Staatsfeind Nummer 1: der Skeptiker

Die von Skepsis befreite offene Gesellschaft ist nicht mehr offen. Der von Angst Besessene und sich nach Erlösung Sehnende kann Komplexität und Ambivalenz nicht ertragen. Wo die Skepsis endet, beginnt die Tyrannei.

Skepsis ist der Treibstoff jeder Abwägung und Bestandteil vernunftgesteuerter Entscheidungen. Ohne Skepsis verhungert die Demokratie. Das Gebot der Stunde aber lautet: Du sollst nicht zweifeln. Zweifel an den Zweiflern ist der derzeit einzige Zweifel, der von der Mehrheit der Überzeugten akzeptiert wird. Es ist zum Verzweifeln.

I.

Eine der größten Errungenschaften menschlichen Denkens ist die Skepsis. Ein Wort aus dem Griechischen – natürlich. Bei den alten Griechen ist der ein Skeptiker, der eine Sache von allen Seiten betrachtet und prüft. Denn die Skepsis ist die Mutter aller Erkenntnis. Denken heißt in Frage stellen. Erst das Hinterfragen – die Skepsis – beendete die Tyrannei des Glaubens. Es gibt keinen Wissenschaftler, keinen Philosophen, der nicht Skeptiker wäre.

II.

Heute verdrängen Emotionen das rationale Denken. Deshalb ist das einstige Vorbild, der Skeptiker, in Verruf geraten: als Impfskeptiker, als Klimaskeptiker. Der einst positiv besetzte Begriff ist zur Beschuldigung, ja zum Schimpfwort geworden. Skepsis gilt als Vergehen gegen das vermeintlich Wahre und Gute. Es fällt auf, dass Skeptiker und Leugner stets in einem Atemzug genannt werden. Der Skeptiker ist in den Augen der Überzeugten bereits ein Leugner. Das ist zwar falsch, doch dahinter steckt Absicht. Der Leugner leugnet das Virus und die Erwärmung der Atmosphäre. Der Skeptiker leugnet sie nicht. Er stellt die Wirksamkeit und den Nutzen verordneter Maßnahmen in Zweifel, setzt ihn in Relation mit den Schäden, die sie anrichten, also zum Beispiel die psychosozialen und ökonomischen Folgen der Covidpolitik. Wobei auch zwischen Skeptikern und Zweiflern fein unterschieden werden sollte. Der Zweifler bezweifelt grundsätzlich. Der Skeptiker geht davon aus, dass immer auch das Gegenteil wahr sein könnte. Er weiß, dass er nicht weiß. Der Skeptiker mag sich im Zweifel für das Impfen entschieden haben, lehnt es aber ab, seine Entscheidung zum Maß für andere zu machen. Schon gar nicht lässt er sich die Ansicht andrehen, die weisesten Ratschlüsse kämen grundsätzlich von dafür zuständigen Stellen.

III.

Die Überzeugten dagegen wissen immer alles besser, weshalb sie immer kurzatmiger in Sackgassen rennen und für die Folgen die Skeptiker verantwortlich machen. In Wahrheit produziert der Mangel an Skepsis die größten Versäumnisse: So machen wir das, Schluss der Debatte. Die Überzeugten sehen in der Skepsis eine Art Sepsis – eine bedrohliche Blutvergiftung des Kollektivs. Sie selbst aber vergiften die Debatte. Sie halten den eigenen Konformismus für eine Tugend. Sie glauben zu wissen, aber sie wissen nicht, sondern glauben, weshalb sie sich gegenüber den Skeptikern als Moralisten aufspielen. Sie glauben, dass man dem Skeptiker nur seine Zweifel nehmen müsse, um ihn auf den richtigen Weg zu bringen. Weil sie ihn nicht überzeugen können, wollen sie ihn belehren. Und weil auch das nicht hilft, machen sie ihm ein schlechtes Gewissen. Nächster Schritt: Wer nicht hören will, soll fühlen: Daher die sinnlose Schließung von Weihnachtsmärkten oder Skipisten. Schließlich das Androhen des nächsten Lock Down. Es ist die Spirale des Totalitären.

IV.

Es stellt sich die Frage, ob die Gegner des Skeptizismus intellektuell beeinträchtigt sind oder nur denkfaul. Auf jeden Fall wählen sie den bequemeren Weg. Steinmeiers: „Wir leben im besten Deutschland, das es jemals gegeben hat” ist ein von aller Skepsis befreiter Satz. „Wir haben alles richtig gemacht“ (Söder zu den Coronamaßnahmen im Frühjahr 21) ist eine irrsinnige Anmaßung. Gut, es ist nicht jeder zum Denken geboren. Mancher nur zum Führen. Wie soll ein Politiker kraftvoll führen, solange er seine eigenen Politik skeptisch sieht. Dies allerdings ist ein zentrales Problem der Politik. Die meisten Wähler wollen keine skeptischen Politiker. Im Gegenteil, sie wollen von ihnen von ihren eigenen Zweifeln befreit werden. Keine Debatten. Wissen, wo es lang geht. Klare Kante. Als stark gilt der Unbeirrbare, nicht der Skeptiker.

V.

Erst recht, wenn der Angstpegel steigt – ob bei Covid19 oder beim Klimawandel. Nach einer Umfrage der Oxford-University glauben 53 Prozent der jungen Bürger der EU und Großbritanniens, dass autoritäre Staaten mit der Klimakrise besser zurecht kommen. Das ist beängstigend. Doch wer an das Ende der Menschheit glaubt, kann gar nicht anders, als an der Demokratie zu zweifeln – und zu verzweifeln. In einer Vernunft und Freiheit erstickenden Atmosphäre zählt nur noch der Gleichschritt. Die von Skepsis befreite offene Gesellschaft ist aber nicht mehr offen, weder intellektuell noch technologisch. Verbrennerverbot – nichts sonst, Impfpflicht – nichts sonst. Der von Angst Besessene und sich nach Erlösung Sehnende kann Komplexität und Ambivalenz nicht ertragen. Leider wird die Welt immer unübersichtlicher. Gerade deshalb sollten Demokratien nicht von Leuten geführt werden, die Skepsis bekämpfen. Wo die Skepsis endet, beginnt die Tyrannei.

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Kommentare ( 76 )

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horrex
2 Jahre her

Jahre ist es schon her, dass ich hier und anderen Ortes die Meinung vertrat, dass wir einen back-swing in ein „voraufgeklärtes Zeitalter“ erleben. -Und beschrieb die Situation mit „Sunt pueri pueri, pueri puerilia tractant“. In meiner Übersetzung: „(Pubertierende) Kinder tun Kindliches.“ Sie bedenken – ganz kindlich – weder die Folgen ihres Tuns, noch übernehmen sie die Verantwortung für die Folgen dessen was sie tun. – (Siehe „Die kindliche Gesellschaft“, meinen mehrfachen Hinweis auf das Buch von Robert Bly.) Bei Kindern existiert kein Platz für Skepsis. Da gibt es nur Angst oder Begeisterung. Und nichts dazwischen. Skepsis wächst erst mit der… Mehr

moorwald
2 Jahre her

Auch Lichtenberg hat sich (natürlich) zum Thema geäußert. Er spricht von „Zweifel“ statt Skepsis, meint aber offenbar letztere.
Zweifel dürfe nur Wachsamkeit sein – sonst werde er gefährlich. – Wobei er die Gefährlichkeit nicht näher charakterisiert. Dürfte aber wohl meinem Einwand nahekommen.

a.bayer
2 Jahre her

Der „Klimaleugner“, ist (zumindest bei mentaler Gesundheit) lediglich jemand, der den hysterischen Umgang mit fossiler Energie und mit Kernenergie kritisiert- also die laut Wallstreet Journal „dümmste Ernergiepolitik der Welt“. Damit macht er sich zum Erzfeind sowohl der drei großen deutschen Windmühlenhersteller, ihrer politischen Lobby und derjenigen Anleger, die in nachhaltige Energien investiert haben. Die finden Sie in allen Parteien, die Wohlhabende als Mitglieder und Wähler rekrutieren! Deshalb -wegen des möglicherweise entgangenen Reibachs- werden Sie als Skeptiker von allen Seiten versohlt, nicht wegen einer „Klimakatastrophe“!

Soder
2 Jahre her

Der Wahlkampf ist vorbei. Die FFF mit an der Macht.Hüpfen vorläufig vorbei.

Walde
2 Jahre her

Sie sollten mal versuchen ein paar kausale Stufen zuvor skeptisch sein, dann verpufft die Skepsis zur Schließung von Skipisten…genau das hat der Autor nämlich mit „denken“ gemeint.
LdV
„die einen sehen, die anderen sehen was ihnen gezeigt wird und dann gibt es noch welche die sehen nichts.“

moorwald
2 Jahre her

Skepsis ist gut – aber ich muß sie mir leisten können. D.H. fest auf meinen beiden Beinen stehen. Und in der Liebe komme ich mti Skepsis nicht weit…
Skepsis steht der Verneinung nahe. Von Verneinung allein kann man nicht leben.

Warte nicht auf bessre zeiten
2 Jahre her
Antworten an  moorwald

Skepsis hat nichts mit Verneinungen zu tun, sondern mit dem Hinterfragen von vermeintlichen Sachverhalten, von vermeintlicher Evidenz. Liebe ist Hingebung und hat nichts mit dem Erfassen von Sachverhalten zu tun. Das sind zwei vollkommen unterschiedliche Ebenen unseres Daseins. Ob aber etwas Liebe oder etwas anderes ist, da ist auch Skepzis angebracht, denn hier geht es wieder um eine Sachverhaltsfrage.

mimi
2 Jahre her

Lieber Hr. Herles,
vielen Dank für diesen wunderschönen Arrikel.
Besser kann man die gegenwärtige Situation nicht beschreiben. Ich hoffe, daß eine erkleckliche Menge mündiger Bürger Ihre, ja fast philosophische Analyse zu Würdigen wissen….

Kanahlen
2 Jahre her

Wunderbarer Artikel. – Skepsis gleich Sepsis am Kollektiv.

littlepaullittle
2 Jahre her

Und die Gefahr von Skepsis ?
Endscheidungslose Laehmung ? Ein Esel, der zwischen zwei Futtersaecken verhungert, weil er sich nicht entscheidet ?
Auch Skepsis muss sich entscheiden. (Probleme „Aussitzen“ koennen sich nicht alle Menschen erlauben!)
Skepsis ist Pflicht und Kuer.
Jedoch fehlt die Kultur zum Eingestaendnis von Fehlentscheidungen.
„Vorwaerts immer, ……..“
Eine Diktatur aus Zuckerbrot und Peitsche definiert sich nur durch die Qualitaet des Zuckers und das Kaliber der Peitsche.
Zu viele „weisse Flecken“ auf der Landkarte der Erkenntnis.
Somit noch mehr Grund zur Skepsis.

Axel Fachtan
2 Jahre her

Parteipolitik kann wenig zur Verbesserung der Lebenssituation der Bürger beitragen. Es bessert die Lebenssituation einiger weniger Zehntausend Akteure. Für den Rest bringt es wenig bis nichts. Es gibt eben Leute im Bundestag, die so verdienen, wie sie in normalen Berufen nicht verdienen können. Diese wenigen Zehntausend Akteure können mit der Skepsis von 82 Millionen nichts anfangen. Das ist nur Sand im Getriebe ihrer Karriere. Wer uns künftig schlecht regiert verdient ein bisschen mehr als derjenige, der uns in der Vergangenheit schlecht regiert hat. Gefühlt war eine gute Politik fürs Volk von 1949 bis in die 1970er Jahre möglich. Danach war… Mehr