Gorbatschows Moskau ahnte den Mauerfall schon 1986

Die sowjetische Führung um Michail Gorbatschow wurde von den Ereignissen des Jahres 1989 nicht kalt erwischt, hingegen die Führungen im Westen sehr wohl.

Bettmann/Getty Images
Ronald Reagan und Mikhail Gorbatschow, 11. Oktober 1986

Solche Überlegungen prägten auch unsere Gespräche über die DDR. Das eigentlich spannende daran war, dass Wladimir diesen Abläufen durchaus zustimmte. Und sie mit der damals noch revolutionären Frage verband, was aus meiner Sicht geschehen werde, wenn es in der DDR tatsächlich auf friedlichem und geregeltem Wege zu freien Wahlen nach bundesrepublikanischem Vorbild käme.

Die Sowjetführung dachte dem Westen um Jahre voraus

Mit dieser Frage, die bereits im Jahr 1987 einen Schwerpunkt unserer Gespräche bildete, machte mein Gesprächspartner deutlich, dass zu diesem Zeitpunkt in der Sowjetführung in Kategorien gedacht wurde, von denen die bundesdeutschen Führer nicht einmal zu träumen wagten. Denn wenn ein offizieller Vertreter der Sowjetunion sich mit mir, dem unbedeutenden Parteijugendfunktionär, über diese sehr grundsätzliche Frage unterhalten wollte, so ist dieses der sichere Beweis dafür, dass in der Sowjetführung bereits deutlich vor Herbst 1989 die Frage erörtert wurde, ob und dann in welcher Form man die Existenz des Vasallenstaates DDR aufrecht erhalten wolle und könne; ob und in welcher Form die Aufgabe der sowjetischen Präsenz in der DDR Auswirkungen auf die Beziehungen zur Bundesrepublik und möglicherweise auch auf einen dann größeren, deutschen Staat haben werde.

In den Gesprächen machte ich deutlich, dass ich bei freien Wahlen in der DDR davon ausginge, dass jene, die bislang mittelbare und unmittelbare Nutznießer des Systems waren, die SED wählen würden. Ich schätzte diesen Anteil zwischen 12 bis 20 Prozent – und ich kann mich noch gut daran erinnern, dass diese Einschätzung meinen Gesprächspartner in gewisser Weise erschütterte, denn er fragte sofort nach, wieso es nur so wenig seien. Ich erläuterte ihm daraufhin meine Einschätzung anhand der zu bedenkenden Gruppen der Bevölkerung. Dabei galt es zu berücksichtigen, dass klassische Mitläufer sich in jedem System schnell umorientieren, wenn sie die Macht urplötzlich an anderen Stellen vermuten. Die knappe Hälfte künftiger DDR-Wähler verortete ich allerdings auch deshalb bei der Union, da diese die einzige BRD-Partei gewesen war, die zumindest offiziell immer an der „Widervereinigung“ festgehalten hatte. Der Rest würde sich auf andere Parteiangebote wie Liberale und Bauern verteilen. Die Grünen spielten damals noch nicht einmal in der Bundesrepublik eine bedeutende Rolle – an Bewegungen wie Bündnis 90 war in der DDR überhaupt noch nicht zu denken.

Meine Einschätzung führte zwangsläufig zu Überlegungen, wie die Zukunft der DDR aussähe, wenn dort infolge solcher freien, demokratischen Wahlen das Ergebnis in der von mir skizzierten Weise ausfiele. Schnell kamen wir beide zu der Feststellung, dass durch einen solchen Wahlprozess auch der Wiedervereinigungsprozess angestoßen würde. Die Frage des Petersburgers, ob in einem solchen Falle die NATO-Mitgliedschaft der BRD aufgekündigt werden würde, beantwortete ich aus meiner Sicht mit einem Nein. Das Angebot Wiedervereinigung gegen NATO hatte schon Stalin anklingen lassen – und es gab Mitte der 80er für die Bundesrepublikaner keinerlei Veranlassung, nach den SS-20-Nachrüstungen trotz Abrüstungsgesprächen, die sich 1987 in Verhandlung befanden, die NATO zu verlassen. Insofern stimmten Slutzkow und Ich darin überein, dass freie Wahlen in der DDR mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Beitrittsprozess der Noch-DDR zur BRD führen werde und sich dadurch an der Westbindung nichts ändere. Gleichzeitig wurde auch deutlich, dass die Sowjetunion eine militärische Bedrohung seitens der BRD auch als NATO-Mitglied nicht befürchtete, vielmehr ein vitales Interesse an dem hatte, was man seinerzeit als Normalisierung bezeichnete.

Den verklärten Blick auf die deutsche Revolution einordnen

Warum erzähle ich das? Noch einmal: Ich war in der Parteienhierarchie derart unbedeutend, dass ich weder für die Partei und schon gar nicht für die Unions-geführte Bundesrepublik irgendwelche Aussagen treffen konnte. Aus meinen Überlegungen irgendwelche konkreten Konsequenzen ableiten konnten die Sowjets daraus mit Sicherheit nicht – außer vielleicht der Feststellung, dass es auch in der Union Personen gab, die sich nicht als dogmatische  Kommunisten- und Sowjetfresser verstanden. Die Bedeutung meiner Rolle in der Geschichte ist insofern als absolut Null anzusetzen.

Dennoch halte ich die Darlegung und Veröffentlichung der Kernpunkte jener Gespräche deshalb für historisch richtig, weil es manche mögliche Fehlbeurteilung auch hinsichtlich der „Heldenverehrung“ ins rechte Licht rücken kann.

Die Tatsache, dass Slutzkow mit mir bereits vor 1988 über demokratische Wahlen in der DDR ebenso wie über Wiedervereinigung und BRD-Zukunft sprach, macht deutlich, dass man im Kreml seinerzeit erheblich weiter gedacht hatte, als dieses im Westen bis heute unterstellt wird. Die Möglichkeit, in der DDR (und dann nicht nur dort) im Zuge von Glasnost und Perestroika freie Wahlen zuzulassen, muss zwingend bereits Mitte des Jahrzehnts Gegenstand von Erörterungen in sowjetischen Führungskreisen gewesen sein – andernfalls hätte sich der mutmaßliche KGB-Mitarbeiter Slutzkow nicht mit mir, dem unbedeutenden JU-Funktionär, darüber unterhalten.

Dass in einem solchen Falle aus sowjetischer Sicht die Befürchtung im Raum stand, die DDR an den Westen zu verlieren, war ebenfalls Gegenstand der Überlegungen. Und die Frage, wie in einem solchen Falle die Interessen der Sowjetunion respektive Russlands zu wahren sein könnten, mussten für den Kreml selbstverständlich absolut im Vordergrund stehen.

Die Hegemonialmacht wusste um ihr nahendes Ende

All das bedeutet jedoch, dass in Russland lange vor den dann tatsächlich eintretenden Ereignissen des Jahres 1989 vielleicht noch nicht recht klare, dafür aber recht konkrete Vorstellungen davon existierten, welche Folgen Glasnost und Perestroika für das Sowjetimperium würden haben müssen. Die Schlüsselfrage, ob die Hegemonialmacht angesichts der zu diesem Zeitpunkt zumindest in Polen trotz Militärdiktatur unübersehbaren Freiheits- und Absetzbewegungen wie früher in Ungarn und der Tschechoslowakei zum Einsatz der Roten Armee greifen werde, lag offenbar mit Gorbatschow recht früh auf dem Tisch. Die grundsätzliche Entscheidung gegen einen solchen Einsatz muss in den erweiterten Führungszirkeln und im KGB somit auch deutlich vor den Ereignissen des Jahres 1989 gefallen sein. Ob dieses eine Folge der wirtschaftlichen Situation der UdSSR gewesen ist, die von Ronald Reagan quasi an die Wand gerüstet worden war, oder ob die Unvereinbarkeit der russischen Glasnost und Perestroika-Ziele mit einer gewaltsamen Unterdrückung vergleichbarer Bestrebungen in den Satellitenstaaten den Ausschlag gegeben hat, mag an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Es wäre naheliegend, beiden Gründen ihren Anteil zuzumessen.

Der Mauerfall kam nicht überraschend

Festgehalten werden jedoch sollte, dass die sowjetische Führung um Michail Gorbatschow von den Ereignissen des Jahres 1989 nicht kalt erwischt wurde. Sie hatte die Entwicklung deutlich früher erkannt als die Politiker des Westens und sie mit der Aufhebung der Breschnew-Doktrin im Jahr 1988 letztlich selbst eingeleitet – was nichts daran ändert, dass es ohne das Rumoren in den Gesellschaften der Staaten des Warschauer Pakts niemals zum Zusammenbruch des Sowjetsystems gekommen wäre.

Wenn dieser Tage der dreißigste Jahrestag des Mauerfalls – neuerlich auch postrevolutionär als Mauersturz bezeichnet – gefeiert wird, sollte bei aller Freude oder Nichtfreude unmissverständlich festgehalten werden, dass die Geschichte eine gänzlich andere Entwicklung hätte nehmen können und vielleicht hätte nehmen müssen, wären damals nicht in Moskau Menschen wie Gorbatschow an der Macht gewesen, die sich spätestens ab 1985 intensiv auch mit der Frage des Zusammenbruchs des eigenen Imperiums beschäftigten und sich für den Gewaltverzicht entschieden – wissend, dass dann zumindest Teile der europäischen Einflusszone verloren sein würden.

Und am Ende doch planlos in den Zusammenbruch

Einen konkreten Plan, wie die angestrebte Neustrukturierung zum Erhalt der Sowjetunion auf die WP-Staaten übertragen werden konnte, gab es hingegen offensichtlich nicht. Das wurde nicht zuletzt beim Gorbatschow-Besuchs anlässlich des 40. Jahrestages der DDR im Oktober 1989 deutlich, als der Russe zwar die Protestierenden ermunterte, jedoch auf erfolgversprechenden Druck auf die DDR-Staatsführung verzichtete, vielleicht noch rechtzeitig Maßnahmen einzuleiten, die die DDR als Staat und Partner der Russen hätten erhalten können. Vermutlich aber auch wusste Gorbatschow von seinen Vertrauensleuten längst, dass selbst solche Versuche den Drang der DDR-Bürger nach Westen nicht würden stoppen können, sollte seine Sowjetunion nicht in der Lage sein, mit den Verheißungen des Westens materiell und ideell mitzuhalten.

Als im November dann die Mauer brach, musste die Entscheidung des Nicht-Eingreifens im Kreml längst gefallen gewesen sein. Damit konnte der in nunmehr bereits andauerndem Protest der Bürger sich Bahn brechende Unmut und die durch die neue Sowjetpolitik verursachte Verunsicherung in den Streitkräften der WP-Staaten – von Marcus Kurschus trefflich in seinem vor der Veröffentlichung stehenden Werk „Zwischen Affirmation und Resignation – Das Offizierskorps der Nationalen Volksarmee in der  Wendezeit“ aufgezeigt – dafür sorgen, dass die nicht mehr durch Moskau gestützten Systeme wie Kartenhäuser in sich zusammenfielen.

Den Westen traf die Revolution unvorbereitet

Anders als die Sowjetführung, die zumindest auf das „Dass“, nicht aber auf das „Wann“ und  nur in Ansätzen auf das „Wie“ vorbereitet war, wurden, wie ich durch meine damaligen Kontakte in die Bonner CDU-Zentrale erfahren durfte, die westlichen Staatsführungen von der Heftigkeit des Umbruchs kalt erwischt. Tatsächlich niemand – auch nicht die „kalten Krieger“ und offiziellen Wiedervereinigungsverfechter – hatte im Jahr 1989 ernsthaft mit dem gerechnet, was dann tatsächlich geschah. Ein Ende der DDR schien noch im Oktober 1989 in so weiter Ferne, dass selbst die Unionsführung ihn zu keinem Zeitpunkt ernsthaft ins Kalkül gezogen hatte. Die Fluchtbewegung des Sommers 1989 wurde als Ventil verstanden – nicht als Beginn eines großen Umbruchs. Man hatte sich in der BRD mit der Existenz der DDR abgefunden.

Insofern ist an dieser Stelle das Improvisationstalent Helmut Kohls umso deutlicher zu würdigen, der umgehend und – man mag sagen – instinktiv wusste, wie er die Angelegenheit nach der Maueröffnung zu handhaben hatte und damit gegen Widerstände sowohl im befreundeten Ausland als auch in der SPD die historische Chance nutzte und den Beitritt der DDR-Länder zur Bundesrepublik möglich machte. Seine menschlich-freundschaftliche Beziehung zu Michail Gorbatschow, die sich im Laufe der bilateralen Gespräche aufbaute, und die enge Bindung an den US-Präsidenten Georg Bush Senior, die dabei half, die Widerstände der unmittelbaren Nachbarn in Frankreich und vor allem im Vereinigten Königreich zu überwinden, entwickelte dann jene Dynamik, die aus dem revolutionären Protest der DDR-Deutschen über den Zusammenbruch der SED-Diktatur den Weg zur deutschen Einheit ebnete.

Ohne Gorbatschow hätte es die Vereinigung nie gegeben

Dabei sollte allerdings nie vergessen werden: Ohne Gorbatschow und die von ihm offensichtlich schon seit 1985 veranlassten Überlegungen zur Zukunft der Vasallenstaaten und der Beziehungen zu Westeuropa wären die DDR-Revolutionäre ebenso erfolglos geblieben, wie es Kohls Initiativen niemals gegeben hätte. Dass der hochbetagte Gorbatschow dieser Tage sich darüber beklagt, der Westen habe sich nach 1990 wie der Sieger im Kalten Krieg benommen, ist daher ebenso nachvollziehbar wie partiell zutreffend. Allerdings sollte dabei nicht vergessen werden, dass die anfänglichen Versuche enger und vertrauensvoller Kooperation, die auch die Atmosphäre bei meinen Russland-Besuchen in den 90ern prägten, nicht nur aufgrund westlichen Fehlverhaltens scheiterten. Der Wild-Ost-Kapitalismus, der in jenen Jahren unter Boris Jelzin die russische Innenpolitik bestimmte; die Furcht der ehemaligen Satelliten- und Sowjetstaaten, vom übermächtigen Nachbarn wieder an die Kette gelegt zu werden; die Unzufriedenheit in den Reihen der Roten Armee und der KGB-Nachfolger über die Folgen des dann eben doch nicht mehr kontrollierbaren Zusammenbruchs des Sowjetsystems – wenn dem Westen vorzuhalten sein mag, zu wenig Rücksicht auf die Belange Russlands genommen zu haben, so ist Russland vorzuhalten, selbst genug Anlass gegeben zu haben, die Annäherung eher mit der Kohlenzange zu probieren.

So bleibt am Ende nur die Feststellung, dass geschichtliche Prozesse zwar absehbar und vielleicht auch einleitbar sind – sie dann jedoch regelmäßig eine Eigendynamik entwickeln, die sich dem kontrollierten oder kontrollierbaren Ablauf entzieht. Auch die DDR-Revolution teilte dieses Schicksal, obgleich sie offensichtlich zumindest in ihrer Tendenz zumindest im Kreml vorgedacht war. Als sie dann ihren Weg nahm, war ihre Eigendynamik nicht mehr steuerbar und ihre tatsächlichen Ergebnisse nicht mehr vorhersehbar. Die Idee mancher Linker, aus der DDR ein sozialistisch-demokratisches Gegenstück zur BRD zu machen, war allein schon deshalb zum Scheitern verurteilt, weil Sozialismus und Demokratie unvereinbar sind. Die vage Hoffnung der damaligen Sowjetführung, aus der Einparteiendiktatur eine Einparteiendemokratie zu machen, konnte ebenfalls nicht funktionieren.

Als Gorbatschows Russland den Topfdeckel der Liberalisierung angehoben hatte, gab es für den Überdruck in den Kesseln kein Halten mehr. Nur die Wiederholung von 1956 und 1968 hätte den Versuch unternehmen können, den Druck im Kessel zu halten. Dazu aber fehlte den Planwirtschaften 1989 die ökonomische Kraft – und der stalinistische Wille zur Macht. Und so konnten erst in den Satellitenstaaten Mitteleuropas, dann in den Sowjetrepubliken jene revolutionären Prozesse Oberhand gewinnen, die das Ende der Sowjetunion bewirkten. Aus dem Kreml steuerbar waren diese Prozesse spätestens ab November 1989 nicht mehr. Was letztlich auch unvermeidbar ist, da historische Prozesse eben niemals auf dem Reißbrett stattfinden, sondern sich aus dem letztlich immer unberechenbaren Zusammenspiel von Menschen, Ideen und Taten entwickeln.

Moskau konnte nur noch den Versuch unternehmen, bei den anstehenden Veränderungen für sich den größtmöglichen Restnutzen zu erzielen – aus Gorbatschows Sicht der Versuch, den Kern der Sowjetunion zu retten und eine enge und freundschaftliche Kooperation zwischen den früheren Militärblöcken und ihren politischen Vertretern zu erreichen. Warum es anders gekommen ist – und weshalb diese andere Entwicklung vielleicht sogar unvermeidbar war, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden.

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Kommentare ( 29 )

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Bubi1111
2 Jahre her

Die Überschrift ist falsch Herr Spahn, richtiger: „Gorbatschows Moskau plante den Mauerfall schon 1987zusammen mit Wladimir Semjonowitsch Semjonow und Falin… dazu gibt es viele „Verschwörungstheorien“ – bzw. ernst zu nehmende Puzzleteile in verschiedensten Artikeln und inzwischen auch in Büchern.

Kuno.2
2 Jahre her

Die „Perestroika“ begann ja bereits 1986 und Helmut Kohl, der von sowjetischen Vorsitzenden andere Töne gewohnt war, verglich Gorbatschow noch mit Goebbels.
Die Reaktion in Moskau blieb verhalten, welches allein schon ungewöhnlich war. Präsident Bush (Senior) in Washington war nach meiner Erinnerung der Erste, der erkannte dass die sowjetische Führung den Kalten Krieg und den Marxismus begraben wollte. Und dann (erst dann!) schwenkte Kohl erkennbar um und versuchte mit Gorbatschow ins Gespräch zu kommen.

Phil
2 Jahre her
Antworten an  Kuno.2

Die sowjetische Führung wollte den Marxismus mitnichten begraben. Die sowieso schon angeschlagene und heruntergewirtschaftete Volkswirtschaft der UdSSR konnte sich schlicht nicht mehr von dem verlorenen Krieg in Afghanistan und der Nuklearkatastrophe in Tschernobyl erholen. Beides zusammengenommen kostete die Ostblock-Volkswirtschaft in den 90-iger Jahren um die 250 Milliarden Dollar, was damals ca. 13.5 % des BIP der gesamten UdSSR entsprach, sowas steckt man nicht einfach weg, zumal die gesamte Infrastruktur bereits am Ende ihres Lebenszyklus angelangt war.

azaziel
2 Jahre her

So wie manche Leute damals den Kollaps vorausgesehen haben, glaube ich heute die Zeichen an der Wand zu sehen. Ich bin nicht sicher wie es sich abspielen wird, wir zerkruemeln aber wahrscheinlich bevor die Durchschnittstemperatur unseres Planeten ein weiteres halbes Grad gestiegen ist.

Nibelung
2 Jahre her

Die Sowjetunion ist Opfer eines US-amerikanischen Umsturzes geworden, worauf diese Typen schon seit 1776 geübt sind, seit sie ihren eigenen Staat gegenüber der englischen Krone ausgerufen haben. Seit 246 Jahren treiben sie nun schon weltweit ihr Unwesen und davon befinden sie sich 233 Jahre ununterbrochen im Kriegszustand mit anderen Völkern und keine Nation der Welt ist so agressiv wie dieses Land, das immer mit dem Argument der Verteidigung der Freiheit kam und in Wirklichkeit ganz andere Absichten hegte, nämlich die eigene Ausweitung ihres eigenen Herrschaftsbereiches, was sie ja von anfang an mit der Besitznahme mit aller Brutalität im eigenen Land… Mehr

hannelore thomas
4 Jahre her

Der Bericht gefällt mir. Ich musste beim Lesen an die ausgezeichnete amerikanische Serie The Americans denken.

andyby1960
4 Jahre her

Interessant ihr Artikel, allerdings mit viel Mutmaßungen und leider auch viel Unwissen geprägt. Vor dreißig Jahren war ich als Generalsekretär der Litauischen Sozialdemokratischen Partei im Exil regelmäßig in Litauen. Teilweise getarnt als Geschäftsmann (mit tatsächlichen Geschäften) . Die sowjetische Botschaft hatte Jahrzehnte meine Familie und insbesondere meinen Vater (er war eine Ikone in der litauischen Freiheitsbewegung seit den 50er Jahren) beobachtet und es gab viele herzliche Freundschaften mit dem Personal (meistens litauische KGB Agenten). Seit 1986 lief der Startschuss zur Sozialdemokratisierung Litauens, wir hatten freie Fahrt und konnten beliebig durch das Land reisen, was ich auch nutzte LSDP Ortsvereine zu… Mehr

Enrico Stiller
4 Jahre her

Slutzkow hat Ihnen teilweise Märchen erzählt. Selbstverständlich war es nicht so, dass die Sowjets „keinerlei Vorstellung davon hatten, wie sich die deutschen Konservativen die Zukunft Deutschlands und Europas vorstellten“. Die wussten en détail Bescheid. Über ALLE konservativen Parteien Europas. Alle anderen Vorstellungen sind schon sehr naiv.
Siehe die diversen Berichte von umgedrehten oder in den Westen geflohenen östlichen Geheimdienstmitarbeitern. Oder als Einstieg den Artikel im ‚New Statesman‘ vom 21.2.18, „The most vulnerable targets“.

Thorsten
4 Jahre her

Die SED aber auch die Sowjetunion hätte mit einer geschlossenen Mauer besser zocken können. Deshalb ist die Maueröffnung in dieser Weise ein dummer Zufall. Der Verkünder Schabrowski sagt ja wohl einiges über den Zustand aus. Der wusste nicht mal so recht, was er damals vorlesen sollte…

Bubi1111
2 Jahre her
Antworten an  Thorsten

Sie glauben wohl an Zufälle in der Politik? – Ein amerikanisches Fernsehteam stand an der Mauer bereit, mit Leitern und Plattform, die haben schon gewartet, dass sich was tut! Und Schabrowski war kein Trottel: der Zeitpunkt war bestens gewählt und die Frage des italienischen Reporters auch kein Zufall! Das ZK war in einer Sitzung und hatte noch keine Handys!!Die Politführung war also isoliert, durfte nicht gestört werden..auf der Heimfahrt zur Schlafstatt gabs auch kein Telefon…Bis die Führung kapiert hat, was abging, gabs vollendete Tatsachen!

Jo_01
4 Jahre her

Lieber Herr Spahn, ich danke sehr für diesen tiefen Einblick in die damalige Gemengelage aus Sicht eines Hamburger JU-Funktionärs. Diese Ausnahme schreit geradezu nach ähnlichen Texten, denn: es mangelt ganz offensichtlich heute daran, die damaligen Ereignisse in den richtigen historischen Kontext zu setzen – bewusst und tlw. unbewusst. Wenn ich mir heute die Reden und Wortmeldungen zum 30. Jahrestag des Mauerfalls anschaue, dann wird es einem wie mir – damals sehr aktiv dabeigewesen – nur noch schlecht. Geschichtsvergessenheit ist jedoch kein Phänomen des linksgrünen Teil der Gesellschaft bzw. der damals herrschenden Funktionseliten der DDR. Sie ist auch im konservativen Teil… Mehr

Stephanie S.
4 Jahre her

Gerade Ihren interessanten Artikel gelesen und will meinen persönlichen Senf auch dazugeben. Ich wohnte frisch verheiratet mit meinem Amerikanischen Mann in Chicago in den Endsiebzigern. Ein junger Uni Professor meines Mann besuchte uns damals nach einer Reise in die Sowjetunion. Er erzählte uns , daß er sehr viele interessante Russische Universitätsleute kennen gelernt hatte, und auch sehr viele junge Parteileute. Man sprach immer nur offen draußen in Parkanlagen. Sie diskutierten mit ihm wie das ganze kommunistische Sowjetsystem auf sehr tönernen Säulen stehe. Er sagte dann bei uns an diesem A end voraus, es würde im nächsten Jahrzehnt zusammenbrechen. Ich dachte… Mehr

Thorsten
4 Jahre her
Antworten an  Stephanie S.

Wer im Ostblock so einigermaßen hell im Kopfe war, der wußte dass es ein böses Ende nimmt.

Das andere würde ich als „raten“ bezeichnen. Manchmal hat man Glück.