SPD

2017 wird das Jahr des unübersehbaren Anfangs vom Ende der Parteienherrschaft und des Erwachens freier Bürger. Bei niemandem zeigt sich das mehr als bei der SPD, die als einzige eine Bewegung war, bevor sie zur Partei schrumpfte.

Die Erwartung einer krachenden Niederlage der SPD im Wahljahr 2017 löst bei vielen Zeitgenossen hämische Freude aus. Bei mir nicht. Ich empfinde auch keine Genugtuung, wenn eine meiner negativen Prognosen für die FDP zutrifft, der ich 35 Jahre angehörte, bevor ich 2003 austrat.

Unter den Parteien haben in ihrer Geschichte keine anderen so viel bewirkt wie die sozialdemokratischen. Die Stufen ihres Aufstiegs und Niedergangs sind zugleich die des Aufstiegs und Niedergangs der politischen Parteien als Organisationsform.

Dieser Tage schrieb mir einer der verbliebenen Köpfe in der FDP außerhalb des Radars unserer Oberflächen-Medien, die Parteien müssten sich neu erfinden. Auf meine Nachfrage anwortete er mangels Zeit mit der Vorab-These, die Parteien müssten NGOs werden. Ebenso kurz mailte ich zurück: das können sie nicht.

NGOs boten ihren Anhängern zu Beginn wie Bürgerinitiativen das Erfolgserlebnis, an einem konkreten Ziel mitwirken und nicht selten seine Verwirklichung erleben zu dürfen. Mittlerweile sind viele NGOs profitable Unternehmen geworden, aber geblieben ist ihnen die relativ große Chance des Erfolgserlebnisses, mindestens das der gemeinsamen öffentlich sichtbaren Aktion.

Die Sozialdemokraten begannen ihren Weg nicht als Partei, sondern Bewegung. Ich bin in einem lupenrein sozialdemokratischen Milieu aufgewachsen. An jedem 1. Mai zelebrierte die Bewegung mit ihren vielen verschiedenen Organisationen von der Jugendorganisation der Roten Falken mit Fahnen und Wimpeln bis zum Arbeiter-Rad-Fahrverein mit liebevoll geschmückten Kunstsportfahrrädern einen beeindruckenden Umzug mit der Werkskapelle an der Spitze, an dem praktisch das ganze Fabrikdorf teilnahm. Eine Stunde vorher deprimierte jedes Jahr den Umzug der Kommunistischen Partei das Spalier von unzähligen SPÖ-Flaggen an allen Häusern. Der beste Freund unserer Familie war ein Sozialdemokrat der alten Schule. Als Oberschenkel-Amputierter war er aus dem Krieg zurückgekommen und kümmerte sich in der Gemeindeverwaltung um jeden, der in Not kam. Der Direktor der Volksschule und zugleich Bürgermeister war vom gleichen Kaliber. Nach ihm wurde der jeweilige Betriebsratsvorsitzende der großen Papierfabrik, in der fast alle arbeiteten, nach zehn Jahren Bürgermeister. Was ich sagen will: Außer den wenigen Bauern, ein paar Handwerkern und kleinen Geschäftsleuten waren alle in der SPÖ, Wahlergebnisse von über 70 Prozent normal. Aber auch, wer nicht SPÖ wählte, war mit ihrer Politik im Ort und in Wien weitgehend einverstanden und zufrieden.

Das Rote Wien

Nirgendwo war das flächendeckende Wirken der Sozialdemokraten sichtbarer als im „Roten Wien“. Die Sozialdemokraten hatten das Großunternehmen Wien am Ende des Ersten Weltkrieges von den Christsozialen übernommen, die Wien den Liberalen abnahmen, die über dem für das Bürgertum nach 1848 erkämpften Anteil an der Macht einschliefen und sich um das schnell wachsende Proletariat (darunter viele Nichtdeutsche) in der aufstrebenden Industrie nicht kümmerten. Grundgelegt hat das Großunternehmen Wien der Übervater der Christsozialen und – von 1897 bis 1910 – Bürgermeister von Wien, Karl Lueger. Dass seine Partei im Volksmund und den Medien nur Antisemitische Partei hieß und von ihm der Satz stammt, „wer Jude ist, bestimme ich“, ist eine andere Geschichte. John W. Boyer von der University of Chicago hat den Christsozialen zwei faktenreiche Wälzer von zusammen fast 1.300 Seiten gewidmet, für die er sich sehr lange Zeit in Wiens Archiven aufgehalten hat.

Die Großbetriebe der Weltmetropole Wien, vor allem auch ihr sozialer Wohnungsbau (im Wiener Sprachgebrauch „Gemeindebau“, über den es viel Literarisches und Gesungenes gibt) waren nicht zuletzt für die skandinavische Sozialdemokratie geradezu Blaupausen. Die sozialdemokratische Bewegung war seit ihrem Beginn bis zu Hitler ein einziger großer Siegeszug. Die Gewerkschaften waren strategischer Teil dieser Bewegung und ihr Herz. Mit der Okkupation ihrer Errungenschaften und deren weiterem Ausbau erkauften die Nationalsozialisten die Zustimmung des größten Teils der Anhänger von Sozialdemokraten und Kommunisten, deren Spitzenkader außer Landes gingen, ins KZ kamen oder umgebracht wurden.

Nach der militärischen Niederlage des Hitlerregimes versuchten Gewerkschaften und die anderen Teile der sozialdemokratischen Bewegung, wieder bei 1933 anzuknüpfen. Zum großen Teil gelang das, auch weil die Bewegung in den skandinavischen und anderen Industrieländern Europas intakt geblieben war. Auch wenn die Kenner in der Sozialdemokratie spürten und wussten, es wird nie wieder, wie es war. Dieser Teil des deutschen und österreichischen Parteiensystems änderte sich bis Ende der Siebziger Jahre kaum. Aber es war ein neuer Spieler auf den Plan getreten: die Christdemokratie.

Die antikommunistische Christdemokratie

Die Christdemokraten erfüllten in der Bundesrepublik und noch mehr in Italien die ihnen zugedachte Rolle als Bollwerk gegen den Kommunismus. Mit ihren mehr oder weniger „dritten Wegen“ hielten sie die Kommunisten weitgehend fern und die Sozialdemokraten unter Kontrolle. Das Christliche im Programm lieferte eine Art sozialistisch light. Die CDU hatte dafür ihre Sozialausschüsse der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), die ÖVP ihren Arbeiter-und Angestelltenbund.

Gleichzeitig entwickelte sich der Westen wirtschaftlich dynamisch, für die Arbeiter und Angestellten fiel so viel davon ab, dass die Herrschaft der Christdemokraten nie in Frage stand. Die Politik der Sozialdemokraten in Skandinavien und Österreich wie der Christdemokraten in Italien, Frankreich und der Bundesrepublik kam sich nach dem Godesberger Programm der SPD, dem offiziellen Bruch mit dem Marxismus, nach und nach immer näher. Bis zur Gegenwart, in der dieser Unterschied nicht mehr wirklich auszumachen ist, auch wenn das die Funktionäre und Kernwähler der kleiner gewordenen Volksparteien nicht wahr haben wollen.

Das Godesberger Programm markiert auch das Ende des Siegeszugs der sozialdemokratischen Bewegung. Nicht weil dieses Programm der Bewegung das Ende gesetzt hätte, sondern nur der programmatische Ausdruck des Endes der Bewegung war. Das Programm besiegelte, was informell schon stattgefunden hatte. So wie später das Freiburger Programm der FDP von 1971 nicht die sozialliberale Ära von 1969 bis 1979 einleitete, sondern ihren Beginn nachträglich rechtfertigte. Es war ein romantisches Missverständnis, wenn Werner Maihofer die sozialliberale Koalition als Wiedervereinigung von Arbeiterschaft und Bürgertum interpretierte. Aber Willy Brandt bleibt der Sozialdemokrat, in dem der Glanz der sozialdemokratischen Bewegung noch einmal leuchtete.

Waren früher die 1. Mai-Umzüge beeindruckende Demonstrationen der sozialdemokratischen Bewegung mit großer Beteiligung breiter Volksschichten, konnte man an ihrem Bedeutungsverlust das Abflachen der Bewegung sehen, bis aus der Bewegung endgültig eine professionell organisierte Partei geworden war, in der die Funktionäre anfingen, sich für die Basis zu halten. Umzüge konnten die beherrschenden Industriegewerkschaften mit Arbeitermassen durchführen. Die heute beherrschende Gewerkschaft vertritt keine Arbeiter, sondern Beamte und andere öffentlich Bedienstete – Staatsangestellte.

Die kurze Blüte der CDU

Mit dem Generalsekretär Heiner Geißler holte sich Helmut Kohl einen der ganz wenigen Strategen, die es in der deutschen Parteiengeschichte gegeben hat. Geißler wiederum umgab sich mit einer Mannschaft von selbst strategisch denkenden jungen Männern. Zusammen machten sie aus dem Kanzlerwahlverein CDU eine schlagkräftige Mitgliederpartei, deren Mitgliederzahl zur bis dahin einsam führenden SPD aufschloss. In der FDP gab es auf quantitativ niedrigem Niveau in den Siebzigern und Achtzigern eine vergleichbare Professionalisierung, die mit dem Verlust der Sozialliberalen 1982 ihr Ende fand.

Mit der Implosion des Kommunismus sowjetischer Bauart entfiel mit dem Erzfeind die emotionale Basis der Christdemokraten. In die Bedeutungslosigkeit von Kleinparteien fiel sie am schnellsten in Italien. Ihren Niedergang zögert nördlich davon schon das trägere deutsche Gemüt plus viel Organisationskraft hinaus. Der deutsche Wiedervereinigung genannte Anschluss der DDR an die Bundesrepublik verlieh CDU und FDP eine Scheinblüte, die erst in der Ära Merkel wieder in den alten Prozess des Niederganges einfädelte. Gerhard Schröder setzte mit der Agenda 2010 jene Politik durch, zu der CDU und FDP nicht die Kraft fanden. Die überrumpelte SPD fing – im Austritt von Oskar Lafontaine personifiziert – an, sich von Schröder abzusetzen und Funktionäre wie Mitglieder an die Nachfolgepartei der SED zu verlieren.

Aber das sind alles mehr Symptome und Äußerlichkeiten. Der eigentliche Vorgang zeigt sich in der Person Angela Merkel in der CDU. Ob sie das aus Instinkt tut oder beraten von Strategen, die mir unbekannt wären, spielt für mich keine Rolle. Jedenfalls führt sie am laufenden Band vor, wie die politische Hülse CDU den anderen Parteien, der SPD an erster und den Grünen an zweiter Stelle, jedes Thema durch feindliche Übernahme wegnimmt, das Wähler-trächtig aussieht oder tatsächlich ist. Merkel hat damit aus SPD und Grünen Zulieferbetriebe des Wähler-verarbeitenden Unternehmens CDU gemacht, deren Vorstand und Aufsichtsrat sie in einem ist.

PR statt Politik

Der Unterschied zwischen einer Bewegung wie der sozialdemokratischen und den Parteien ist, dass Bewegungen von breiten Massen getragen werden, weil sie den Aufbruch eines neuen Zeitgeistes transportieren. Die Mitglieder der sozialdemokratischen Parteien waren immer nur ein kleiner Teil der Bewegungen. Zu einer Bewegung hat es die Christdemokratie nie gebracht, die Liberalen sowieso nicht in ihrer bis heute spürbaren Selbstbbeschränkung auf das, was die Historiker Honoratiorenpartei nennen.

Heute braucht niemand in eine Parteiversammlung zu gehen. Bewegten und Unbewegten wird alles als leicht verdauliche, allerdings auch geschmackslose Konfektionsware über die Bildschirme in die Wohnzimmer geliefert: aber keine Hoffnungen und Überzeugungen von Bewegungen für eine bessere Welt, sondern das Festklammern am und Beschwören des Status Quo. Der Ausbruch aus diesem Informations-Ghetto im Internet hat erst begonnen.

Der großen sozialdemokratischen Bewegung folgte die nationalsozialistische, die den Massen wirkungsvoll den Eindruck vermittelte, sie würde noch sozialer sein als die Sozialdemokraten. Der 1. Mai 1933 war der erste als staatlicher Feiertag, der obendrein allen als voller Arbeitstag zu bezahlen war: Massen-Bestechung. Am Tag drauf wurden die Gewerkschaftshäuser besetzt.

Nach der stillen Verwandlung der sozialdemokratischen Bewegung zur nur noch Partei und der vorübergehenden Blüte der antikommunistischen Christdemokratie befindet sich die Parteiendemokratie in einem steten Abstieg. Dass die korrumpierende Macht der Parteifunktionäre nie so flächendeckend und groß war wie jetzt in ihrem schneller werdenden Niedergang, ist einer der Treppenwitze, die die Geschichte immer wieder liefert.

Katalysatoren

Heute stehen wir an einer Wegscheide: Geht es weiter zu autoritären Regierungen, die durch Wahlen nicht bestimmt und geändert, sondern nur demokratisch verziert werden? Oder findet eine günstige Konstellation von Herausforderungen und Personen die Kraft, die Parteienherrschaft durch eine reines Mehrheitswahlrecht ohne das staatlich privilegierte Parteien-Kartell zu ersetzen? Diese Frage entscheidet. Neue Parteien, welche auch immer es sein mögen, sind nicht die Lösung. Als Katalysator des Übergangs können sie sehr wohl dienen.

Auch Donald Trump ist ein solcher Katalysator. Was immer er im einzelnen wirklich tun oder lassen wird, eines ist sicher. Die Zeit der Republikaner kommt mit ihm nicht zurück, die der Demokraten ist ohnedies vorbei. Wer die Vereinigten Staaten zu ihren Wurzeln zurückführt, ist nicht in Sicht: aber das hat das Potential einer Bewegung. Die FPÖ, der Front National und ihre politischen Verwandten in den Niederlanden, England, Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien und so weiter: alle Katalysatoren des Übergangs zu Neuem.

Politische Parteien sollen NGOs werden, sagte der einsame Denker in der FDP, wie ich eingangs erwähnte. Wirtschaftlich nicht erfolgreiche NGOs agieren inzwischen ähnlich wie Parteien, Ende der Reise programmiert. Wohin die Reise in unserer Welt geht, bestimmen heute wie eh und jeh die strukturellen Veränderungen der Wirtschaft, von der wir alle leben. Eines steht dort fest, wir brauchen nicht mehr, sondern weniger und in vielen Teilen andere menschliche Arbeit, um unseren Wohlstand nicht nur zu halten, sondern auszubauen – und wie bisher auf immer mehr Menschen auszudehnen, die heute hinter dem westlichen Stand noch zurückliegen.

Künftige Historiker werden von einer exotischen Periode berichten, in der Parteien die Geschicke der Politik bestimmten, bis die Bürger diese Vormundschaft abstreiften und die Geschicke ihrer Gemeinschaften wieder selbst in die Hand nahmen.

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