Bald auch „Die Zeit“ ohne Martenstein?

Der hochgelobte Tagesspiegel-Kolumnist Harald Martenstein hat hingeschmissen, nachdem seine Kolumne gelöscht wurde. Seinen Platz dort hat er schon lange verloren.

IMAGO / Horst Rudel
Harald Martenstein

Was habe ich Harald Martenstein beneidet! Jahrzehntelang galt er als der Star-Kolumnist von Zeit und Tagesspiegel; ich habe ihn für seinen leichten Ton beneidet, bei mir wird’s ja oft zu sehr Holzhammer. Für seine Eleganz, mit der er Alltagsprobleme in grandiose Texte ummünzte, und immer war es eben ein „genau, ist mir auch schon so passiert“, bloß habe ich mich mehr geärgert. Egal ob Kindererziehung oder drohender Weltkrieg, Martenstein füllte Weltprobleme in Pralinenschachteln um. Das Schwere wurde leicht bei ihm, statt Konfrontation war es immer ein wenig Konfusion, die sich im Schmunzeln auflöst.

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Aber natürlich habe ich ihn in erster Linie um sein Publikum beneidet. In Martensteins Lesungen saßen die Klugen und die Schönen, Letztere mit diesem Schmelz im Blick, mit dem sie den schmalen, fast scheuen Mann bewunderten. Unsereiner musste ja über Wirtschaft schreiben; da hören eher die Gierigen zu und nicht die Damen mit dem alternativen Ohrgehänge und dem feinen Sinn für Schönheit und Oper. Bei Konjunktur hält sich Begeisterung in Grenzen und Träume zerrinnen da in drögen Statistiken.

Bei Martenstein verwandelten sich die Fundstücke des Alltags in eine geschriebene Operette, bloß ohne Wiener Schmäh. Er bleibt bei diesem trockenen Ton, der den Schmäh im Kopf entstehen lässt.

Aber verziehen. Es ist lange her. Es ist so lange her wie diese gemütliche Bundesrepublik. Da gab es einen großen Menschenzoo, das war hinter der Mauer dieses Berlin. Es war da etwas eng, aber gemütlich, die Restaurants delikater als im Rest der Republik, wo das Leben schneller hastete, weil dort das Geld verdient werden musste, das in Berlin ausgegeben werden konnte. In dieser Nischenexistenz glänzte Martenstein, warf seinen milden Blick auf die Hastenden und Getriebenen.

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Irgendwann ist er aus dieser Nische herausgefallen. Oder hat er es bemerkt? Dass er in der Nische hauste? Seine Kolumnen wurden präziser, genauer, kritischer. Sie beschönigten nicht mehr die Politik, sondern analysierten sie. Der Ton war immer noch leicht, wie nebenbei erzählt, aber die Gegenstände schroffer. Das färbte wieder auf den Ton ab. „Nettsein ist auch keine Lösung“, so der Titel seines Buches von 2016 (er schreibt praktisch jedes Jahr eines).

Martenstein begann, sich den Themen zu nähern, die da in seine Nische drängten: Massenmigration und der Jubel darüber, beispielsweise. Martenstein wuchs daran. Aus dem Literaten wurde ein Anker. Ein Anker, der die nach links dümpelnde Zeit und den richtungslosen Tagesspiegel schön schrieb für die zunehmend irritierte Leserschaft. Die Kaufleute im Unternehmen ersetzten in der Schlange die Verehrerinnen. Kaufleute haben bekanntlich nur Schmelz in den Augen, wenn sie rote in schwarze Zahlen sich verändern sehen. Martenstein stand dafür, dass die schmelzenden Abos nicht zu schnell zum Hochwasser wurden, er hielt die alten Leser bei der Stange.

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In den Chefredaktionen sah man das nicht so gerne. Schon Anfang der 2010er nannte man ihn dort den „grumpy old man“. Mit seiner Grantlerei störte er den rotgrünen Wohlfühlton; die feine Melodie, die vom Glück der Migration und vom Unglück des Kapitalismus erzählt; vom grenzenlosen planetarischen Glück, das zum Greifen nahe scheint, wenn man ein sicheres Gehalt bezieht und zum Bio-Wein in den altgewordenen Blättern raschelt. Nur wollen muss man das Glück, sich befreien von den Widrigkeiten dieser Wirklichkeit, die man doch in den Blättern weglügt.

Martenstein wurde zum Anstoßstein.

Und irgendwann musste es dann auch genug sein. Martenstein fabulierte in seinem leichten Ton, dass Ungeimpfte, die sich mit dem Judenstern schmücken, vielleicht gedankenlos seien und sogar „dumm und geschichtsvergessen“. Aber nicht antisemitisch.

Auweia, Martenstein, das war ein Griff ins Klo.

Denn natürlich sind Impfgegner alles, sie bündeln in ihrem verdammungswürdigen Sein auch Reichsbürgertum, Rechtsradikalismus, Querdenken und sonst was.
Und weil es noch nicht reichte, bemerkte Martenstein, dass die angeblichen Linken, die auf Demos zur Vernichtung Israels aufrufen, etwas gefährlicher seien.

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Doppel Auweia, Martenstein, noch eine Lehre vergessen: Nazi-Vergleiche dürfen nur von Linken auf Rechte angewandt werden. Niemals umgekehrt, denn die Geschichte kennt nur eine Richtung: nach vorne, dahin wo links ist.

Jetzt also wurde die Kolumne gelöscht, im Tagesspiegel. Man sieht geradezu, wie es in Hamburg qualmt und raucht. Darf so einer in der Zeit schreiben, der es im Tagesspiegel wegen Rechtsabweichlertum nicht mehr darf? Vergiftet er auch das rotgrüne Wohlfühlklima über Hamburg und dem Rest der Republik außerhalb von Berlin-Wilmersdorf, dem Stadtteil der verwitweten Tagesspiegel-Leserinnen?

Tagesspiegel und Zeit gehören wie das Handelsblatt in das Reich des greisen Dieter von Holtzbrinck. Der kam gerade in Berlin in die Bredouille, weil die Berliner Zeitung zu berichten wusste, dass im Tagesspiegel Unternehmen schön geschrieben wurden, an denen Holtzbrinck „Media for Equity“-Anteile erworben hat. Hinter dem Begriff verbirgt sich, dass Holtzbrinck nicht Cash für Firmenanteile bezahlt, sondern redaktionelle Werbung als Kaufpreis anbietet. Also wird in den Holtzbrinck-Blättern der Firmenwert hochgeschrieben. Das ist meist mehr wert als ein paar lumpige Euros, weil redaktionelle Empfehlung für fragwürdige „Ventures“ üblicherweise nicht kaufbar ist.

Das ist die harte Welt, die nun doch den Schönschreiber Martenstein einholt. Der harte Blick der Kaufleute: Der Ruf des Tagesspiegel im linken Mainstream ist ruiniert wegen dieses Bimbes. Man braucht ein Opfer, um Wohlanständigkeit zu demonstrieren.

Willkommen im Club, Martenstein. Da gehörst Du schon lange hin.



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Kommentare ( 110 )

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Fred Katz
2 Jahre her


Fragen Sie doch mal beim TS an, warum über Sigmar G. immer so positiv berichtet wurde, er ein Traum-Honorar für bizarre Gastartikel bekam, obwohl er maßgeblich an der verfahrenen Situation mit Gazprom beteiligt war!
Warum wurde im Tagesspiegel nie die Wahrheit über die Geschäfte mit Gazprom geschrieben?
Was trieb Merkel, gefeierte Langstrecken-Kanzlerin, dazu, uns Putin derart auszuliefern?

Johann Gambolputty
2 Jahre her

Sehr geehrter Herr Tichy,

versuchen Sie den Herrn als Kolumnist für TE oder wenigstens als Gesprächspartner für Tichys Ausblick zu engagieren.
Ein Altlinker der für das freie Wort eintritt (und auch noch schreiben kann) ist eine Kuriosität, die es dem Publikum zu zeigen gilt.

PM99
2 Jahre her

Und noch eine kleine Ergänzung: Natürlich leben wir im besten und freiesten Deutschland, das es je gab. Das können eigentlich nur noch Bekloppte oder, sorry Herr Bundespräsident, Autokraten glauben. Wer auch nur einen Millimeter von der von der Partei- und Staatsführung und den mit ihnen innig verbundenen Medien vorgeschriebenen Einheitsmeinung abweicht, wird unweigerlich bestraft. Vorerst nur durch Löschung seiner Texte, bald vielleicht schon durch persönliche Auslöschung. Und wer das für übertrieben hält, mal sehen, was Ihr dazu in 15 oder 20 Jahren sagt.

Schlagsahne
2 Jahre her

Zur Erinnerung: es war der Tagesspiegel, der sich angesichts der Übergriffe zu Sylvester in Köln nicht entblödete, zu behaupten, dass Rechte ihre Bräute absichtlich zum Begrapschen dorthin geschickt hätten…
Und es gab genug Leser, die diesen Unsinn geglaubt haben. Habe selbst fassungslos erlebt, wie ein befreundeter Siemens Manager mir das ernsthaft verklickern wollte.

Oneiroi
2 Jahre her

Man wird Martenstein nahe legen sich zu entschuldigen. Da kommt es darauf an, wie tief er in der woken bubble drin steckte und ob er die Zersetzungtaktiken kennt. Wenn er auf die Falle mit der Entschuldigung reinfällt, ist das ein Schuldeingeständnis und er wird von den MSM offiziell als unberührbarer Antisemit geführt. Spielt absolut keine Rolle, wie er sich entschuldigt, oder was er sagt….man wird es entsprechend framen oder faken. Das Klügste wäre einfach den Hut zu nehmen und eine Weile zu schweigen, oder sich bei den Alternativen Machern ein Plätzchen zu suchen oder wie andere Journalisten einen eigenen Blog… Mehr

Fred Katz
2 Jahre her
Antworten an  Oneiroi

Martenstein hat ja von sich aus gekündigt, weil er, insbesondere bei BDS, Antisemiten als solche bezeichnen können will!

Fred Katz
2 Jahre her

Auweia, Martenstein, das war ein Griff ins Klo.Denn natürlich sind Impfgegner alles, sie bündeln in ihrem verdammungswürdigen Sein auch Reichsbürgertum, Rechtsradikalismus, Querdenken und sonst was. Also, Martenstein ging nie so weit, wie Tichy und Freunde! Martenstein war nicht früher ultrakonservativ, wie einige Gastautoren hier, die plötzlich nach „Freiheit“ lechzen, früher aber eher dem Papst nahe standen oder Eva H. Wenn Martenstein, der ja abstufen wollte, damit BDS als das erkannt wird, was es ist, ins Klo greift, dann sind 9/10 Artikeln hier eine mit gülle betriebene Biogasanlage! Herr Tichy, ja, sie konnten es früher mal, wie Martenstein, eher deutlich besser!… Mehr

Ali
2 Jahre her

„Ich will das Ihr wütend werdet!“
https://www.youtube.com/watch?v=3xfnIJ2MAqw

So einfach ist das. Nein, so einfach wäre das wenn die Menschen endlich einmal alle ihren Hintern hobekämen.

Und nein, das ist keine Verschwörungstheorie. Es hat schon in diesem Film gestimmt und es stimmt bis heute immer noch! Mittlerweile ist diese westliche Welt, besonders die Deutsche schon so bekloppt, das sie nicht einmal mehr einen Unterschied zwischen Männlein und Weiblein sehen wollen.

Diese Gesellschaft inst klrank und die Krankheit ist anerzogen!

horrex
2 Jahre her

Und noch eine Erinnerung an alte Zeiten: Schon Mitte der Zehner-Jahre vertrat ich in Tichys „Chefblog“ der WiWo vehement die Ansicht, dass wir stramm auf eine „Ochlokratie“ zu gehen. (Pöbelherrschaft, die Degeneration der Demokratie, siehe Plato, Politeia, Staaaten-Cyclus). – Wir sind heute längst mitten drin. – Der Pöbel wählt sich aus seinen Reihen die Mittelmässigsten und macht sie zu seinen An-Führern. Womit die systematische Degeneration des Landes, der Infrastruktur, der Wirtschaft, funktionierender geordneter sozialer und Bildungs-Strukturen eigeleitet ist. – Vom beneideten Weltmeister in zig Disziplinen sind wir unter diesem Regime der Mittelmässigkeit längst zur Lachnummer geworden. Und darüber hinaus zum… Mehr

WandererX
2 Jahre her

Heute wird eben dort, wo sich die politischen Mächte zentrieren, primär Symbolpolitik und Symboldenken betrieben, d.h nur noch (weiblich?) gefühlt, gefühlt, was „sich gehört“ (altneuer Konservatismus der Biederen). Dieses Denken gab es natürlich immer schon, nur hat das heute die ehemailgen Schaltstellen inteligenter Kreise radikal erfasst und oft schon zerfressen. Das gilt für Medien, mache Unifakultäten, Institute usw. gibt es einen Ausweg? Ja, alternative Plattformen gründen und sehen, dass dort keine Quotenregeln gelten und kein allzu grosses Geld verdient werden kann, denn dorthin wollen die Opportunisten beiderlei Geschlechts.

MaximilianMueller
2 Jahre her
Antworten an  WandererX

In irgendeinem Forum hat jemand kürzlich geschrieben: Take women out of any responsible position and watch the West renew itself in 5 years

Der Meinung bin ich inzwischen auch.

Theophil
2 Jahre her

Als ich noch Zeit-Abonnent war, wurde mir schnell klar: Der Mann ist nicht links, nicht rechts, sondern einfach nur gescheit. Dass das über kurz oder lang den Neid und das Ressentiment der Dummen auf den Plan rufen wird, war ebenso klar. Erstaunlich eher, dass es so lange gedauert hat.

Fred Katz
2 Jahre her
Antworten an  Theophil

Naja, die Zeit gehörte einst zu Bertelsmann, dann Bucerius, dann denen zu Holtzbrinck. Mit der Flunkergräfin wurde die Zeit verspielt, nichts war so, wie es schien…. Die Holtzbrincks dagegen, obwohl eine der reichsten Familien Europas, pflegen mit der Zeit und dem TS zwei sehr linke Zeitungen, wobei nichts von dem, was da verkündet wird, auf die Besitzer bezogen, ernst gemeint ist! Wenn eine Familie einerseits hohe Steuern für Reiche fordert, privat aber die eigene Steuerlast, soweit möglich, legal optimiert, dann ist da auch Platz für Paradiesvögel! Nur mit BDS will sich halt kein Verlag anlegen! Und Martenstein nennt Antisemiten beim… Mehr