Deutschland in Verantwortung seiner Geschichte und Zukunft

In den Annalen von Lü ist eine Kernaussage der taoistischen Weltvorstellung überliefert: „Die Vollständigkeit führt zu Brüchen. Wenn ein Extrem erreicht wird, dann geht es zu einem anderen Extrem. Aus Gewinnen werden zwangsläufig wieder Verluste.“

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Der in gewisser Weise automatisch von statten gehende „Zyklus der Extreme“ der chinesischen Geschichtsphilosophie trifft auch teilweise auf Japan zu. Die absolute pazifistische Grundhaltung des japanischen Staates hatte in Zeiten des Kalten Kriegs noch problemlos funktioniert, da die VR. China wirtschaftlich keine Konkurrenz darstellte und sicherheitspolitisch zunächst in Taiwan (unter Chiang Kai-Shek, der eine Rückeroberung des chinesischen Festlands nie aufgab), dann vor allem in den USA (die militärischen Konflikte zwischen VR. China und USA wurden vor allem in Korea, aber auch in Südostasien ausgetragen) und ab den 1960er Jahren in der Sowjetunion ihren Hauptgegner sah. Der institutionelle  Pazifismus der Japaner wurde jedoch dann zunehmend zu einem Problem, sobald das gesamtwirtschaftlich erstarkte, jedoch von enormen inneren sozialen Spannungen geplagte China seit den 1990er Jahren in Japan eine wirkungsvolle Quelle für ein Feindbild seines Nationalismus ansah und dies als Schwäche auslegte. Die Japaner haben dies erkannt und reagieren nun schrittweise mit Verfassungsänderungen, Gesetzesänderungen und Stärkung des US-japanischen Militärbündnisses. Diese werden aber Japan nicht erneut in einen militaristischen und totalitären Staat verwandeln, sondern Japans Sicherheitspolitik an das veränderte sicherheitspolitische Umfeld in Ostasien anpassen.

Zweitens, das Vorhandensein eines starken nationalen und kulturellen Bewusstseins sowie die beständige Pflege der eigenen Tradition nicht im Widerspruch zur Modernität, Internationalität (weltweite Präsenz der japanischen Unternehmen) und demokratisch-rechtsstaatlichen Staatsordnung stehen.

Drittens, die Aufrechterhaltung eines kulturell homogenen Nationalstaats, was keinesfalls notwendigerweise ein expansionistisch-militaristisches Verlangen oder ein antidemokratisches Regime voraussetzt oder zur Folge hat. Japan verzichtet auf die unkontrollierte Masseneinwanderung Geringqualifizierter aus entfernten Kulturkreisen und setzt neben der Automatisierung und Steigerung der Produktivität auf kontrollierte, begrenzte Zuwanderung Qualifizierter aus meist nahen Kulturkreisen und erwartet bei Migranten die bedingungslose Anpassung an die japanischen Gesellschaft und bei einer Einbürgerung die vollständige Assimilierung inklusive der Annahme eines japanischen Nachnamens. Gleichzeitig ist Japan eine demokratische, pazifistische Gesellschaft geblieben und zudem weltweit in vielen humanitären Projekten, auch bei der Flüchtlingshilfe einer der größten Geldgeber.

IV. Verankerung im westlichen Staatenbündnis

Eine weitere Konsequenz aus der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und des damals bevorstehenden Kalten Krieges war die Einbindung Deutschlands und Japans in das westliche Bündnissystem. Für Deutschland bedeutet dies die Mitgliedschaft in der Nato, während  Japan 1960 durch den Kooperations- und Sicherheitsvertrag sicherheitspolitisch an den USA, also auch an den Westen gebunden wurde. Die außenpolitischen Sonderwege Japans und Deutschlands in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurden auf diesem Wege durch die Westbildung beendet.

Dass nach Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum heutigen Tage weitgehend Frieden in Europa und Asien herrscht, ist es vor allem dem Umstand zu verdanken, dass einerseits sämtliche klassische Industriestaaten (G7) in einem westlichen militärischen Bündnissystem integriert sind und andererseits ein größerer Krieg zwischen dem Westen und anderen Großmächten (vor allem China, Russland) durch gegenseitige nukleare wie konventionelle Abschreckung kaum noch möglich ist.

Die Bundesrepublik Deutschland hat wie viele andere Länder auch von dieser Friedenssicherung durch die eigene Zugehörigkeit zum Westen enorm profitiert, sodass sie sich mehr als ein halbes Jahrhundert lang vor allem auf ihre eigene wirtschaftliche Entwicklung konzentrieren konnte.

Obgleich das Bekenntnis und die Abhängigkeit der Bundesrepublik zur Nato bis heute ungebrochen sind, so ist zunehmend ein Entfremdungsprozess Deutschlands zu seinen westlichen Partnern, insbesondere aber zu den beiden größten angelsächsischen Ländern USA und Großbritannien zu beobachten.

Dieser Entfremdungsprozess zeigt sich besonders deutlich in der bis heute andauernden europäischen Migrationskrise, aber auch in der Frage der europäischen Integration. In diesen beiden Fragen haben sich Großbritannien und die USA ideologisch mit dem Votum für den Brexit und dem Wahlsieg des Donald J. Trump eindeutig von der „links-liberal“ dominierten Berliner Republik entfernt. In einem vorherigen Artikel habe ich bereits auf die Gefahr einer ideologisch bedingten unnötigen Maximierung des außenpolitischen Schadens zum Nachteil der Bundesrepublik hingewiesen. Im Übrigen ist vor kurzem der japanische Premier mit einer großen Delegation in die USA gereist, mit einem Investitionspaket japanischer Unternehmen im Wert von 400 Milliarden US-Dollar. Dabei befand sich Japan zuvor noch in einer vergleichbaren Position wie Deutschland und war dem Vorwurf der Trump-Administration einer Währungsmanipulation ausgesetzt. Man kann nun davon ausgehen, dass sich Japan und USA zum gegenseitigen Vorteil arrangiert haben. Wo sind eigentlich die Bemühungen der Bundesregierung, einen ähnlichen Deal im gegenseitigen Respekt  und zum beiden seitigen Vorteil mit der US-Regierung auszuhandeln?

Es gibt jedoch aber auch einen anderen Unterschied zwischen dem deutschen politisch-medialen Establishment und den politischen Führungskräften in den meisten europäischen Staaten hinsichtlich ihres Verhältnisses zu der EU, der immer wieder für Missverständnisse und Spannungen sorgt. Während die meisten Politiker der EU-Staaten in der EU vor allem die Erweiterung und Stärkung ihrer nationalen Interessen betrachten und ihre nationale Interessen im Zweifelsfall über alles andere hinwegsetzen, will ein Großteil des deutschen politisch-medialen Establishments seine deutsche Identität am liebsten durch eine „europäische Identität“ ersetzt haben, wobei die deutschen nationalen Interessen schlicht mit einem hochstilisierten „Gemeinschaftsinteresse“ der EU gleichgesetzt wird. Dies sorgt für weitere Zuspitzungen der Spannungen zwischen Deutschland und anderen EU-Staaten. Während die Öffentlichkeit vieler anderen EU-Staaten das deutsche Engagement für die politische Integration der EU (aus ihrer nationalen Brille gesehen)  oft als einen Versuch der Erlangung deutscher Dominanz in Europa deutet, können sich viele deutsche Politiker nicht nachvollziehen, warum andere EU-Länder nicht bereit sind, ihre nationalen Interessen für die EU zu opfern. So gesehen verursacht eine weitere politische Integration der EU unter der deutschen Führung, die vermutlich lieber heute als morgen die europäischen Nationalstaaten samt ihren nationalen Identitäten in der EU aufgehen lassen will, weit mehr Spannungen zwischen den Völkern Europas, als eine enge wirtschaftliche Verflechtung die europäischen Völker zusammenbringt.

V. Gefährdung der Stabilität und des gesellschaftlichen Konsenses

Die Fehler der derzeitigen Politik der unkontrollierten Einwanderung habe ich bereits in mehreren Artikeln näher erläutert. Die Gefahr besteht zudem darin, dass ein immer größer werdender Teil der deutschen Bevölkerung neben dem dramatischen Vertrauensverlust in die Regierungsparteien auch immer weiter Vertrauen in die eigenen staatlichen Institutionen (Verwaltung, Polizei, Gerichte) verliert, den durch die Migrationskrise verursachten Problemen Herr werden zu können.

Die Meinung eines Einwanderers
Agenda Deutschland - Wie Migrationspolitik aussehen sollte und warum die Zukunftsfähigkeit auf dem Spiel steht
Sollten sich die durch die Migrationskrise herbeigeführte gesellschaftlichen Erschütterungen und politischen Polarisierungen/Verrohungen weiter zuspitzen, dann droht der Grundkonsens, auf dem die deutsche Gesellschaft beruht, an vielen entscheidenden Punkten zu zerbrechen. Zu diesen Punkten zählt etwa die Frage, wem eigentlich die Solidarität der deutschen politischen Parteien und Regierung zuallererst gelten muss: dem deutschen Staatsvolk, Europa, der ganzen Menschheit? Ein anderer Punkt könnte aber auch die Frage betreffen, ob Deutschland in ein multikulturelles Einwanderungsland umgestaltet werden soll, oder als ein Sozial-und Nationalstaat erhalten bleiben soll, der von einer deutschen Leitkultur dominiert wird?

Derzeit stehen sich zwei  gesellschaftliche Lager bei diesen elementaren Fragen (auch durch die einseitige Parteiergreifung eines Großteils des politisch-medialen Establishments) nahezu unversöhnlich gegenüber. Vor den gegenwärtigen und zukünftigen politisch Verantwortlichen in Deutschland liegt die große Aufgabe, einen Konsens zu stiften, der die Mehrheit der Bevölkerung durch Argumente, nicht durch politische und mediale Umerziehung, sondern durch Herz und Verstand überzeugen kann. Ansonsten droht mittel- bis langfristig die Zersplitterung der Gesellschaft in einander bekämpfenden Teilgemeinschaften, wo eine Demokratie das Land kaum noch einigen kann. Es drohen dann tatsächlich Verhältnisse der Weimarer Republik, die nicht zuletzt am Vertrauensverlust der Bürger in die Funktionsfähigkeit der Demokratie, an der Auflösung des gesellschaftlichen Konsens und an der Spaltung der Gesellschaft in einander im wahrsten Sinne des Wortes bekämpfende radikale Gruppierungen gescheitert war.

VI. Fazit

Deutschland hat bei der Aufarbeitung der NS-Verbrechen seine historische Verantwortung übernommen und dafür den Applaus der Welt verdient. Zu den Konsequenzen des Irrweges Deutschlands im vergangenen Jahrhundert zählen jedoch auch die Normalisierung Deutschlands im geistigen und institutionellen Sinne unter Einbindung in das westliche Staatenbündnis und die Erhaltung der inneren Stabilität und des gesellschaftlichen Konsenses. Gerade diese Punkte sind meines Erachtens in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend untergegangen und werden zunehmend vernachlässigt.

Politisch Verantwortliche mit einem historischen Gesamtüberblick, denen die Zukunftsfähigkeit einer demokratisch-rechtsstaatlichen Bundesrepublik Deutschland im Herzen des westlichen Europas wichtig ist, wird man daran erkennen, dass sie sich sowohl zur historischen Verantwortung bekennen, als auch die innere Stabilität und die Normalisierung der deutschen Gesellschaft im Blick haben. Nur so wird man der historischen Verantwortung, aber auch der Verantwortung gegenüber den gegenwärtigen und zukünftigen Generationen in Deutschland gerecht.

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