Wie der Krieg die Visegrád-Gruppe verändert

Nach der Migrationskrise 2015 wurde die Visegrád-Gruppe – das sind Ungarn, Polen, Tschechien, Slowakei – zu einem Machtfaktor in der EU. Aber der Ukraine-Krieg krempelt auch hier alles um.

IMAGO / NurPhoto
Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán beim Visegrád-Treffen in Kattowitz am 30. Juni 2021.

Inzwischen kennt sie fast jeder in Europa: die Visegrád-Gruppe der zentraleuropäischen Länder Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn (V4). In der Migrationskrise ab 2015 wurde dieser Block zu einem echten Machtfaktor in der EU. Politisch gab diese „Ost-EU“ den Westeuropäern oft Kontra. Unter dem Druck ihrer Argumente und Handlungen (etwa Ungarns Grenzzaun) änderte sich die europäische Migrationsdebatte. Die EU-Kommissionsvorsitzende Ursula von der Leyen verdankt (auch) den V4 ihren Job, der ursprüngliche Spitzenkandidat Manfred Weber stolperte über seine konfrontative Haltung gegenüber den Mitteleuropäern.

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Die 1991 gegründete Gruppe hatte ursprünglich den Zweck, sich gemeinsam auf den EU-Beitritt vorzubereiten. Nachdem dieser erreicht war, versank die Visegrád-Kooperation in der Bedeutungslosigkeit. Die einzelnen Länder waren eher bemüht, jeder für sich Deutschlands bester Freund zu werden, als in der EU gemeinsame Interessen durchzusetzen. Das änderte sich 2015, als die Sichtweisen in West- und Osteuropa in der Schicksalsfrage der Migrationspolitik radikal auseinander klafften. Die Mitteleuropäer erkannten, dass sie nur gemeinsam eine Chance hatten, sich zu wehren. Sie bauten die V4 zu einem engen Bündnis aus, stimmten sich vor jedem EU-Gipfel ab, vertraten gemeinsame Positionen zu den verschiedensten Fragen.

Polen war und ist die stärkste Kraft in dieser Gruppe, gemessen an seinem wirtschaftlichen Gewicht und seiner Bevölkerung. Die stärkste Stimme war aber die des ungarischen Premiers Viktor Orbán.

Die Visegrád-Gruppe gewinnt als Verbund von Frontstaaten an Bedeutung

All das hat sich binnen weniger Tage geändert. Zwar ist es immer noch Mitteleuropa, das auch in dieser Krise den Ton angibt und die Debatten in der EU vorantreibt. Beispielsweise, als acht „osteuropäische” Länder forderten, die Ukraine im Eilverfahren in die EU aufzunehmen. Das EU-Parlament machte sich diese Forderung zu eigen, Kommissionsvorsitzende Ursula von der Leyen gab dazu Lippenbekenntnisse ab mit Hinweisen auf lange Verfahrenszeiten. Die Dynamik aber kam aus Mitteleuropa.

Visegrad
Das Visegráder Viererbündnis V4 geht wahrscheinlich seinem Ende entgegen
Anders als bei früheren Initiativen aus der Region war Ungarn diesmal eher unter den Nachzüglern, Polen ganz klar die Lokomotive vor dem europäischen Zug. Jenes Polen, dem die EU in der gegenwärtigen Krise Finanzmittel aus dem Covid-Hilfsfonds verweigert wegen Problemen bei der „Rechtsstaatlichkeit”. Jenes Polen, dem die EU Strafgelder von täglich 1,5 Millionen Euro aufgebrummt hat, 500.000 deswegen, weil es noch Braunkohle fördert, und eine Million, weil es ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes bezüglich seines Justizsystems nicht implementiert.

Auch in Sachen Waffenlieferungen für die Ukraine haben sich ostmitteleuropäische Staaten mit Feuereifer ins Gefecht gestürzt, Polen wollte gar Kampfjets liefern. Darauf hat man nun verzichtet, nachdem klar wurde, dass das zu riskanten Reaktionen Russlands führen kann. Ungarn hingegen will weder Waffen liefern noch Waffentransporte an die Ukraine über sein Gebiet erlauben.

Das pragmatische Ungarn verliert gegenüber dem russlandfeindlichen Polen an Gewicht

Es gab einen kurzen Augenblick, am 4. März, da schien es fast, als seien die V4 noch da als gestaltende Kraft in dieser Krise. Da hatte die EU eine Direktive vorgeschlagen, um EU-weit allen Flüchtlingen aus der EU das Aufenthaltsrecht zu geben. Vielleicht als Sorge, dieses Vorgehen könnte später ausgeweitet werden auf Flüchtlinge aus aller Herren Länder, erklärte Kanzleramtsminister Gergely Gulyás. Ungarn „und die Länder der Visegrád-Gruppe“ seien dagegen. Der Schutz, den die Flüchtlinge in Ungarn genießen, genüge vollkommen.

Wahlkampf in Ungarn
Garantiert der Ukraine-Krieg Orbán einen Wahlsieg?
Am nächsten Tag aber schloss sich Ungarn der Initiative an. Ob es tatsächlich vorübergehend koordinierten Widerstand aus der V4-Gruppe gab, ist nicht ganz klar, öffentlich wurde es jedenfalls, außer von Gulyás, von niemandem ausgesprochen. Insgesamt ergibt sich für die Mitteleuropäer in der EU eine neue Dynamik: Als Frontstaaten genießen sie ein neues Ansehen in der EU, als Nato-Länder mit Grenzen zum Kriegsschauplatz werden sie zum besten Argument für eine Stärkung der Verteidigungsbereitschaft des Bündnisses. Ungarn jedoch, mit seiner vorsichtigen und pragmatischen Reaktion auf die Krise, spielt derzeit nicht mehr die erste Geige im Konzert der Mitteleuropäer.

Verstärkt wird der Effekt durch die Tatsache, dass nach Regierungswechseln in Tschechien und in der Slowakei Orbáns politische Verbündete in jenen Ländern nicht mehr an der Macht sind. Das Bündnis war in mancher Hinsicht zuletzt zu einem polnisch-ungarischen Schutzbündnis geworden, um einander zu unterstützen gegen Rechtstaatlichkeits-Vorwürfe aus Brüssel und gegen Bestrebungen, die Kompetenzen der Nationalstaaten noch weiter zu beschneiden.

Jetzt aber tritt die große Bruchlinie zwischen Polen und Ungarn in den Vordergrund: die Haltung gegenüber Russland. Polen ist traditionell russlandfeindlich, Ungarn pragmatischer eingestellt.

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Kommentare ( 24 )

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Johann Thiel
2 Jahre her

Polen verhält sich in diesem Konflikt völlig verantwortungslos, Ungarn macht wie stets eine umsichtige Politik.

RUBBERDUCK
2 Jahre her

Niederlagen für Polen & Ungarn in Brüssel / Luxembourg ! Gegen die am 16/12/2020 vom Europäischen Parlament & dem Rat erlassene Verordnung, mit der eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union bei Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat eingeführt wurde, erhoben Polen & Ungarn vor dem Gerichtshof der EU jeweils Klage auf Nichtigerklärung. In seinen Urteilen, C-156/21 – Ungarn, C-157/21- Polen, wies das Plenum des Gerichtshofs im Februar 2022 die Klagen mit der Begründung ab, daß dieser Mechanismus auf einer geeigneten Rechtsgrundlage erlassen wurde, mit dem Verfahren nach Art. 7 EUV vereinbar ist. sowie im… Mehr

dubium
2 Jahre her

Ist es nicht in fast allen Staaten der Welt so, dass die unmittelbaren Nachbarn sich selten innigst lieben? Die etwas größere Zuneigung gibt es erst wenn die Länder weit genug voneinander entfernt sind und nie in ihrer Geschichte gemeinsame Grenzen hatten, wohl aber gemeinsame Feinde.
Das ist durch Jahrtausende geführte Kriege und Grenzstreitigkeiten zu erklären, von denen heute niemand mehr genau weiß, wer angefangen hat.
Tourismus, Schüler- und Studentenaustausch, ja, auch EU und NATO haben da einige Wunden geheilt, aber diese Heilung ist fragil.

bkkopp
2 Jahre her

Zur EU-Aufnahme der Ukraine, neben allen rechtspolitischen Unmöglichkeiten, gibt es auch die wirtschaftlichen. Den Visegrad-Ländern, und allen anderen Netto-Empfängern, sollte man sehr deutlich vorrechnen, dass jeder € den die Netto-Zahler für die Ukraine mehr zahlen müßten, durch einen € weniger für jeden Netto-Empfänger ergänzt werden müßte. Die sich ergebende Milliardenschätzung würde die Begeisterung der Visegrad-Länder nicht nur dämpfen, sondern auslöschen.

jukkad7133
2 Jahre her

Polen=Opportunismus>> Den Polen ging und geht es immer um den eigenen (monitären) Vorteil, hassen krankhaft Deutsche und Russen, stecken aber gern die 40 Mrd. EUR jedes Jahr an Subventionen (größtenteils von Deutschland) ein. Wir könnten auch 100 Mrd. EUR an Polen überweisen, dass Ergebnis wäre immer dasselbe. Sie hatten/haben den USA immer wieder klar gemacht, dass sie von den Russen überfallen werden (Gefahr in Verzug). Und hocherfreut stimmt(e) das Ergebnis: Die USA haben Soldaten nach Polen geschickt. Jetzt lässt es sich erst so richtig provozieren, schön abgesichert durch amerikanische Soldaten. Ungarn=Pragmatismus>> Ungarn hat schon immer eine weitsichtige agierende, anderen weit… Mehr

Last edited 2 Jahre her by jukkad7133
Urbanus
2 Jahre her
Antworten an  jukkad7133

Sehr gute Analyse.

Roland Mueller
2 Jahre her

Wie gut sich Tschechen und Polen verstehen, kann man im ehemaligen Teschen beobachten, wenn sich bei der Polen-Radrundfahrt im tschechischen Teil von Teschen demonstrativ keine Zuschauer blicken lassen.

voice from Poland
2 Jahre her

„Polen und Tschechen pflegen tiefste Verachtung füreinander.“ mit Verlaub, aber das ist Quatsch.

EinBuerger
2 Jahre her

Polen ist traditionell russlandfeindlich, Ungarn pragmatischer eingestellt.“:
Genau so ist es. Ungarns Haltung halte ich für die schlauere, allerdings ist Ungarn viel kleiner.

Urbanus
2 Jahre her

Polen steht fest an der Seite der USA. Es ist das wichtigste Land der NATO an der Ostflanke.

EinBuerger
2 Jahre her
Antworten an  Urbanus

Polen steht vor allem so fest an der Seite der USA, weil Polen hofft, dass die USA auch immer so fest an der Seite von Polen steht.
Was auf Dauer nicht so sicher ist.

EinBuerger
2 Jahre her
Antworten an  EinBuerger

Polens geographische Lage ist auch nicht ganz so optimal. Und dazu kommt dann noch Mut und Tunnelblick und „große Träume“.
Eigentlich hat man es in der Geschichte immer den Deutschen in Italien nachgesagt, dass sie für die italienische Politik zu geradlinig und zu blöde sind. Aber das Gleiche kann man auch zu den Polen in der Weltpolitik sagen.
Die Ungarn unter Orban handeln da viel rationaler und pragmatischer.

Ferenc Kohlbass
2 Jahre her

Das mag sein, als Deutscher in Ungarn sehe ich die Sache pragmatischer, wie die Ungarn genau gesagt. Orbán hat diesmal eine gemäßigte Position und sollte mäßigend auf die einwirken, die im Übereifer Waffen schicken wollen. Was Slowaken und Tschechen betrifft, sehe ich diese als Opportunisten an. Zum Gelingen der Wende 89/90 haben sie wenig beigetragen. Den historischen Wandel haben Ungarn, Polen und natürlich Gorbatschow bewirkt.