corfield Berichts konnte ich aus einiger Nähe beobachten. Mit Sargentini führte ich damals ein Telefon-Interview. Ihre Kernaussage: „Ungarn muss ganz anders regiert werden“. Das ist die Stoßrichtung all dieser Berichte: Sie richten sich gegen eine gewählte Regierung (und damit letztlich auch gegen die Entscheidung ihrer Wähler an den Urnen) und besagen im Grunde, dass Ungarns Regierungspolitik illegal ist. Urheber der Studie sind mehrheitlich jeweils Politiker, die als ideologische Kontrahenten der ungarischen Regierungspartei gelten. Der Schluss liegt nahe, dass diese Berichte für politische Zwecke missbraucht werden.

Was die Faktensuche betrifft, sie hielt sich in Grenzen. Frau Sargentini hatte unter anderem die „einseitige“ Besetzung des ungarischen Medienrates kritisiert. Aber auf meine Frage, ob sie denn auch dessen Urteilspraxis analysiert habe – wiederholt waren da auch Staatsmedien verurteilt worden, sowie der regierungsnahe Publizist Zsolt Bayer wegen „Rassismus“ –, erwiderte Frau Sargentini, das habe sie nicht getan. Sie habe sich auf Analysen des Europarates verlassen. Der wiederum hatte sich auf eine Studie des Helsinki Comittees verlassen, eine liberale ungarische Nichtregierungsorganisation. Es mag ja sein, dass am Vorwurf etwas dran ist, aber Frau Sargentni kann es nicht wissen, denn „Fakten gesucht“ hat sie damals zu dieser Frage nicht.

Diskreditierte Idee
Die Europäische Union nimmt Abschied
Die Delbos-Corfield-Mission erlebte ich als eingeladener Gesprächspartner. Mit einigen Vertretern regierungsfreundlicher ungarischer Medien sollte ich etwas zur Medienlandschaft sagen, in meiner Eigenschaft als früherer Ungarn-Korrespondent und jetziger Leiter einer Medienschule am Budapester Mathias Corvinus Collegium (MCC). Der Transparenz halber: Der Kuratoriumsvorsitzende des MCC ist Viktor Orbáns Direktor für politische Strategie, Balázs Orbán (kein Verwandter).

Eine Faktensuche fand nicht statt. Wir durften ein Statement abgeben. Dann folgten „Fragen“ der Abgeordneten, die aber keine Fragen, sondern ebenfalls Statements waren. Die „Frage“ der linken MEP Malin Björk lautete wie folgt: „Wie können Sie behaupten, dass es Pressefreiheit gibt, wenn das gar nicht stimmt?“ Das war keine Frage, sondern eine Behauptung: Pressefreiheit in Ungarn gibt es nicht, punktum. Auch dann nicht, wenn die Quelle für die meiste Kritik an der ungarischen Regierung in den westlichen Medien meist Berichte der regierungskritischen ungarischen Medien sind.

Die sehr große Mehrheit, mit der der einseitige Delbos-Cosfield-Bericht im Europaparlament angenommen wurde, steht auf einem anderen Blatt. Hier rächt sich, dass Fidesz nicht mehr zur Europäischen Volkspartei gehört. Auch die EVP stimmte mit „Ja“.

Herausforderungen der Europäischen Union – Perspektiven aus Ungarn
Wie frühere solche Berichte wäre der Text wohl sowieso angenommen worden, mit vielen EVP-Stimmen, aber einer weniger deutlichen Mehrheit. Früher hielt Angela Merkel eine schützende Hand über Orbán, und in der EVP gab es immer einen konservativeren Flügel, der zu Fidesz hielt. Aber in der gegenwärtigen aufgeheizten Stimmung – nicht zuletzt auch wegen dem trügerischen Bild in den Medien, Orbán drücke im Ukraine-Krieg Putin die Daumen – hätte sich die EVP mit einem Nein-Votum heftiger Kritik ausgesetzt, ohne davon politischen Nutzen zu haben.

Das Ganze ist Teil eines choreografierten politischen Manövers: Binnen weniger Tage will die EU-Kommission entscheiden, ob und welche Mittel aus dem Kohäsionsfonds sie für Ungarn zurückhält, im Rahmen des neuen Rechstaatlichkeitsmechanismus. Ungarn ist allen Forderungen der Kommission entgegengekommen, und diese schien zuletzt geneigt, Nachsicht walten zu lassen. Nach dem EP-Beschluss wird das nicht ganz einfach sein. Jeder Euro für Ungarn bedeutet fortan heftige politische Attacken aus dem Parlament und in den Medien gegen die Kommission, und gegen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen persönlich.

Das Parlament will der Exekutive seinen Willen aufzwingen. Da ist mehr im Spiel als europäische Werte: Es liegt im Interesse der maßgeblichen Figuren im EP, ihre eigene Rolle und Bedeutung aufzuwerten. Das einst als „Feigenblatt“ verspottete Parlament zeigt Zähne. In diesem Machtkampf ist Orbán ein idealer Vorwand: Ihn als Bösewicht an die Wand zu malen, das klappt immer.

Überdehnen bis zum Platzen
Die EU zählt sich selbst an
Der Grünen-MEP Daniel Freund versucht gar, den rechtlich völlig bedeutungslosen Beschluss zur Grundlage für einen Ausschluss Orbáns aus dem Europäischen Rat zu machen, also die Runde der Staats- und Regierungschefs, in der strategische Entscheidungen der EU einstimmig getroffen werden müssen.

Derweil hat Ungarns postkommunistische Oppositionspartei „Demokratische Koalition“, unter dem früheren Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, am 16. September eine „Schattenregierung“ angekündigt, angeführt von seiner eigenen Frau, Klára Dobrev. Da wird suggeriert, dass Ungarn eine Diktatur sei – und die DK hingegen die eigentliche, „legitime“ Regierung darstelle. Obwohl die DK zuletzt bei elf Prozent der Wählersympathien lag und die Opposition bei den Wahlen im vergangenen April vernichtend geschlagen wurde.

Neben alldem forcieren Liberale, Linke und Grüne, unterstützt von Teilen der EVP sowie von Frankreich und Deutschland, einen europäischen „Konvent“, um die EU zu reformieren. Ursula von der Leyen kündigte diesen „Konvent“ in ihrer Rede zur Lage der EU offiziell an. Dabei sollen die „Empfehlungen“ der „Konferenz für die Zukunft Europas“ diskutiert werden, eine jüngst abgeschlossene, einjährige Veranstaltungsreihe, bei der „europäische Bürger“ ihre Ansichten einbringen sollten. Rein zufällig kam dabei genau das heraus, was Grüne, Linke und Liberale fordern. Ich habe mir dazu schon damals besorgte Gedanken gemacht: Im Kern geht es darum, Politik künftig an den nationalen Regierungen vorbei zu machen. Und was die Bürger wollen, entscheiden künftig nicht Wahlen, sondern Algorithmen.

Eine Illusion von Berlin und Paris
Nein, die EU muss nicht Großmacht werden
Vor diesem Hintergrund einer konzertierten Offensive, um aus der EU letztlich ein förderales Gebilde zu machen, wird die Causa Orbán zum Kriegsruf, um die Truppen zu sammeln. Wofür er steht, das kann nicht gut sein, dagegen muss Europa energisch einschreiten.

Wogegen genau? Gegen eine Politik, die das nationale Interesse an erste Stelle stellt. Also das Interesse der Wahlbürger.

So lautet die Anklage gegen Orbán, wenn man die Phrasen dechiffriert.

Die Bürger in allen Ländern Europas sollten das erkennen, und sich sehr genau überlegen, ob sie das wirklich wollen: das Ende der Freiheit, ihr eigenes Schicksal als Nation selbst zu entscheiden.

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Kommentare ( 56 )

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StefanB
1 Jahr her

Der ganz überwiegende Teil der Westdeutschen kennt schon lange keine Nation mehr – jedenfalls keine eigene. Grund: Reeducation nach WKII. Im Osten Deutschlands ist es noch nicht so schlimm.

Last edited 1 Jahr her by StefanB
Riffelblech
1 Jahr her

Die satten und denkfaulen Kleinbürger der sog .westlichen Demokratien werden sich nicht die Mühe machen und über diesen langgeheegten Plan zum Untergang der letzten halbwegs funktionierenden Demokratie in Europa zum Scheitern zu bringen . In dümmlich Gedankenfaulheit ,im Nachlaufen grüner Weltphantasien ,in grausamer Ignoranz erkennt diese zur Zeit noch satte und fette Ymasse nicht was eigentlich geplant ist . Schwab , Ulrike Herrmann im Interview lassen die Katze aus dem Sack . Es wird weder Reisen ,Flüge ,Autos für die Allgemeinheit geben . Arbeit auf Minimal bezahltem Niveau ,denn mehr braucht man ja nicht ( Hermann) , gehören wird dem… Mehr

HBS
1 Jahr her

Ungarn hat den Nachteil, ein eher kleines und unbedeutendes Land in der „EU“ zu sein.
In Italien dagegen wird in einer Woche gewählt und dann möchte ich einmal sehen, wie die „Eurokraten“ damit umgehen werden, – wird es auch dort „EU-Sanktionen“ geben, wenn Italien …
Und zu Deutschland: Hier sehe ich keinerlei Besserung, denn egal wie man die Parteienlandschaft mischt, bis auf die AfD sind ALLE Parteien und ihre Medien „EU“ freundlich eingestellt

Harry Charles
1 Jahr her

DAS VOLK BESCHLIEßT: „Die EU ist keine demokratische Organisation (mehr).“ War sie noch nie. Und sie wird fallen. Getragen wird dieser Moloch doch hauptsächlich von fanatischen, weit über das Ziel hinausschießenden „deutschen“ „Wiedergutmachungsfanatikern“. Nur will der Rest wohl nicht fürsorglich belagert werden, deshalb sind die Briten auch aus dem Verein raus. Im übrigen geht der Trend in ganz Europa ganz klar in Richtung rechtskonservativ: siehe Schwedenwahl, siehe Italien, in Frankreich hat LePen ihre Stimmanteile mehr als verzehnfacht. In Frankreich hat die rechte Seite vor allem auch immer mehr Zulauf unter gebildeten, intellektuellen Jugendlichen. Und in den USA werden die Linken… Mehr

Takeda
1 Jahr her

Man muss es mittlerweile so direkt sagen, doch die einzige Diktatur die sich entwickelt, ist eine aus Brüssel geführte EU-Diktatur.

Die EU hat alle EU Länder auf den Kieker, die nur ansatzweise was mit Konservatismus zu tun haben. Die EVP hat längst ihre Werte der grünlinken Ideologie untergeordnet.

Würde es der EU wirklich um den Erhalt der Demokratie gehen, die EU hätte Deutschland längst mehr als verwarnen müssen. Nach Thüringen, Berlin, Harbarth, Haldenwang und natürlich dem ÖRR, ist Deutschland vieles, aber mit Sicherheit nicht mehr demokratisch.

imapact
1 Jahr her

Sollte es dem EU-Parlament wirklich um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gehen (was natürlich nicht der Fall ist, es geht darum, anderen Ländern die grüne Ideologie aufzuzwingen), dann stünde Deutschland längst an erster Stelle der „Prüffälle“. Wieviele regierungskritische Medien gibt es hierzulande noch? Welche Rolle spielt der sog. „Öffentlich-rechtliche“, aus Zwangsgebühre überfinanzierte Rundfunk? Wie sieht es aus mit „unabhängiger Justiz“, wenn deren höchste Vertreter mit ihren Pendants aus der Exekutive tafeln? Wer hievt die Leute in ihre Positionen? Wie verfährt man in Deutschland mit der echten Opposition? Wie hält Deutschland es mit der Demonstationsfreiheit? Wieweit ist das politische System Deutschlands noch in… Mehr

bani
1 Jahr her

Die EU zerfällt doch in Kürze. Wenn die deutschen Mrd. für den Apparat und die Verteilung ausbleiben gibt es keinen Grund mehr sich durch die sozialistische grüne Zentrale in Brüssel gängeln zu lassen. Je eher das passiert destso besser.

lkempf
1 Jahr her

Vielleicht ein letztes Aufbäumen des Marionettentheaters in Brüssel. Schweden, Italien, Spanien, Frankreich, Ungarn, Polen … sind dunkle Gewitterwolken über dem Selbstversorger-Paradies Brüssel. Diese gebündelte Masse an Unfähigkeit und Korruption inklusive EZB muß den demokratischen Willen der Nationen und Bürger spüren.

Last edited 1 Jahr her by lkempf
daniela kirnes
1 Jahr her

Zumindest ist Orban von der Mehrheit des Ungarischen Volkes demokratisch gewählt worden. Das ist bei uns in manchen Fällen eben nicht der Fall. Siehe Bundespräsident usw.

H. Hoffmeister
1 Jahr her

Die EU-Kommission wird alles daran setzen, Macht über die Nationalstaaten bei sich zu bündeln. Bis es vollbracht ist. Da werden sogar die Initiativen des bisher zahnlosen Tigers EP willkommen geheißen. Orban und Ungarn dürfen nicht einknicken.