Das kurze Gedächtnis der SPD und der Untergang des linken Lagers

SPD und Linke sind die Verlierer der Wahl in Berlin, wenn man von der FDP absieht, deren Zukunft wohl vorbei ist. Im „progressiven Lager“ gibt es nur einen Sieger: die Grünen. Denn SPD und Linke haben ihre Wählerbasis aufgegeben und die soziale Frage auf den Müll geworfen zu Gunsten grüner Träume.

IMAGO / IPON

Respekt für Franziska Giffey. Statt dem üblichen Geschwätz der Wahlverlierer sagt sie ganz klar: „Die SPD ist nicht die Nummer 1, vielleicht nicht mal die Nummer 2.“  Die Berliner – sie redet brav auch immer von …innen, seien „nicht zufrieden“ mit der SPD. „Die wünschen sich was anderes.“ So weit redet sie mit ihrer leisen Stimme, so atemlos, so leise ist es im Saal; so ein Eingeständnis kennt man sonst nicht. Sonst geben sich Verlierer ja immer als Sieger aus. Darauf verzichtet Giffey.

SPD in der Trotzphase

Aber dann kommt die Trotzphase. Die SPD habe nur ein Jahr Zeit gehabt, jammert sie. Das sei kurz. Zu kurz in einer Phase so vieler Krisen. Auch SPD-Chef Lars Klingbeil singt das Lied der Vergesslichkeit.

Wie bitte? Die SPD regiert in Berlin seit 20 Jahren. Ist das jetzt eine ganz neue SPD, eine ohne Vergangenheit? Hat sie sich neu erfunden unter Franziska Giffey? 

Das hat sie natürlich nicht. Giffey muss die Suppe auslöffeln, die die SPD vor ihr mit den Koalitionspartnern von Grünen und Linken angerichtet hat. Und sie muss auslöffeln, dass im Bund entschlossen eine Politik gegen die Bevölkerung geführt wird, die sich der „großen Transformation“, so der Koalitionsvertrag, ausgeliefert sieht – im Namen der SPD.

Der ungeliebte Gewinner
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Klar, Giffey war zu schwach, irgendeine Veränderung herbeizuführen: wirre Grüne, die die Stadt wirtschaftlich an die Wand fahren; leere Versprechen der Linken wie die nach Verstaatlichung der Wohnungswirtschaft – dass so die Wohnraumknappheit nicht überwunden werden kann, ist ja keine wirkliche Überraschung. 

Bemerkenswert ist, dass damit parallel zur SPD auch die Linke kräftig Stimmen verloren hat.

Nun ist ja immer die Frage nach der Lagerbildung zu stellen. Rot-Rot-Grün wird von der Grünen-Vorsitzenden Ricarda Lang schnell als „progressives Lager“ gefeiert, das Klimaneutralität und Wohnungsversorgung befördern will. Möglicherweise hat Ricarda Lang mehr Recht, als ihr und Giffey recht sein kann. Denn: Das progressive Lager hat die soziale Frage aufgegeben. Die soziale Frage, das wäre: Verbesserung der Lebensbedingungen. Das ist das Thema, für das vor 150 Jahren die SPD gegründet wurde.

Es geht ihr nicht mehr um Arbeitsplätze; Wohnungen werden nicht gebaut, obwohl immer neue Migranten in die Stadt strömen. Das Betonfeld des früheren Berliner Flughafens wird nicht bebaut; die Grünen bekämpfen jede Baumaßnahme. Die Stadt verkommt, die innere Sicherheit verfällt, die Schulen sind nicht mehr leistungsfähig, kaum dass die Kinder dort überhaupt noch Deutsch sprechen. Auch die innere Sicherheit ist eine soziale Frage. Wer genügend Geld in der Tasche hat, nimmt ein Taxi; die Verkäuferin, die Kellnerin, wer nicht so viel Geld hat, ist auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen und damit auf Verspätung, Bedrohung, Schmutz und lange Fahrtzeiten.

Das progressive Lager fährt Dienstwagen

Das „progressive Lager“ dagegen will jede Autofahrt zum Luxusgut machen. Parkplätze fallen weg, Fahrbahnen werden verengt, Straßen gesperrt – wer nicht teuer wohnt im Grunewald, hat Pech. Die Deindustrialisierung des Landes verschrottet die letzten Industriearbeitsplätze. Aufstieg wird zum leeren Traum, Bildung als Voraussetzung für beruflichen Erfolg ist eine Idee von gestern. 

Wer im Eigenheim wohnt oder in Charlottenburgs großbürgerlichen Wohnungen der Gründerzeit – alles kein Problem. Die soziale Lage verschärft sich da, wo die Inflation die kleinen Einkommen weiter wegfrisst, wo Wohnungen schlicht nicht mehr zur Verfügung stehen und die Kosten für Privatschulen nicht aufgebracht werden können. Alles das spielt in Berlin keine Rolle mehr. Migration ist das soziale Thema schlechthin: Wer Sozialbeiträge zahlt, finanziert die Zuwanderung ein Stück weit mit und verliert Wohnraum und Chance auf Gehaltserhöhung.

Berlin-Wahl
Die Koalition der Verlierer gewinnt
Die Linke steht für Realitätsverlust hinsichtlich der sozialen Lage ihrer früheren Wähler – und für eine dominante Kommunikationsmacht zugleich. Die Lufthoheit über die Diskurse hat sie in den Medien und Universitäten errungen und hat sich damit ein geistiges Paralleluniversum geschaffen. Das hat auch die Rhetorik der Politik so tiefgreifend verändert, dass sich eine nicht »linke« Politik kaum mehr artikulieren kann. Alle deutschen Politiker sprechen die gleiche, weichgespülte, rot-grüne Sprache, predigen Klima und bekämpfen Mobilität, fordern höhere Preise für Lebensmittel und fleischlose Diät. Auch die CDU ist davon befallen; dass sie trotzdem nur im 20-Prozent-Turm stecken bleibt, obwohl die Unzufriedenheit mit den Händen zu greifen ist: Das ist die Antwort der Wähler.

Die FDP wurde für ihre Unterwürfigkeit in der Ampel abgestraft. Die AfD hat sehr gut abgeschnitten, und was untergeht: Niedrige Wahlbeteiligung und 9 Prozent für „sonstige Parteien“ zeigen, dass die Bürger sich von diesen rotgrünen Parteien und ihrer ideologischen Verblendung abwenden. Die Grünen-Chefin Bettina Jarasch ärgert sich, dass in der früher geteilten Stadt im Osten noch nicht so einheitlich gewählt werde, wie es sich die Grünen wünschen. Klar, im Osten der Stadt ist das Geld knapper und sind die Wohnungen enger und die AfD doppelt so stark wie im Westen. Aha.

Verlust der Kernwähler – das macht der SPD wenig aus, denn Giffey ist ja erst ein Jahr im Amt. Die SPD hat ihre dominante Rolle verloren, weil sie das grüne Lied singt statt ihren eigenen Text. Sahra Wagenknecht hat ja Recht, wenn sie ihre eigene Partei kritisiert, die ihre Wähler aus den Augen verloren hat. In ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ beklagt Wagenknecht, dass linke Parteien drängende soziale Fragen aus den Augen verloren hätten und so traditionelle Wähler verprellten. „Lifestyle-Linke“ nennt sie die, oder: Die Café-Latte-Fraktion verliert, und die Pils-Trinker haben keine Vertretung mehr. 

Da kann jetzt Franziska Giffey sich am Rockzipfel von Bettina Jarasch noch irgendwie in die Regierung retten, sei es als regierend-geduldete Bürgermeisterin oder sonstwie in einer Koalition der Verlierer. Es ändert nichts daran:

Das progressive Lager hat die Wahl verloren; und die Grünen-Wähler mit ihrem Gehalt aus dem öffentlichen Dienst oder einer staatlich finanzierten NGO saugen die alten Linken weiter aus. Die neue Formel von der „stabilen Mehrheit“ soll vergessen machen, dass sich hier Verlierer an die Macht klammern, und dazu gehört auch die Formel von den „demokratischen Parteien“; grenzt nur aus und redet dann wieder von Gemeinsamkeit. Gemeinsamkeit mit den Wählern, die nicht auf der Butterseite des Lebens gelandet sind; das ist übrigens die am schnellsten wachsende Gruppe. Aber die soll ja keine Vertretung haben in der „stabilen“ Verlierer-Koalition der demokratischen Parteien.

Die SPD scheint das zu wollen. Politische Erfahrung scheint ihr zu fehlen. Sie ist ja erst ein kurzes Jahr im Amt. Selbstbetrug ist das neue Lied der Sozialdemokratie.

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Kommentare ( 123 )

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Sonny
1 Jahr her

Ein kluger und weitsichtiger Mensch, Friedrich Schiller. Friedrich hat diese Geschichte 1799 geschrieben, also vor rund 220 Jahren. Es scheint, als hätte sich nichts geändert. Und die Straßen haben nur ihr Aussehen geändert. Alles andere ist und wird sein, wie es war. Wer also wissen möchte, was noch so kommt, bitte schön. Es lohnt sich, sich mal die Verhältnisse aus der Vergangenheit in Erinnerung zu rufen. Ob man allerdings daraus lernt, ist eine ganz andere Frage. Auszug aus der „Das Lied von der Glocke“: … Freiheit und Gleichheit! hört man schallen;  Der ruh’ge Bürger greift zur Wehr,  Die Straßen füllen… Mehr

November Man
1 Jahr her

Panne bei Berlin-Wahl
Bericht: Ungezählte Briefwahlzettel aufgetaucht.
Einem Bericht zufolge sind in Berlin ungezählte Briefwahlzettel aufgetaucht. Das könnte das endgültige Ergebnis verändern.
Stille linksrotgrüne Reserve?

Last edited 1 Jahr her by November Man
Juergen P. Schneider
1 Jahr her

Wie gehabt. Es hat den einstigen Volksparteien massiv geschadet, dass sie sich nicht von der grünen Idiotenideologie abgesetzt haben, um ihre eigene Klientel zu umwerben. Die Union hechelt einer Bevölkerungsgruppe hinterher, die sie niemals wählen wird und vernachlässigt das große Potenzial liberal-konservativer Wähler, die ins Lager der Nichtwähler gewechselt sind. Wenn die Spezialdemokraten und die Union nicht bald eine Wende zu ihrer früheren Wählerschaft hinkriegen, werden sie – wie die FDP – früher oder später verschwinden. Der Niedergang der Linken scheint ohnehin kaum mehr abwendbar. Die Grünen als klassische Partei der Ökospießer und Verbotsfetischisten werden noch eine Zeit lang das… Mehr

Rosalinde
1 Jahr her

Als Helmut Schmidt noch Kanzler war, hätten Leute wie die Giffey keinerlei innerparteiliche Karriere machen können.

F. Hoffmann
1 Jahr her

Frau Giffey wurde kurz vor den Wahlen von B. Jarasch brüskiert, als diese gegen den Willen von Giffey die Friedrichstraße wieder sperrte. Sollte sie Herr Wegner bei einem Gespräch mal dezent dran erinnern. Und mit wem zusammen sie ihre SPD-Wähler wieder am ehesten zurückholen kann. Mit grünen toxischen Utopien oder mit praktischer Politik zusammen mit Herrn Wegner.

November Man
1 Jahr her

 Aus ihrem Stimmenvorsprung von 105 Stimmen gegenüber der Grünen Jarasch leitet die Giffey offenkundig jetzt einen Regierungsauftrag ab. Man sieht, man kann die Wahl verlieren, man kann sich lächerlich machen und womöglich trotzdem regieren.  

Alfred Werner
1 Jahr her

Mit dem linken Lager in den Untergang ?
Aber klar.
Das Schema des Zipfelmützenträgers lautet so:

1. Mit dem Kaiser in den Untergang
Hurra…..
2. Mit dem Führrrer in den Untergang
Hurra ……
3. Probeuntergang der DDR (40 Jahre)
Hurra …..
4. Mit den Linken und den Ökofaschisten
in den Untergang (rot und grün gibt ? –
na braun natürlich.)
Hurra …..
5. Werde ich vom Alter her gottseidank
nicht mehr erleben. Ich Glückspilz.
Hurra …….

K. Sander
1 Jahr her
Antworten an  Alfred Werner

…und bei mir ist wieder etwas passiert. Das habe ich in den vergangenen Jahren mehrfach erlebt. Als ich munter geworden habe ich festgestellt, dass ich beim Träumen wieder ein altes Lied umgewandelt und gesungen habe. Aus „Am 30. Mai ist Weltuntergang..“ habe ich beim Schlafen gesungen:
„Am 12. Februar ist Parteiuntergang. Die SPD lebt nicht mehr lang und jeder weiß, in diesem Jahr und das ist wunderbar.“

Elki
1 Jahr her

Diese Wahlwiederholung erarbeitet und erstritten zu haben, war ganz gewiß ein großer Verdienst von TE und sollte sicherlich vor allem dem Erhalt von Demokratie dienen. Es hat zumindest (wieder einmal) gezeigt, woran es liegt, daß dieses Deutschland politisch und wirtschaftlich nicht weiter kommt. Bsw. laß ich, daß unabhängig von einem Wahlergebniss so manche führende Köpfe in den „Kiezen“ ohnehin ihre Posten behalten dürfen, es wieder etlichen Nichtwählern vollkommen gleichgültig war, von wem sie regiert werden, wegen bedingungsloser Möglichkeit der Briefwahl sich angeblich mancher über eine „zweite Chance“ freute…- doch ist nicht das eigentliche Problem, daß zumindest manches davon auch bei… Mehr

Boris G
1 Jahr her

Die AfD konnte merkwürdigerweise nur wenig profitieren, die CDU dagegen massiv. Die Berliner sehen offenbar keinen Zusammenhang zwischen den Herzensprojekten der CDU (Euro, offene Grenzen, Klimarettung) und ihren ganz persönlichen Wohlstandsverlusten durch Inflation und Wohnungsknappheit.Ganz erstaunlich, wie die Berliner und die übrigen Deutschen diesen Niedergang verdrängen und brav ihr Kreuz bei den Parteien machen, die das Land ins Rutschen gebracht haben. Dagegen laufen in Frankreich eine Million Demonstranten Sturm gegen eine sehr moderate Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre, haben die dortige Schwesterpartei der CDU bereits vor Jahren an der Wahlurne atomisiert.

mediainfo
1 Jahr her
Antworten an  Boris G

Dagegen laufen in Frankreich eine Million Demonstranten Sturm gegen eine sehr moderate Anhebung des Renteneintrittsalters … Immer wenn in Frankreich in sozialer Hinsicht Dampf im Kessel ist, wundere ich mich darüber, wie Medien hierzulande es hinbekommen, das auf kleinstmöglicher Flamme zu halten. Über die Uiguren und Rohingya werden wir umfangreich informiert, aber Frankreich bleibt manchmal seltsam entfernt. Man kann nicht sagen dass die aktuellen Vorgänge komplett verschwiegen werden, aber angemessen abgebildet sicher auch nicht. Man könnte den Eindruck bekommen, dass es da um ein fernes Land geht, das nur wenig Relevanz für das Leben hierzulande hat. Auf dass der Michel… Mehr

Last edited 1 Jahr her by mediainfo
Boris G
1 Jahr her
Antworten an  mediainfo

Ja, genauso verhält es sich mit der Berichterstattung über die Ursachen von Polizeigewalt in Frankreich oder die dort ganz anders ausgefallene Diskussion zum Thema Erderwärmung und Energiewende.

November Man
1 Jahr her

Es wäre nicht das erste mal, dass die linken Wahlverlierer paktieren und eine linksextreme Landes-Regierung bilden. Bodo Ramelow (Linke) ist ebenfalls Machthaber und Ministerpräsident Merkels Gnaden ohne Wahlsieg. Dafür wurde sogar diese Wahl von Kemmmerich (FDP) „rückgängig“ gemacht in dem man kurzfristig sogar den legitim gewählten und vereidigten Ministerpräsidenten Kemmerich aus dem Amt gemobbt hat. Die SPD, mit der die CDU vorher koaliert hatte, war um mehr als sechs Prozentpunkte auf 12,4 Prozent abgestürzt. Sie setzten die Koalition daher nicht fort, sondern machten Bodo Ramelow zum ersten Ministerpräsidenten der Linken. Die Linke war mit 28,2 Prozent der Stimmen nur auf… Mehr