Wann lohnt es sich, gegen das Böse zu kämpfen?

Dietrich Bonhoeffer gehört weltweit zu den meistzitierten Theologen. Der intellektuelle Überflieger war bereits mit 25 Jahren Professor. Statt 1939 in New York Karriere zu machen, entschied er sich, nach Deutschland in den Widerstand gegen Adolf Hitler zurückzukehren.

IMAGO / PEMAX

Ostpreußen 1940, ein schöner Sommertag. Bonhoeffer sitzt nach einem Vortrag in Memel entspannt mit einem Freund in einem Kaffeegarten. Plötzlich dröhnt aus den Lautsprechern des Lokals das Fanfarensignal für eine Eilmeldung. Frankreich hat kapituliert, hieß die triumphale Botschaft.

Die Leute an den Tischen konnten es kaum fassen. Alle, die das Steckenbleiben der deutschen Offensive von 1914 nicht vergessen hatten, waren überwältigt von diesem grandiosen Blitzsieg. Die Besucher des Lokals sprangen auf, einige stiegen sogar auf die Stühle. Mit ausgestrecktem Arm riefen sie „Heil Hitler“ und sangen „Deutschland, Deutschland über alles“.

Auch Bonhoeffer war aufgestanden, hob den Arm zum Hitlergruß. Als sein Freund erstarrt sitzenblieb, raunte Bonhoeffer ihn an: „Steh auf! Nimm den Arm hoch! Mach mit!“ Hinterher erklärte er dem Freund, dass er für solche Peanuts wie den Hitlergruß nicht sein Leben riskieren wolle. „In diesen Dingen müssen wir uns ergeben. Wir müssen unsere Kräfte für den echten Widerstand bewahren.“

  • Widerstand und Ergebung – wo lohnt es sich zu kämpfen und wo sollte man sein Pulver besser für andere Gelegenheiten trocken halten?
  • Widerstand und Ergebung – das setzt voraus, dass man nicht gleich seinen spontanen Impulsen nachgeht; dann hätte Bonhoeffer niemals den Hitlergruß machen können, denn er hatte bereits 1932 eindringlich vor Hitler gewarnt.
  • Widerstand und Ergebung – das fordert die Charakterstärke, erst einmal einen Schritt zurückzutreten, um in distanzierter Abwägung von Gefühlen und Gedanken den mittelfristig aussichtsreicheren Weg wählen zu können.

Die Psychologie spricht von der „selektiven Authenzität“; damit weist sie darauf hin, dass man sich und seiner Sache erheblich schaden kann, wenn man sein Innerstes in bestimmten Situationen unüberlegt nach außen kehrt.

In ganz unterschiedlichen privaten, beruflichen oder politischen Kontexten hat mich Bonhoeffers Polarität von Widerstand und Ergebung inspiriert:

1988 habe ich als Student in der DDR ein Praktikum in der Kirche machen dürfen. Die dortige überregionale Kirchenzeitung wurde über Jahrzehnte vom SED-Staat vor Abdruck inhaltlich „gereinigt“. Die Zeitung musste sich das gefallen lassen. Doch 1988 wechselte die Kirche von dem Modus der Ergebung in den Modus des Widerstands: Die Kirchenzeitung ließ im Abdruck alle zensierten Wörter, Satzteile und Abschnitte einfach weiß. Das schlug ein wie eine Bombe. Die Leser kapierten schnell, dass dies kein Druckfehler war. Das bisher unsichtbare Tabu der Zensur wurde für alle sichtbar. Im Nachhinein betrachtet war 1988 ein optimales Timing für diesen gelungenen Akt des Protestes.

Februar 2022 in Mülheim an der Ruhr auf den Montagsdemonstrationen gegen die Impfpflicht. Die Regierung machte plötzlich die Auflage, dass alle Demonstranten eine Maske tragen müssten. Polizei und Ordnungsamt ahndeten rigide alle Verstöße. Das zu einer Zeit, wo Besucher im Universitätsklinikum Leiden/Niederlande bereits ohne Maske ihre Angehörigen besuchen durften. Unter uns Demonstranten brachen heftige Diskussionen aus. Sollte man die Masken tragen, obwohl den meisten klar war, dass die Maske unter freiem Himmel nur reine Schikane war? Selbst der Hardliner Karl Lauterbach hat später bei Lanz gesagt, dass das Maskentragen draußen „Schwachsinn“ (!) gewesen sei.

Hätten alle Demonstranten in den Widerstand gehen und die Maske verweigern sollen? Der gärige Haufen der Demonstranten konnte sich in der Spannung von Widerstand und Ergebung nicht auf eine gemeinsame Linie einigen. Viele plädierten dafür, weiterhin rein auf die Frage der Impfpflicht konzentriert zu bleiben und sich nicht mit der Polizei anzulegen. Die Montagsdemonstrationen verloren an dieser Frage an Zusammenhalt und Stärke. Vielleicht war genau das von der Regierung beabsichtigt.

Dietrich Bonhoeffer konnte auf dem Kontinuum von Widerstand und Ergebung sogar folgende Gedanken äußern: Nicht nur „Parteiabzeichen und Hitlergruß“ könnten notwendig werden, sondern auch das „Verbleiben in belasteten Kommandostellen, in der Abwehr, im Auswärtigen Amt, ja sogar in der SS“. Der umstürzlerische Widerstand sei ja auf solche Leute im System angewiesen. Dieser Preis müsse bezahlt werden. „Man muss bleiben, um Schlimmeres zu verhüten.“ Man müsse bereit sein, Schuld auf sich zu nehmen. Unser Blut, das wir im Märtyrertod bereit sind, auf uns zu nehmen, „wird nicht so unschuldig und leuchtend sein wie jenes der ersten Zeugen der Christenheit“. Dietrich Bonhoeffer hatte den Widerstand gegen das NS-Regime psychologisch und theologisch konsequent und ohne Beschönigungen durchdacht.

Am 8. April 1945 wurde Bonhoeffer im Konzentrationslager Flossenbürg standrechtlich verurteilt zum Tod durch Erhängen. Der Verurteilte musste sich entkleiden und nackt seinen letzten irdischen Weg gehen. Der SS-Lagerarzt Hermann Fischer erinnerte sich an seine Hinrichtung:

„Durch die halbgeöffnete Tür eines Zimmers im Barackenanbau sah ich vor der Ablegung der Häftlingskleidung Pastor Bonhoeffer in innigem Gebet mit seinem Herrgott knien. Die hingebungsvolle und erhörungsgewisse Art des Gebets dieses außerordentlich sympathischen Mannes hat mich auf das Tiefste erschüttert. Auch an der Richtstätte selbst verrichtete er noch ein kurzes Gebet und bestieg dann mutig und gefasst die Treppe zum Galgen.“

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Kommentare ( 50 )

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Nobis
13 Tage her

Herr Zorn hätte möglicherweise diesen inhaltsschweren Text nicht so geschrieben ohne persönliches Involviertsein in die Problematik als Pfarrer in einer Kirche, die von allen guten Geistern verlassen ist, speziell was die Kirchenoberen angeht aber auch weit bis in den Mittelbau und die Gemeinden. Mir ist ein Kirchenmusiker bekannt, langjähriges CDU Mitglied und als Organist sehr engagiert, der die Politik seiner alten Partei nicht mehr ertragen konnte,die CDU verließ und Mitglied der Alternativen wurde. Hierauf wurde er in seiner Gemeinde massiv gemobbt und musste seine Arbeit als Organist beenden und aufgeben. Der Mann hat seine Lektion gründlich gelernt,was aus dieser seiner… Mehr

achijah
13 Tage her
Antworten an  Nobis

Falls Sie noch Kontakt zum dem Organisten haben und der Organist Interesse hat, würde ich mich sehr über einen persönlichen Kontakt freuen; Sie dürfen ihm gerne mein Interesse und meine Email weitergeben: info@a-zorn.de

Dieter Blume
13 Tage her

Dietrich Bonhoeffer hat die Hölle auf Erden erlebt und wurde dort ermordet. Sein Gedicht „Von guten Mächten treu und still umgeben“ hat mir in den dunklen Corona-Jahren Trost und Zuversicht gespendet. Dann konnte ich die vielen Befürworter harter Maßnahmen gegen Ungeimpfte und Querdenker besser ertragen.

giesemann
13 Tage her

Ein ähnliches Schicksal wie Bonhoeffer erlitt vor kurzem https://de.wikipedia.org/wiki/Giftanschlag_auf_Alexei_Nawalny#:~:text=Alexei%20Nawalny%20(vollständig%20Alexei%20Anatoljewitsch,das%20Flugzeug%20in%20Omsk%20notlandete. Nachdem er am 17. Januar 2021 nach Russland zurückkehrte, wurde er umgehend festgenommen und war dort bis zu seinem Tod im Februar 2024 in verschiedenen Straflagern inhaftiert. Die Staatsmacht und ihre Schergen sind immer stärker als jegliches Wort. Denn sobald ihnen nichts mehr einfällt, machen sie dich kalt. Garantiert. Das dürfen alle Widerständigen nicht vergessen. Waren es die Groß-Russen wert? Jetzt schlachten sie die Kleinrussen – mit großer mehrheitlicher Zustimmung für Putin, den Friedensherrscher. Schlachten macht eben Spaß. Ganz orthodox, also rechtgläubig. https://www.deutschlandfunkkultur.de/srdja-popovics-buch-protest-widerstand-durch-humor-100.html. Dem Verständigen bleibt eigentlich nur: Nicht mitmachen, sich… Mehr

Klaus Kabel
13 Tage her

Wir befinden uns in einer Zeit, in der diese Worte wieder sehr aktuell sind. Danke dafür.

giesemann
13 Tage her

https://de.wikipedia.org/wiki/Bonhoeffer_–_Die_letzte_Stufe – Original englisch, mit Ulrich Tukur, 2000

Warte nicht auf bessre zeiten
14 Tage her

Das ist ja letztlich der Konflikt zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik, wie Max Weber ihn für komplexe Gesellschaften beschrieben hat. Das Problem ist nur, dass das Konzept der Verantwortungsethik nur zu leicht zur Rechtfertigung von nichts anderem als Opportunismus misbraucht werden kann. Ähnlich ist es mit Bonhoeffers Text über die Dummheit. Jeder kann ihn zur eigen Rechtfertigung nutzen. Dumm sind immer die anderen. Die FDP beispielsweise ist ja angeblich in die Ampel gegangen, um schlimmeres zu vermeiden. Und die CDU-mitglieder bleiben in dieser verrotteten Partei, um sie nicht vollkommen den Merkelianern zu überlassen. Fazit: ohne den ultimativen Akt der widerständigen Tat… Mehr

Deutscher
13 Tage her

Bonhoeffers Rolle für den Widerstand wird überschätzt. Er war eher ein bilateraler Mitläufer, der sich hier wie dort anpasste. Georg Elser war da schon ein anderes Kaliber.

Last edited 13 Tage her by Deutscher
giesemann
13 Tage her
Antworten an  Deutscher

In München-Schwabing gibt es einen „Georg-Elser-Platz“, schräg gegenüber vom „Alten Simpl“ (https://www.alter-simpl.de). Fragt man die Leute, wer das war: Dummes Glotzen. Nur sehr wenige wissen es. Elser hatte extremes Pech, seine Bombe mit Zeitzünder hatte hervorragend funktioniert, nur war Hitler etwas früher gegangen. Welch Prüfung des Schicksals, der „Vorsehung“!

achijah
13 Tage her

Es gibt keinen alternativlosen Königsweg in den Polaritäten von „Widerstand und Ergebung“ oder „Gesinnungsethik und Verantwortungsethik“. Bei beiden kann man entweder von der einen Seite oder von der anderen Seite vom Pferd fallen.

babylon
13 Tage her
Antworten an  achijah

Matthäus 5,39 „Rechte Wange, linke Wange“ Oder mutig die Peitsche ergriffen und die Händler aus dem Tempel gejagt. Beides ist biblisch. „Coincidentia Oppositorum“ Einheit der Gegensätze. In Gott gibt es keine Gegensätze sondern nur die Einheit allen Seins.

Nibelung
14 Tage her

Bonhoeffer war eine Ausnahme innerhalb der protestantischen Kirche, indem er sich gegen das Nazitum stellte, bis zur letzten Konsequenz und deshalb wird er auch hochgehalten um von der Führung der Amtskirche von damals abzulenken. Die Protestanten waren schon über ihren Gründer vom Antisemitismus über Jahrhunderte befallen und kollaborierten von höchster Stelle aus mit dem Führer, was man heute gerne unter den Teppich kehren will und dann ihre Widerstandskämpfer in den Vordergrund stellt, die ihr damaliges Wirken nicht so offensichtlich erscheinen lassen soll um die Sinne zu verwirren, wie sie seinerzeit wirklich agiert haben. Nach dem Krieg wurden alle Nazisymbole zu… Mehr

giesemann
13 Tage her
Antworten an  Nibelung

Welch Philippika! Und Sie haben so recht, leider. Göring wurde vor Gericht in Nürnberg mal gefragt: Wie war es möglich, dass so viele Deutsche mitgemacht haben, bei all dem? Und der blaffte zurück: ANGST! Und heute, beim Einbruch des Islam/Daesh ins Land? Sie wollen sogar einen „Tag gegen Islamfeindlichkeit“ installieren! Was sagen die Kirchen dazu, andere Verbände? Die einzige Partei, die DAS sicher nicht will ist – horribile dictu – die AfD. Wer jetzt noch Fa und Anti ist, das mag der Teufel wissen. Haben wir es da mit einer Prüfung Gottes, des Herrn Zebaoth zu tun, der uns gerne… Mehr

Sonny
14 Tage her

Alles, was in der Welt passiert, in der Vergangenheit und heute, zeigt doch ganz klar:
Es gibt keinen (lieben) Gott.
Allerdings gibt es hier und da gute Menschen. Aber die sind weit in der Minderheit.

Johann Thiel
13 Tage her
Antworten an  Sonny

Gott hat dem Menschen den freien Willen gegeben.

Rene Meyer
14 Tage her

Als Leitschnur können auch die folgenden fünf Punkte von Hans-Joachim Maaz aus Halle dienen: – Widerstand, wo möglich – Anpassung, wo nötig – subversiv sein – Rückzug – Gemeinschaft Es geht darum, auf sich und seine momentanen Fähigkeiten zu hören und intelligent bzw. clever mit Situationen umzugehen. Wichtig ist, sich klar zu machen, dass es im falschen Leben, wie es derzeit herrscht, kein richtiges Leben gibt, das heißt, man wird immer schuldig, erkennt aber erst viel später, an welchen Stellen. Den eigentlichen Kampf gegen das Böse führt Gott. Wir setzen uns für die Wahrheit ein und legen Zeugnis ab. „Dummheit… Mehr

Dr. Rehmstack
14 Tage her

„…….Verbleiben in belasteten Kommandostellen, in der Abwehr, im Auswärtigen Amt, ja sogar in der SS“ diesen Satz von Dietrich Bonhoeffer kannte ich noch nicht, vielen Dank dafür, beinhaltet er doch bedeutende Implikationen. Es sei in diesem Zusammenhang an die ausgewogene Antwort von Maximilian Krah erinnert und an die pharisäerhafte und selbstgerechte Verurteilung durch die Gutmenschen, die glaubten hieraus eine Relativierung und Rechtfertigung der Verbrechen der SS und damit auch eine moralische Verurteilung von Maximilian Krah ableiten zu können.

Axel Fachtan
13 Tage her
Antworten an  Dr. Rehmstack

Krah taugt für den Stammtisch in Pirna. Für die Arbeit in Europa taugt er nicht. Er ist in der Lage, Wähler zu binden, ja.
Wer bei Kriegsende in der Waffen SS war ist derzeit mindestens 97 Jahre alt. Die Ehrenrettung für die Waffen SS bringt also inhaltlich rein gar nichts. Das einzige, was passiert, ist, antideutsche Ressentiments in Italien und Frankreich wurden wieder hochgekocht. Nicht mal Meloni und Le Pen wollten mit der AfD zu tun haben. Was für ein Riesenerfolg.