Chemie und Pekingente

Die Auftragslage der deutschen Industrie bessert sich fast täglich, die Wirtschaft wächst wie schon lange nicht mehr – die Frage über den Wirtschaftsverlauf nach der Finanzkrise scheint beantwortet: Ein kräftiger Absturz, dann wieder aufwärts, bildhaft also ein scharfes V, so sieht der Konjunkturverlauf aus, der auch auf unserer Titelseite abgebildet ist. Alles deutet darauf hin, dass wir wieder an die gute Lage des Jahres 2008 anschließen könnten. Fast alles jedenfalls. So richtig nachhaltig freut sich nämlich kaum jemand: Konjunkturforscher reden dauernd von Wolken, die den Wirtschaftsherbst verdüstern, als habe der Sommerdauerregen ihnen auch die professionelle Stimmung verhagelt.Im ZEW-Konjunkturindex geht’s grad so talwärts, als wäre die Wirtschaft ein W: Absturz, kurz aufwärts, dann wieder Absturz. Die Stimmung, die Erwartungen sind jedenfalls deutlich schlechter als die Lage.

Tatsächlich gibt es auch einen W-Konjunkturverlauf – allerdings in den USA. Die monströsen Konjunkturpakete von Barack Obama greifen nicht, die Arbeitslosigkeit bleibt hoch. Allmählich dämmert den Verbrauchern, dass ihre Häuser wirklich wenig wert bis unverkäuflich sind und dass die gigantische Staatsverschuldung doch von jemandem bezahlt werden muss.

Sparen als nackte Notwendigkeit wird wiederentdeckt, und viele Unternehmen scheuen Neueinstellungen, weil die Kosten von Obamas Gesundheitssreform unkalkulierbar und seine weitere Regulierungsfreude ungezügelt erscheint. Das alles verrührt sich zu einem ziemlich unangenehmen Gebräu, dessen fieser Geruch durch alle Räume des wirtschaftlichen und kulturellen Überbaus zieht: Die Anleger verkaufen Aktien, obwohl Gewinne und Kennziffern das Gegenteil nahelegen und verstecken voller Angst vor einem weiteren Crash ihr Cash in amerikanischen Staatsanleihen, auch wenn sich deren Verzinsung einer platten Null nähert. Von Deflation ist die Rede, der schleichenden Sklerose, die alle Sachwerte schwächt.

Die Bestsellerautorin Barbara Ehrenreich hat entdeckt, dass dieser typisch amerikanische Zwangsoptimismus die tiefere Ursache allen Übels ist – wird jetzt der Deutsche Vorbild für Lebensfreude?

Hier ein V, drüben ein W

Weil wir ja bekanntlich den Herdentieren an der Wall Street nachlaufen, übernehmen viele deutsche Kommentatoren diese Stimmung, die in den USA sehr wohl berechtigt, in Deutschland aber falsch ist. Wir wachsen, statt dass wir schrumpfen; die Inflationsgefahr ist deutlich größer als die der Deflation, denn in unserer Lage wird nichts billiger. Die US-Wirtschaft ist von der Kauflaune der amerikanischen Konsumenten abhängig. Aber die deutsche Wirtschaft lebt vom Export, und da ändern sich gerade die Tourenpläne der Verkäufer: China und Asien gewinnen kräftig.

Hinter den scheinbar unauffälligen prozentualen Verschiebungen der globalen Nachfrageströme verbergen sich tatsächlich gigantische Milliardenbeträge. Es sind die vermeintlich aussterbenden Dinosaurier aus Dingolfing und Stuttgart, die flott laufen, aber auch der bunte Mittelstand, Maschinenbau und Chemie, die Rekordverkäufe von so seltsamen Produkten wie Weichmacher für das Fleisch chinesischer Enten meldet.

Ganz offensichtlich hat Deutschland seine Exportpalette für die neue Nachfrage passend gemacht und kann so die lahmenden Exporte in die USA, aber auch nach Europa und Russland kompensieren. Auch die europäische Kritik an dieser Exportwucht der Deutschen ist verstummt – denn über den Einkauf von Vorprodukten aus Europa zieht Deutschland seine Nachbarn mit.

Risiken? Ja klar, jede Menge. Aber jede Diversifikation, wie wir sie jetzt erleben, ist letztlich Risikomindern.

(Erschienen am 28.08.2010 auf Wiwo.de)

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