Die siechende Union klammert sich an den Strohhalm „Jamaica“

Ihre Markenkerne kennen CDU und CSU selbst nicht mehr. Aber regieren wollen sie: „Richtig erneuern kann man sich am besten in einer Regierung“, sagt Markus Söder.

IMAGO/Steinach

Dass es um Inhalte in der Union schon lange nicht mehr geht, haben die letzten eineinhalb Jahrzehnte unter Kanzlerin Angela Merkel anschaulich belegt. Ob die Übertragung des deutschen Stabilitäts-Credos auf den Euro-Währungsraum, das Voraussetzung für Kohls Ja zur Abschaffung der D-Mark und zur Euro-Einführung war; ob das Bekenntnis zur Kernkraft als Grundlastpfeiler einer langfristig zuverlässigen und bezahlbaren Stromversorgung; ob das Bekenntnis zu einer Bundeswehr als Bürgerarmee mit Wehrpflicht oder der engagierte Einsatz für eine marktwirtschaftliche Ordnung und gegen staatliche Planwirtschaft: Diese und viele andere Essentials einer einst stolzen Volkspartei, die Deutschland über Jahrzehnte Stabilität und Wohlstand zu sichern verstand und nicht zuletzt das schmale Zeitfenster für die deutsche Wiedervereinigung zu nutzen wusste, wurden sang- und klanglos beerdigt – fast immer ohne breite gesellschaftliche Debatte und erst recht ohne innerparteiliche Diskussion. Die EU-Schuldenunion ist Realität, die in der Klimadebatte wieder als CO2-neutrale Energieform entdeckte Kernkraft wird nächstes Jahr in Deutschland endgültig abgeschaltet, die Wehrpflicht ist perdu, und der Marsch in die staatliche Lenkungswirtschaft und die massive Überdehnung des Sozialstaats haben sich unter einer CDU-Kanzlerin massiv beschleunigt.

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Wofür stehen also Christdemokraten und Christsoziale heute noch? Wissen sie es selbst überhaupt? In einem Gastbeitrag in der Welt postulierten die zwei CDU-Politiker Christian Baldauf (Fraktionschef der CDU in Rheinland-Pfalz) und Ole von Beust (ehemals Erster Bürgermeister in Hamburg): „Wir als Union müssen endlich unseren Markenkern klären.“ Wie wahr! Doch diese programmatische Klärung, die verbunden sein muss mit einer kompletten personellen Neuaufstellung, lässt sich eben nicht in der Regierung vollziehen. Deshalb gehört die Union jetzt in die Opposition. Ob die Erneuerung dort gelingt, ist zwar keineswegs gesichert. Dass Totgesagte aber ein längeres Leben haben können, hat am Wahlsonntag der kleine Wiederaufstieg der SPD bewiesen, die viele längst abgeschrieben hatten.

Doch die älteste deutsche Partei, die Sozialdemokratie, kennt ihren Markenkern: Der Einsatz für soziale Gerechtigkeit. Die Grünen können für sich das Thema Ökologie reklamieren, das ihnen auch eine große Mehrheit der Bevölkerung als Alleinstellungsmerkmal zugesteht. Die FDP gilt im Kern immer noch als liberaler Brückenkopf, der im Zweifel für weniger Staat und mehr bürgerliche und wirtschaftliche Freiheit eintritt. Und wieder die Frage: Wofür steht die Union – außer für den Willen zu regieren?

Dass sich Armin Laschet an die „Jamaica“-Hoffnung klammert, hat viel mit seiner persönlichen politischen Überlebensstrategie zu tun. Denn wird er nicht Kanzler, ist sein Rücktritt als Parteivorsitzender überfällig. Sein Ministerpräsidentenamt in NRW ist er ohnehin los. Auch Oppositionsführer in Berlin wird er nicht. Das hat er mehr als deutlich zu spüren bekommen, als am Dienstag die Unionsfraktion den bisherigen Fraktionsvorsitzenden Ralph Brinkhaus befristet wiederwählte, aber schon andere Anwärter wie Friedrich Merz oder Jens Spahn Kampfkandidaturen für den Fall ankündigten, dass Brinkhaus für ein reguläres Jahr gewählt werden sollte, wie er selbst es ursprünglich wollte. Laschets Verhandlungsgeschick und die vage Hoffnung, die auch Söder klammheimlich doch mit „Jamaica“ verbindet, haben dem gescheiterten Kanzlerkandidaten der Union fürs Erste den fälligen Rücktritt erspart.

Die alte Garde spielt Reform:
Die Illusion von der "Erneuerung" der Union
Der Treppenwitz des Wahlergebnisses besteht darin, dass ausgerechnet das neue Traumpaar der deutschen Politik – Robert Habeck und Christian Lindner – den Wahlverlierer Laschet vorübergehend im Spiel halten. Weil Grüne und FDP vorsondieren, mit welchen Forderungen und Zumutungen sie wechselseitig leben können, um damit dann abgestimmt in Sondierungen mit der SPD wie der CDU zu eruieren, wo für sie mehr zu holen ist, kann sich die Union noch im Spiel glauben.

Angesichts der Medienlage und des Umfrage-Wunschkanzlers Olaf Scholz glaubt aber kein Insider in Berlin ernsthaft daran, dass die SPD-geführte Ampelkoalition nicht zustande kommt. Allerdings erhöhen Grüne und FDP ihren Marktwert in den Gesprächen mit der SPD allein schon dadurch, dass sie auch mit der Union sprechen. Das ist zwar taktisch durchsichtig, aber gängige politische Praxis. Die SPD könnte den Übermut der beiden regierungslüsternen kleineren Parteien nur bremsen, wenn sie selbst eine andere Machtoption ins Gespräch brächte. Das wäre eine Wiederauflage der Koalition mit der Union – aber unter einem SPD-Kanzler. Doch vor dieser Vorstellung graut den Sozialdemokraten so sehr, dass sie daran nicht einmal im Traum denken und sich lieber von Grünen und FDP programmatische und personelle Zumutungen abtrotzen lassen.

Mitleid mit der Union muss niemand haben. Ihre desaströse Lage ist selbst verschuldet. Fast schadenfroh reagieren selbst frühere Stammwähler auf diesen Absturz. Doch ob der Niedergang der einst konservativ-liberalen CDU/CSU Deutschland wirklich nützt, werden die kommenden Jahre unter einem SPD-Kanzler Olaf Scholz mit seiner rot-grün-gelben „Ménage à trois“ zeigen.

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Kommentare ( 35 )

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ahgee
2 Jahre her

Lieber Herr Metzger, Ihr Eingangssatz mit der auch nicht mehr ganz taufrischen Formel von der inhaltsleeren Union ödet mich an. Vor allem weil Sie das Kunststück fertigbringen SOFORT danach alle wesentlichen INHALTE der christlichst-sozialistischsten Kanzlerin aller Zeiten detailliert aufzuzählen. Fällt Ihnen dieser rhetorische Widerspruch nicht selber auf?! Zu Ihrer Beruhigung: Sie sind nicht allein. Noch eine weitere contradictio in adiectu gefällig? Merkel wird in Anlehnung an Max Weber gerne Verantwortungslosigkeit unterstellt und Gesinnungsethik attestiert. Da stellt sich dann die Frage, ob es Gesinnung ohne Inhalte gibt? Machen wir es kurz: Merkels politische Grundüberzeugung ist der christliche Sozialismus ihres Vaters Horst… Mehr

Endlich Frei
2 Jahre her

Die Frage ist, ob es dann noch genug „schon länger hier Lebende“ geben wird, während sich GrünRot nun immer mehr den „noch nicht so lang hier Lebenden“ widmen wird. Vermutlich gibt es demnächst sogar eine Quote.

Endlich Frei
2 Jahre her

„Die Grünen können für sich das Thema Ökologie reklamieren, das ihnen auch eine große Mehrheit der Bevölkerung als Alleinstellungsmerkmal zugesteht.“
Jedesmal, wenn ich von Hamburg nach Süddeutschland fahre, kommen mir daran größte Zweifel, derart verschandelt wurde dieses einst schöne Land durch Vogelschredder-Kraftwerke. Und das soll erst der Anfang sein.

Ticinese
2 Jahre her

Ob CDU oder SPD, – beide können seit vielen Jahren Wohlstand und Stabilität mehr garantieren. „Das Märchen vom reichen Land“ ist vorbei. Mit Schuldenmacherei und Gelddruckerei konnte man dem Volk noch Sand in die Augen streuen. Jetzt kommt allerdings die Inflation.
„Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß“ titelte 1940 Winston Churchill eine Rede, welche das Volk aus seiner Lethargie riss. Wo gibt es einen deutschen Politiker, um der Bevölkerung endlich reinen Wein einzuschenken?

Old-Man
2 Jahre her

Ihre benannten Punkte sind allesamt richtig, es fehlt nur die Kleinigkeit, das Frau Merkel es geschafft hat in ihren 16 Jahren die CDU derart zu Grunde zu richten, das es sehr lange dauern kann bis diese Partei wieder als vertrauenswürdig für die Wähler ein zu stufen ist. Erst wenn alle „Merkelaner“ verschwunden sind, gibt es so etwas wie eine Chance zur wieder Auferstehung. Armin Laschet ist ein „Merkel Junge“, er hat keinerlei Aussicht auf Erfolg, oder Gnade vor den Wählern. Das gute an dem Wahldebakel ist nur : Merkel ist weg, auch wenn ihr eisiger Hauch noch viele Jahre durch… Mehr

BHaven
2 Jahre her

Markenkern der CDU ? Kanzlerwahlverein, unter Laschet: Karnevalsverein… Die CDU steht für nichts, dafür hat die als Frau Kasner Geborene schon gesorgt, um die es derzeit sehr still geworden ist (ein angenehmer Zustand wie ich finde). Ob die SPD einen Markenkern hat für den sie dann auch gewählt wurde, das bezweifle ich sehr stark. Die SPD hat sich hinter Scholz versammelt, um ihm im Falle einer Niederlage die Schuld dafür in die Schuhe schieben zu können. Jetzt hat er wieder Erwarten gewonnen und schon meldet die Linksaußen- Fraktion um Esken und Kühnert eigene Ansprüche an. Laschet wird nur noch so… Mehr

cleverfrank
2 Jahre her

Herr Metzger führt ja zu Beginn seines Artikels die „Essentials“ auf, die für die Erneuerung der CDU erforderlich wären, zu erwähnen wäre noch die Migrations- und Asylpolitik. Diese politischen Ziele endlich wieder zu formulieren bedeuten einen engen Schulterschluss zur AfD und vernünftigerweise auch eine sich entwickelnde zusätzliche Koalitionsoption. Dazu bedarf es aber zunächst den Rücktritt eines Laschet und/oder Vorstandmitglieds der CDU, um damit den Stein ins Rollen zu bekommen. Ich fürchte aber, Laschet wird endlos weitermachen, zumindest solange man ihn lässt. Ihm geht es nicht (mehr) um das Land oder Partei, sondern ausschließlich um seine Zukunft. Ein weiterer Niedergang der… Mehr

Max Hermann
2 Jahre her

Werter Herr Metzger, in Ihrer Aufzählung der CDU-Leistungen fehlt noch eine Petitesse. Das Bisschen illegale Einwanderung seit 2015. Von einem Ex-Ministerpräsidenten als „Herrschaft des Unrechts“ fehlgedeutet. Etwas Naserümpfen bei Verfassungsrechtlern wie di Fabio, Papier, Scholz. Ansonsten aber der größte kulturelle Beitrag der CDU „in dem Land, in dem wir gut und gern leben“. /sarc

FZW
2 Jahre her

Das wird nicht bei vier Jahren bleiben.

pcn
2 Jahre her

Nach 16 Jahren Merkel gibt es für einen Herrn Laschet kein zurück. Zu einem Zurück brauchte es den Mut, diese 16 Jahre Anti-Deutschlandpolitik nicht nur infrage zu stellen, sondern eine kritische Bilanz zu ziehen. Die mediale Öffentlichkeit würde die Augen stellen, die Wählerschaft womöglich bass erstaunt sein, in welcher misslichen Lage sich ihr Wohlstand befindet. Die Wahrheit schmerzt bekanntlich. Orientierungspunkte für solch eine Bilanz gäbe möglicherweise die WerteUnion, die Herr Laschet befragen könnte. Aber die politisch Unberührbaren sind wohl in der Versenkung verschwunden. Jedenfalls hört und sieht man nichts von ihr.