Der Netto-Schock

Stell dir vor, alle kriegen mehr Geld – und keiner will es. Sie halten so viel Bescheidenheit für unwahrscheinlich? Die aktuelle politische Debatte zeigt genau das. Da werden Steuern gesenkt – und ein Aufschrei des Protestes geht durch das Land. Sogar führende Mitglieder der Regierungsparteien verurteilen die eigene Reform. Während auf der gesamten Welt die Bürger nur zähneknirschend Steuern bezahlen und Steuersenkungen herbeisehnen, ist es in Deutschland umgekehrt: Geradezu masochistisch-lustvoll werden Argumente hervorgekramt, warum Steuersenkungen vermieden werden sollten und das sauer verdiente Einkommen beim klugen Staat besser aufgehoben sei. Nur in Deutschland wirkt mehr Netto vom Brutto als Schock.

Nun muss man fairerweise zugeben, dass die Staatsverschuldung tatsächlich beängstigende Ausmaße angenommen hat und die Schuldendynamik in den USA uns alle bedroht (siehe Seite 22 und 82). Aber aus einer ausgemergelten Kuh kann man nicht einfach noch mehr Milch herauspressen, wenn man Butter braucht – besser ist es, sie erst mal auf die Weide zu führen. Das ist der richtige Kerngedanke des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes. Hinzu kommt: Dieser Staat ist nicht arm – immerhin greift er satte 47 Prozent des Volkseinkommens für sich ab. Zwar wird der Staat 2009 etwa 37 Milliarden Euro weniger eingenommen haben als noch 2008. Aber das Steueraufkommen 2008 war fast 110 Milliarden Euro höher als noch 2005; und selbst im Finanzkrisenjahr 2009 flossen noch 72 Milliarden Euro mehr! Da ist schon die Frage erlaubt, wo denn unsere Steuern geblieben sind – und wieso es gar keinen Spielraum für die Rückgabe der heimlichen Steuererhöhungen geben soll, die uns zusätzlich abgenommen wurden. Ausgaben- und Aufgabenkontrolle des Staates werden in dieser Debatte unterschlagen. Die Schulden explodieren nicht, weil die Einnahmen fehlen, sondern weil die Ausgaben zu leichtfertig erhöht werden.

Es bleibt schon eine sehr eigenständige Leistung der neuen Bundesregierung, wie sie ihre im Großen und Ganzen vernünftige Steuerreform in der öffentlichen Darstellung verdummt hat und damit auch deren Erfolg gefährdet – denn der so ausgelöste Vertrauensverlust schmälert die erhofften Wachstumseffekte. Die Gründe für dieses Versagen: Die Unions-Parteien gönnen der FDP nicht den Erfolg ihres Wahlversprechens niedriger Steuern. Die Union hat sich während der Befangenschaft in der großen Koalition selbst so sozialdemokratisiert, dass sie einerseits die SPD überflüssig gemacht hat – aber selbst inhaltlich an deren Stelle getreten ist. Jetzt will die Union versuchen, den neuen Koalitionspartner ebenso schnell auf annähernd null zu schmelzen, wie es ihr mit der SPD gelungen ist. Es wird nicht regiert, sondern nur taktiert – die nächste Wahl fest im Blick, und die ist schon im Mai in Nordrhein-Westfalen. Bis dahin soll die FDP als Hallodri-Partei diskreditiert werden, damit die Union sich als Hüterin der Sozialstaatsräson umso glanzvoller ins Licht setzen kann. Die FDP wiederum ist beim zentralen Steuerthema verstummt. Sie hat die Deutungshoheit anderen überlassen – und sich stattdessen in der Frage verzettelt, wer im Vertreibungsmuseum die Vitrinen verrücken darf.

Können die es nicht besser? Bundeskanzlerin Angela Merkel musste in der großen Koalition zwischen den gegensätzlichen Partnern lavieren, und das hat sie zur Regierungskunst perfektioniert. Jetzt aber müsste sie führen – und lässt es schleifen.

Nicht der verführerische Zauber des Neuanfangs liegt über der neuen Koalition, sondern das Gekeife eines langjährigen Paares ist zu hören – als hätten sie sich schon zänkisch auseinandergelebt, kaum dass sie zueinandergefunden haben.

(Erschienen am 09.01.2010 auf Wiwo.de)

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