Komm Heiliger Geist! Gedanken zu Pfingsten

Der Ruf nach „Zusammenhalt“ dominiert den öffentlichen Diskurs und spaltet dabei mehr, als er eint. Wo zwanghafter Konsens gefordert wird, verkümmert der demokratische Streit, und aus Vielfalt wird Schweigen.

Die Klagen über die gespaltene Gesellschaft sind vor allem eins: Beweis für ein gesichert gespaltenes Bewusstsein. Der neurotische Zustand der Klagenden ist daran zu erkennen, dass sie echte Gefahren übersehen und hysterisch auf vermeintliche Gefahren starren. In Wahrheit spaltet der permanente Ruf nach dem großen WIR – weil er Konsens verlangt. Zwanghafter Konsens aber umgeht notwendige Auseinandersetzungen, diskriminiert Andersdenkende.

I.

Keine noch so schwachbrüstige Politiker/Pastoren/Moderatoren-Rede ohne das Wort „Zusammenhalt“. Es ist selbst ein nicht sehr elegant zusammengehaltenes Wortpaar. Zusammengehalten werden soll, was nicht zusammengehört. Zusammenhalt wird verwechselt mit: Alle haben mehr oder weniger die gleiche Meinung. Man sagt heute lieber Haltung statt Meinung. Weil Haltung moralischer klingt. Über Meinungen lässt sich streiten. Haltungen aber sind richtig oder falsch, gut oder schlecht. Der Haltungsvertreter beendet den Diskurs, ehe er beginnen kann. Denn das Wahre und Gute ist alternativlos. Die Gegenhaltung kann nur böse also unannehmbar sein. So funktioniert weder Demokratie noch „Zusammenhalt“.

II.

Der Tell-Hut auf der Stange, den heute jeder grüßen soll, ist eine Kappe, auf der „Zusammenhalt“ steht. Es ist die wahre Autorität, der sich alle beugen sollen. Das große WIR feiert das Kollektiv, diffamiert Selbstdenker als Querdenker und nimmt dem Individuum die Freiheit. Damit sind vor allem die regierenden Parteien (plus die heimlich mitregierenden Grünen) hauptsächlich beschäftigt. Sie halten zusammen, obwohl sie nicht zusammengehören. Sie teilen die irrige Auffassung, dass die Wähler nur gefälligst „demokratisch“ wählen sollten und das Maul halten. Demokratisch ist für sie eine Haltung, die einzige erlaubte.

III.

Demokraten beschädigen die Demokratie, wenn sie die Mühen der demokratischen Auseinandersetzung verachten. Zensoren tarnen sich als Friedensstifter. Sie säen Misstrauen und Missgunst. Die Folge ist Blasenbildung. Die Meinungsblasen, in der sich viele Bürger aufhalten, schützen davor, etwa in Frage zu stellen. Man will mit Andersdenkenden nichts zu tun haben, ihnen nicht zuhören oder gar mit ihnen streiten. Man lehnt sie ab. Das muss genügen. Je mehr die Blasen zusammenhalten, desto weniger hält das Ganze zusammen. Im Großen wie im Kleinen: Die anderen werden aussortiert, auch aus dem Freundeskreis. Offen zu sagen, was man will, sei nur noch in der eigenen Blase möglich, glauben viele.

IV.

Bertold Brecht schrieb das „Lied des Speichelleckers“. Es beginnt so:

Meine Seele kommt in Aufruhr
Alles in mir revoltiert
Wenn ich einen Menschen sehe
Der mit Recht von Jedermann gemieden wird.

In der zweiten Strophe heißt es:

Was der immer auch getrieben
Darauf kommt es gar nicht an.
Er ist oben nicht gut angeschrieben
Damit ist er für mich abgetan.

Sind wir ein Land von Speichelleckern? Immer noch?

V.

Die meisten Bürger reagieren auf den Zwang zum Konformismus mit Anpassung und Leisetreterei – sie gehen dem Konsens aus dem Weg, indem sie gar nicht mehr meinen, und bald auch nicht mehr denken. Denken ist unbequem, macht Schwierigkeiten. Wer will schon gecancelt oder auch nur schräg angesehen oder als Schädling der Demokratie beschimpft. werden. Wer sagt, was er denkt, kann es tun, aber er eckt an. Wer nicht sagt, was er denken soll, sowieso. Wir leiden auch unter Bekenntniszwang. Das ist das Paradox des Zusammenhaltens um jeden Preis: Es stärkt nicht den Zusammenhalt, es führt zur stillschweigenden Vereinzelung. Das ist keine Frage von links und rechts. Die Links-Rechts-Spaltung ist sinnlos, wenn sie nur dazu dient, Andersdenkende auszugrenzen. Diejenigen, die am lautesten Zusammenhalt fordern, grenzen am wirkungsvollsten aus.

VI.

Geist, ob heilig oder profan, ist eine Kraft, die in Frage stellt, die sich auf nichts verlässt, außer auf den Segen der Skepsis. In diesem Sinne leben wir in einer unseligen Gesellschaft, die Friedhofsruhe für erstrebenswert hält, weil sie zu faul, zu träge, zu dekadent ist, Streit zu ertragen. Das Pfingstwunder besteht übrigens nicht darin, dass plötzlich alle dieselbe Sprache sprechen, sondern darin, dass alle einander trotz ihrer Vielsprachigkeit verstehen.


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Kommentare ( 46 )

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46 Comments
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Simplex
4 Tage her

Vielleicht fällt dem Verfasser was auf, wenn ich das hier mal zitiere: „„Wir haben uns für die neue Legislaturperiode viel vorgenommen, um den Abbau von Diskriminierung in unserer Gesellschaft weiter voranzutreiben. Der Aufbau der Meldestellen ist dabei ein erster wichtiger Schritt. Mit diesem bundesweit einzigartigen System von Meldestellen wollen wir insbesondere auch die Diskriminierungsvorfälle registrieren, die unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegen und deswegen nicht in den polizeilichen Statistiken erfasst werden. Damit bekommen wir ein noch umfassenderes Bild und können wichtige Schlüsse für Intervention und Prävention ziehen. Ich freue mich, dass wir für die vier weiteren Meldestellen erfahrene und gut vernetze Träger… Mehr

Annegret Kuempel
14 Tage her

Wenn „Demokraten“ die Demokratie beschädigen sind sie dann noch Demokraten? Ich denke hier haben viele, einschließlich Herrn Herles, nicht verstanden was Demokratie bedeutet. Allerdings gehört auch zur Demokratie eine Bevölkerung, die Demokratie leben möchte und das auch will.

da war noch was
15 Tage her

Vielleicht gibt es unabgesprochen doch mehr Zusammenhalt und Herdentrieb im kritischem Denken, als uns eigentlich bewusst ist. Beispiele: -E-Auto-Verweigerung bei Vielen; -Bargeld-Bezahlen als bewusstes Zeichen; – Boykott von Wärmepumpen und anderer angeblich klimawandelschonender Dinge und ja, -auch im Supermarkt scheint es ein bewusstes oder unbewusstes Einkaufen zu geben, was die Mehrheit mehr zur Kassiererin zieht, als an ein technisches Gerät https://www.merkur.de/verbraucher/supermarkt-phaenomen-wird-hitzig-diskutiert-kunde-fuehlt-sich-schief-angeschaut-wie-kann-er-nur-93774734.html . Vielleicht gibt es noch mehr Beispiele, die Anderen einfallen? Was mir auch auffällt, ist der Trend zu YouTuber-Formaten von oft jungen Männern, die das normale Leben der Menschen im Ausland darstellen, so wie man es früher (also sie… Mehr

Peter Triller
15 Tage her

Die Nation ist ohnehin im Eimer, „Zusammenhalt“ kann es in ihr nicht geben. Am besten man teilt sie: für jene, die das „Wir“ beschwören, den grün-woken Sozialismus und die, die einfach ihr Leben eigenverantwortlich und nicht von einem aufdringlichen Gesinnungsstaat belästigt leben wollen.

Simplex
4 Tage her
Antworten an  Peter Triller

Ja, klar gibt es den Zusammenhalt, Antifa. Eingehakt marschieren. Waren das nicht dieselben Leute, die in der Praxis des Arztes Conzelmann waren, ihn fesselten und dann zu Tode quälten?

Wilhelm Roepke
15 Tage her

Ich will gar keinen Zusammenhalt mit Antidemokraten, die die einzige Opposition verbieten wollen. Ich will einen funktionierenden Rechtsstaat mit Meinungsfreiheit, Grenzschutz und stabilem Geld. Und meine Ruhe vor staatlichen Übergriffen. Für Zusammenhalt sorgen schon meine Familie, meine Freunde, meine Kollegen und (mit Einschränkungen) die Dorfgemeinschaft. Mehr „Zusammenhalt“ macht mich kirre.

Johann P.
15 Tage her

Also dieser Artikel passt ja nun so garnicht zu dem, was der Autor normalerweise von sich gibt. Wo wird denn die andere Meinung respektiert, der Zusammenhalt gefördert, die Demokratie gestärkt, wenn ich mir seine ständigen negativen Äußerungen zur AfD, zu Trump vergegenwärtige? Da wäre dann tatsächlich ein Pfingstwunder wünschenswert…

Dr. Friedrich Walter
16 Tage her

Mein Großvater sagte oft: „Viele Menschen haben Angst davor, zu denken, weil sie fürchten, daß ihr kleines Gehirn davon Falten bekommt. Die meisten Menschen bevorzugen ein absolut glattes Gehirn. Sie sind also – im wahrsten Sinne des Wortes – noch nicht einmal „ein-fältig“. Dem kann ich mich nur anschließen.

Reinhard Schroeter
16 Tage her
Antworten an  Dr. Friedrich Walter

Wenn mehre Daumen nach oben geben könnte, ich würde es tun !

AlpenLady
16 Tage her
Antworten an  Dr. Friedrich Walter

ein „geschmunzeltes“ dickes Dankeschön an Ihren Herrn Großvater.
Ja, damals hatte man seinen Kopf noch zum Denken verwendet. Ist leider in der Folgezeit den Deutschen ausgetrieben worden.

Deutscher
15 Tage her
Antworten an  Dr. Friedrich Walter

Und ich sag so: Viele Deutsche haben Angst vor der eigenen Meinung.

u.d.
16 Tage her

Wieder ein Artikel von Ihnen, den man an jede (Kirchen-) Tuer nageln sollte. (Nicht Ihr erster, lieber Herr Herles) Chapeau!

November Man
16 Tage her

„Der Ruf nach „Zusammenhalt“ dominiert den öffentlichen Diskurs und spaltet dabei mehr, als er eint.“ Das ist doch alles nur noch krank. Die EU und ihr System ist doch durch und durch nur noch korrupt. Ein Haufen rotgrüner korrupter Linksextremisten. Kein vernünftiger Mensch versteht so was, die EU wird jeden Tag widerlicher. So soll die EU-Kommission (Leitung von der Leyen) Umweltverbände dafür bezahlt haben, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Das berichtet die „Welt am Sonntag“ unter Berufung auf geheime Verträge. Ziel soll es gewesen sein, die Öffentlichkeit von der Klimapolitik der EU zu überzeugen. Die Verträge sollen aus dem Jahr… Mehr

Last edited 16 Tage her by November Man
verblichene Rose
16 Tage her

In weiten Teilen gebe ich Ihnen recht, Herr Herles.
Allerdings lasse ich mir meinen Restverstand nur sehr ungerne als „Blase“ unter jubeln. Oder befinde ich mich schon dort, wenn ich steif und fest behaupte, daß 1+1=2 sind?
Und ich stimmte Ihnen sogar noch mehr zu, wenn Sie weniger „man“ und noch weniger „wir“ verwenden würden, also diese unerträgliche Verallgemeinerung unterliessen. Es ist nämlich noch nie so gewesen, daß die Mehrheit immer recht hat/hatte, nur weil es dort mehr Haltung und Meinung auf einem Haufen gibt.