Wir brauchen eine andere EU

Mehr Vielfalt täte der EU gut – Vielfalt ist die kulturelle und politische Stärke der EU, das, was Europa in der Welt einzigartig macht. Das „Projekt EU“ ist nicht gescheitert. Es ist nur auf die falsche Bahn geraten. Wer aussteigen will, kann daran nichts ändern.

Mit der Brandmauer machen es sich die anderen Parteien allzu leicht. Sie ersparen sich die Auseinandersetzung mit den Positionen der AfD. Die Unberührbaren zu schneiden, reicht nicht aus. Denn viele Wähler finden durchaus richtig, was die AfD so vage wie unausgegoren postuliert. Am Beispiel der Europapolitik ist das gut zu erkennen.

I.

Die AfD sieht die Europäische Union als gescheitertes Projekt und fordert eine Neugründung als Bund europäischer Nationen. So steht es in ihrem neuen Wahlprogramm für die EU-Wahl im nächsten Jahr. Das ist in dieser radikalen Schlichtheit illusorisch, falsch und allenfalls populistisch. Aber es stößt auf Sympathie, und deshalb sollten die anderen Parteien nicht länger brandmauern, sondern die bitter notwendige Reformdebatte führen, statt sie mehr oder weniger der unbedarften AfD zu überlassen, die nur solange in der Weltgeschichte herumphantasieren kann, wie sie nichts zu sagen hat.

II.

Man muss kein Rechter sein, um zu sehen, dass die EU in bürokratischen Regelungsexzessen erstickt. Das Monster nährt sich selbst und wird immer fetter. Die EU normiert den gemeinsamen Markt zu Tode, vor allem, seit alles unter der Fuchtel des Green Deal steht. Der Club der Regierungschefs der Mitgliedsstaaten haben zu viel Macht. Das EU-Parlament ist solange nicht wirklich demokratisch, solange nicht jede Stimme in Europa gleich viel zählt. In ihm sitzen Listenfunktionäre. Europas Regionen benötigen direkt gewählte Abgeordnete. Auch parteiunabhängige Kandidaten würden so eine Chance bekommen. Mehr Vielfalt täte der EU gut – Vielfalt ist die kulturelle und politische Stärke der EU, das, was Europa in der Welt einzigartig macht. Das „Projekt EU“ ist nicht gescheitert. Es ist nur auf die falsche Bahn geraten. Wer aussteigen will, kann daran nichts ändern.

III.

Wer garantiert denn, dass ohne Brüssel Deutschland besser regiert werden würde? Es ist gut, dass Länder von Finnland bis Dänemark, von Ungarn bis Italien den falschen Kurs ideologisch verbohrter Deutscher bremsen. Die falsche Entwicklung, die die EU nimmt, ist doch ganz wesentlich von Deutschland betrieben worden. Nicht zu vergessen die beiden zentralen Fehler, die beide der „Wiedervereinigung“ geschuldet sind: überhastete Einführung des Euro, ohne zuvor die ökonomischen Voraussetzungen zu schaffen, und der Irrglaube, die Gemeinschaft gleichzeitig erweitern und vertiefen zu können. Brüssel ist nicht schlimmer als Berlin. Sicher ist nur, dass in Berlin seit jeher die Schuld am angerichteten Schaden gern auf Brüssel geschoben wird, obwohl deutsche Politiker ihn ganz wesentlich mitverursachen. Der größte Witz ist die Vorstellung, die deutsche Kommissionspräsidentin UvdL habe irgend ein Verständnis für deutsche Interessen. Aber das haben deutsche Politiker auch in Berlin nicht. Nein, ich bin froh, dass vernünftige Politik Unterstützung in europäischen Nachbarländern findet. Die EU ist eine unverzichtbare Check-and-Balance-Ebene. Ein ganz und gar souveräner deutscher Nationalstaat würde mir angesichts der deutschen Staatshörigkeit Angst und Bange machen. Deutsche Maßstäbe für die ganze EU? Um Gottes Willen!

IV.

Das heilige Prinzip der EU sollte Subsidiarität sein. Die entscheidende Rolle müsste dabei den Regionen (über nationale Grenzen hinweg) zufallen. Das aber geschieht nicht. Die Regionen werden zwischen den zentralistisch gesonnenen Regierungsungetümen – das in Brüssel und das in nationalen Hauptstädten zerrieben und daran gehindert, Eigenleben zu entwickeln. Ich bin deshalb ganz entschieden für die Entmachtung der Nationalstaaten zugunsten einer Stärkung der Regionen. Föderalismus ist in Zeiten hochvernetzter Systeme moderner und zukunftsfähiger als altbackenes nationales Denken.

V.

Wenn sich Nationalstaaten gegen den freien Bürger zusammenrotten, kommt die real existierende EU heraus. Das Rezept der AfD, ganz auf Nationalstaaten zu setzen, ist von vorgestern und wäre Gift. Die Debatte über die Zukunft Europas müsste aber dennoch endlich offen geführt werden. Mit der AfD und mit allen anderen Parteien, die das falsche Bild von Europa und von Demokratie im Kopf haben, weil sie sich nicht lösen können von der falschen und überholten Vorstellung darüber, wie die EU frei und unabhängig und demokratisch werden könnte in einer Welt, in der andere Mächte den Ton angeben. Wo sind die wahren Europäer, die sich endlich zu Wort melden? Insofern kann es nicht schaden, wenn bei den EU-Wahlen im kommenden Jahr EU-skeptische Parteien zulegen werden – unter denen die AfD europapolitisch die radikalste ist. Es wird hoffentlich die überfällige Debatte beleben.

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Kommentare ( 117 )

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Gottfried
8 Monate her

Ich habe früher auch ähnlich gedacht wie Herr Herles. Mittlerweile bin ich eher dafür, die EU zu zerschlagen und neu zu organisieren. Die EU derzeit wird immer mehr zu einem totalitären Moloch, dem in großen Teilen die demokratische Legitimation fehlt, an der Spitze eine nicht gewählte, in Hinterzimmern ausgeklüngelte Präsidentin von der Leyen, die der Weltwocheautor Wolfgang Koydl ungestraft als eine Frau mit hoher krimineller Energie bezeichnen kann. Leider muss man heute sagen, dass dieses wunderbare Europa massiv an der Krankheit EU leidet.

Deutscher
8 Monate her

Besser gar keine EU als diese EU.
Reformieren kann man sie m.E. nicht.
Also am besten vollständig rückbauen.
Wenn man die traditionell kriegslüsternen Sozialisten von der Macht fernhält, ist das auch weiter kein Problem.

Last edited 8 Monate her by Deutscher
moorwald
8 Monate her

Die Deutschen dürften das einzige Volk sein, das aus Überzeugung – also moralisch begründet – in der EU ist und bleibt.
Alle anderen stellen ganz nüchtern eine Kosten-Nutzen-Rechnung auf. Darum hat Brüssel auch besonders gegenüber den Kleinen (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei..) immer das Druckmittel des Geldentzugs in der Hand.
Gegen Deutschland, einen Nettozahler, wirkt das nicht. Hier setzt man eher auf das ewige Schuldbewußtsein und ein entsprechend nur schwach entwickeltes nationales Eigeninteresse.
Die einen wollen, daß es ihnen gutgeht, die Deutschen wollen gut sein, geliebt werden.

Solbakken
8 Monate her

Sehr geehrter Herr Herles , es stimmt nicht, daß die AfD ganz auf Nationalstaaten setzt. Auch bei der AfD gibt es Politikbereiche, die gemeinsam mit den anderen europäischen Staaten behandelt werden müssen. Und, falls Sie doch mal in den Livestream des Europaparteitages geguckt haben : Ist Ihnen aufgefallen, daß nach Studium, Ausbildung und Berufserfahrung außerhalb der Politik der Kandidaten gefragt wurde? Ist das unbedarft?

Mausi
8 Monate her

Die EU und auch D sind von der gleichen Einstellung befallen. Von Subsidiarität ist wenig zu spüren. Alles ist angeblich so wichtig, dass es „oben“ entschieden werden muss. Nur nicht vom Einzelnen, der die kleinste Einheit im Subsidiaritätsprinzip ist. Und diejenige, die in einer Demokratie die Macht haben sollte. Und das BVerfGE unterstützt diese Machtverschiebung, anstatt den Bürger in seinen Grundrechten zu schützen. Was in den einzelnen Staaten als „Region“ gilt, hat sich im Lauf der Zeit entwickelt. Kleine Einheiten sollten m. E. unterstützt werden. Denn je weniger „Region“ es gibt, desto weniger Subsidiarität ist m. E. gegeben. Ich halte… Mehr

Last edited 8 Monate her by Mausi
IJ
8 Monate her

Ich sehe das auch so. Die EU bzw. die EWG ist als Freiheitsprojekt gestartet und war damit sehr erfolgreich. Sie ist nun dabei, als verschwenderisches totalitäres Unterdrückungsprojekt zu landen. Oder wie die Polen sagen: „Brüssel ist das neue Moskau“. Der alte Geist der Freiheit muss unbedingt wiederbelebt werden. Als erstes sollte dafür der EuGH ersatzlos gestrichen werden. Da die EU keine eigene Verfassung hat, hat sie ohnehin sui generis auch keine eigene Rechtssprechungs- und Rechtssetzungskompetenz.

sphinx
8 Monate her

Das wird mit Zentralstaaten wie Frankreich im Boot ein schöner Traum bleiben.

Evero
8 Monate her

Wer Europa wirklich will, sollte auf pragmatische Lösungen setzen. Pragmatisch ist Subsidiarität bei der Problembearbeitung, eine EU der souveränen Nationalstaaten, eine Zusammenarbeit auf zwischenstaatlicher Ebene ohne Zwang zur einstimmigen Annahme (kann aber muss nicht mitmachen). Mit diesem Ansatz wäre Europa schon sehr viel weiter, als mit diesem zentralistischen Bürokratiemonster EU-Kommission und der Geldeintreiber- und Geldschleudermaschinerie. Finanzpolitik ist souveräne Aufgabe der Nationalstaaten.
Aus meiner Sicht wäre eine EU dazu da, supranationale Aufgaben zu lösen. Hier bietet sich an: gemeinsame Verteidigung und gemeiname Aussenpolitik, aber auf Konsensbasis und nicht unter Zwang.

Last edited 8 Monate her by Evero
EndofRome
8 Monate her

Die EU will u.a. das Bargeld abschaffen. Dann können Sie, werter Herr Herles, in Zukunft nach der Veröffentlichung eines Artikels bei TE erst einmal eine Woche Flaschensammeln, weil ihr Konto von Big Brother gesperrt ist. Vom freien Reisen haben wir noch gar nicht gesprochen. Dazu müssen Sich vorher dann irgendeine Pfizerbrühe gegen irgendeine herbei phantasierte Seuche injizieren lassen. Auch das mit freundlicher Assistenz der Brüsseler Kommission. Bevor ich es vergesse. Ist da nicht noch ein Heizgesetz in der Pipeline? Damit bald auch die meisten Bürger ihr Häuschen an globalisierte Konzerne verkaufen müssen. Für Sie daher ins Stammbuch. Die EU ist… Mehr

Lizzard04
8 Monate her

„…und deshalb sollten die anderen Parteien nicht länger brandmauern, sondern die bitter notwendige Reformdebatte führen, statt sie mehr oder weniger der unbedarften AfD zu überlassen.“ Ich verstehe diesen naiven Gedanken nicht! Wer bitte soll das sein? Etwa die Grünen, die am liebsten alle Kompetenz an Brüssel abgeben möchten, oder die „so großartige Oppositionspartei CDU“, die mit Weber und UvdL bereits zwei der wichtigsten deutschen Vertreter in der EU Administration stellt? Und wieder geht es beim von mir sehr geschätzten Autor leider nicht ohne AfD Bashing. Tut mir leid, aber seid Ihrer Wahlempfehlung für diese fürchterliche FDP kann ich sowas nicht… Mehr