Messerangriff von Nizza: Eskaliert nun auch der Konflikt mit Erdogan?

Eine neue Gewalttat mit offensichtlich islamistischem Motiv erschüttert Frankreich. In einer Kirche in Nizza tötet ein Mann drei Menschen mit einem Messer. In den vergangenen Tagen hatte der türkische Präsident mit Beleidigungen die Stimmung in Frankreich aufgeheizt.

screenprint via twitter/ Christian Estrosi

In der südfranzösischen Küstenstadt Nizza wurden laut Medienberichten mindestens drei Menschen getötet und mehrere verletzt. Laut der Lokalzeitung Nice-Matin ereignete sich das Attentat im Inneren der Kathedrale Notre-Dame, mitten im Zentrum von Nizza. Um etwa 9 Uhr waren Schüsse zu hören. Die Zeitung Le Figaro berichtet unter Berufung auf die Polizei, dass eine 70-jährige Frau, die betete, „so gut wie geköpft“ worden sei. Der Küster der Kathedrale wurde ebenfalls durch Stiche in den Hals getötet. Eine weitere Frau starb mit mehreren Stichwunden, nachdem sie sich in ein angrenzendes Café gerettet hatte. Es gab weitere Verletzte.

Der mutmaßliche Täter wurde neutralisiert und liegt mit einer Schusswunde im Krankenhaus. Er soll nach Angaben von Bürgermeister Christian Estrosi vor der Tat „Allahu Akbar“ gerufen haben. Alles deute auf einen Terroranschlag hin. Auf Twitter spricht Estrosi von „Islamofaschismus“.

J'adresse tout mon soutien et toute ma compassion aux familles des victimes de ce barbare.

Je veux remercier les forces de l'ordre mobilisées et particulièrement la @PMdeNicepic.twitter.com/zgm4UPi1sR

— Christian Estrosi (@cestrosi) October 29, 2020

Diese erneute Terrortat, keine zwei Wochen nach der Enthauptung des Lehrers Samuel Paty durch einen 18-jährigen Tschetschenen – aufgrund einer zuvor ausgesprochenen Fatwa – ist nicht nur eine Eskalation der ohnehin schon dramatischen Terror-Lage in Frankreich. Sie dürfte auch den jüngsten verbalen und diplomatischen Streit zwischen Frankreich und der Türkei betreffen.

Nach dem grausamen Mord an Paty hatte der französische Präsident Emmanuel Macron ein Maßnahmenbündel gegen die Ausbreitung des radikalen Islams angekündigt. Erdogans Erwiderung ließ nicht lange auf sich warten. Und was fiel dem Mann vom Bosporus zu dem Terroranschlag und Macrons Rede ein? „Islamophobie“ und „Rassismus“!

Im zentralanatolischen Kayseri sagte er, der französische Präsident bedürfe einer „mentalen Untersuchung“, er sei ja ganz „verwirrt“. Nach dieser kaum verhüllten Beleidigung zog Frankreich seinen Botschafter aus der Türkei ab. Ein Sprecher Macrons erklärte, dass Erdogans Kurs in jeder Hinsicht gefährlich sei und er seine Politik ändern müsse. Man hatte außerdem bemerkt, dass der türkische Präsident nach dem Mord an Paty nicht persönlich kondoliert hatte.

Wie wird Erdogan jetzt reagieren? Kann er angesichts der erneuten Schreckenstat eines Mannes, der sich beim Köpfen einer Frau auf Allah beruft, weiter so tun, als sei  die vermeintliche „Islamophobie“ Macron das eigentliche Problem?

Frankreich als Speerspitze der Meinungs-, Rede- und Kunstfreiheit

Zusätzlich hatte Erdogan auch noch zu einem Boykott französischer Waren aufgerufen. Vermutlich wird nun auch seine Ehefrau ihre allseits bekannte Hermès-Handtasche aufgeben müssen. Im Präsidentenpalast in Ankara verlangte Erdogan von den Türken: „Vertraut den französischen Produkten nicht, kauft keine französischen Marken.“ Es gebe keinen Tag, an dem nicht der Prophet Mohammed und der Koran beleidigt würden. Schließlich konnten die Nazi-Vergleiche nicht fehlen, die natürlich sogleich alle EU-Staaten trafen. Im Gegensatz dazu gebe es in der Türkei soziale Kohäsion.

Emmanuel Macrons Eintreten für die Mohammed-Karikaturen in der Satirezeitschrift Charlie Hebdo, die man gegebenenfalls auch wieder abdrucken könne, löst Ärger in der islamischen Welt aus: Irans Revolutionsführer Ali Chamenei bezeichnete Macrons Verteidigung als „dumme Handlung“ und „Beleidigung“. In Somalia gingen Hunderte im Protest auf die Straßen. Kuwait hat einen Boykott über französische Waren verhängt. Aber aus den Reaktionen geht vor allem eines hervor: Frankreich ist damit zur Speerspitze der Meinungs-, Rede- und Kunstfreiheit gegen die islamische Theokratie geworden.

Die türkische Nationalversammlung verurteilte Macrons Verteidigung des Rechts auf Satire. Erdogan sieht dieses Verhalten als „Neuauflage der Kreuzzüge“. Die zwei kleinen Unterschiede ignoriert er: Macron zieht nicht in fremde Länder und das christliche Kreuz spielt bei seinem Kampf gegen den radikalen Islam keine Rolle.  Sogar die kemalistische CHP und die Iyi Parti behaupten, dass Macrons „unbedachte Handlungen“ zu einem Konflikt oder Bruch führen könnten. Die Wahrung der Meinungsfreiheit sei nur ein Vorwand für den französischen Präsidenten. Hier erweist sich der teilweise nationalistische Charakter der Erregung. Allein die kurdenfreundliche HDP schloss sich der Erklärung nicht an.

Karikaturenstreit, zweiter Teil

Am Dienstagabend veröffentlichte die Satirezeitschrift Charlie Hebdo ihr neues Titelbild, das den Konflikt sehr bewusst weiterspinnt. Die Zeichnung ist an Vulgarität fast nicht zu übertreffen: Erdogan, bequem im langärmeligen Unterhemd und Unterhose, ein Dosengetränk in der Hand, hebt das Kleid einer Frau mit Kopftuch an. Darunter starrt einen das blanke Nichts an. Der karikierte Staatspräsident findet die passenden Worte: »Ouuuh, der Prophet!« In der Titelzeile heißt es derweil: »Erdogan, dans le privé, il est très drôle« – also etwa: »Im Privaten ist Erdogan durchaus zu Späßen aufgelegt«.

Geschmackvoll ist die Zeichnung sicher nicht. Aber das ist Satire eben selten. Enthüllungsjournalismus? Mindestens im Wortsinn. Vielleicht wissen die Zeichner von Charlie Hebdo ja auch mehr als wir. Eine Schwäche für Prunk und prachtvolle Paläste hat der strenge Muslim jedenfalls erwiesenermaßen. Aber vor allem ist dieses Titelbild eine gezielte Provokation, zu der sich die Blattmacher herausgefordert sahen, da Erdogan sich erneut als Kalif von Ankara inszenierte, wobei ihm das grausige Schicksal eines französischen Geschichtslehrers buchstäblich egal war.

Der Witz ging freilich am türkischen Präsidenten verloren. Am folgenden Tag meldete sich sein Sprecher mit einer Pressemitteilung in französischer Sprache. Dieses Detail verrät sicher keine besondere Zuneigung des Präsidenten zu seinem französischen Amtskollegen oder den Franzosen überhaupt. Eher schon ist es eine Botschaft an die Türken und Muslime Frankreichs, sich hinter Erdogan zu versammeln.

Das türkische Präsidialamt sprach von der „Feindseligkeit gegenüber den Türken und dem Islam“, die sich in der neuen Karikatur ausdrücke. Im Parlament redete Erdogan von „wachsendem Hass gegenüber dem Islam und den Muslimen und Respektlosigkeit gegenüber unserem Propheten“. Nach dem Propheten sei nun auch er selbst von diesem Magazin durch eine Karikatur angegriffen worden. Natürlich habe er keinen Blick auf die Zeichnung geworfen. Später beeilten sich die staatlich kontrollierten Nachrichtenschreiber festzustellen, dass die Beleidigung Erdogans weitaus unwichtiger sei als die des Propheten.

Und trotzdem ist es eben diese Erdogan-Karikatur, die die türkische Staatsführung auf gleich mehreren Ebenen tätig werden lässt. Den Kampf „gegen diese unhöflichen, böswilligen und beleidigenden Schritte“ will sie auf mehreren Ebenen ausfechten. Zunächst leitete die Staatsanwaltschaft Ankara eine Untersuchung gegen die Verantwortlichen der französischen Satirezeitschrift ein.

Daneben will Erdogan angeblich auch „die nötigen diplomatischen Maßnahmen“ ergreifen – und all das wegen einer zugegeben derben Karikatur, die Politik und Religion vermischt. Doch nicht weniger vermischt sind beide in Erdogans politischer Karriere. Man könnte den Sinn der Zeichnung auch so zusammenfassen: Erdogan verlangt mehr Respekt für den Islam? Genau für den Islam, in dessen Namen seit dem 7. Januar 2015 mehr als 250 Franzosen sterben mussten und bald 1000 verletzt wurden? Am A…, das dürfte der subtile Sinn dieser derb-beleidigenden Zeichnung sein.

Kampf „gegen den Islamismus und alle seine Avatare“

Doch auch Frankreich denkt an Gegenmaßnahmen. Handelsminister Franck Riester forderte EU-Sanktionen gegen die Türkei auf dem nächsten Gipfel. Die Interessen der EU und die europäischen Werte müssten besser gegen den türkischen Nachbarn verteidigt werden. Zum Boykott-Aufruf des türkischen Präsidenten gegen französische Waren sagte Riester: Ein solcher Akt widerspreche dem Geist der diplomatischen ebenso wie der Handelsverträge, die zwischen der EU und der Türkei existieren. Nach und nach solidarisieren sich auch einst türkeifreundliche Regierungen in Europa mit Macron. Ein Hauch von Emser Depesche liegt in der Luft.

Der Regierungssprecher Gabriel Attal unterstrich, dass man niemals die eigenen „Prinzipien und Werte“ verraten oder den „Versuchen zur Destabilisierung und Einschüchterung“ nachgeben werde. Frankreich hat die Terrorgefahr in den letzten Tagen aufgrund zahlreicher Hassaufrufe hochgesetzt. Aber so werde man nur noch mehr darin bestärkt, gegen den Islamismus und alle seine Avatare anzukämpfen. Beneidenswerte Entschiedenheit.

Schon Anfang Oktober hatte Macron sich in deutlichen Worten dazu bekannt, gegen die fortschreitende Radikalisierung der Muslime in Frankreich vorgehen und den „islamistischen Separatismus“ bekämpfen zu wollen. Eine muslimische „Gegengesellschaft“ müsse zurückgeschlagen werden. Macron sprach von Ghettoisierung und „selbst geschaffenem Separatismus“, von Geheimunterricht durch islamische Prediger und dem Plan, Imame künftig vermehrt in Frankreich auszubilden und ausländische Geldflüsse nicht mehr zuzulassen. Erdogans übertriebene Reaktion auf die Karikaturen ist im Grunde eine Reaktion auf diesen Plan Macrons, und der nahm ja tatsächlich im Gefolge des furchtbaren Attentats sehr rasch erste Formen an.

Aktionen, Reaktionen

Am Mittwoch wurde die vorgeblich humanitäre Organisation BarakaCity aufgelöst, die – so Innenminister Gérald Darmanin – Beziehungen mit anderen radikal-islamischen Gruppen unterhielt und „sich in der Rechtfertigung terroristischer Akte gefiel“. 

Direkt nach dem Mord an Paty war die „Cheikh Hassine Collective“ – eine pro-palästinensische Organisation – als in die Tat verstrickt aufgelöst worden. Eine Moschee in Pantin im Nordosten von Paris wurde geschlossen, weil sie eine Rolle in der „islamistischen Bewegung“ spiele. Das nächste Auflösungsobjekt könnte die „Collective against Islamophobia“ sein.

Äußerst farbig bis buntscheckig war die Reaktion des muslimischen Aktivisten Yasser Louati auf Macrons Anti-Islamismus-Rede vom Monatsbeginn, der davon sprach, Macron habe die in Frankreich geheiligte Laizität damit begraben.

Der frühere Premierminister Alain Juppé wies solche Kritiker nun zurecht, wenn er feststellte, dass die französischen Werte jene der Republik sind: „Keine Religion, welche es auch sei, kann uns ihre Werte aufzwingen.“ Juppé kritisierte allerdings Macrons Begriff des „Separatismus“. Es handele sich eher um einen „Geist der Eroberung„.  Charlie Hebdo hat auch dies in einem Titelbild aufgespießt, auf dem sich ein winziger Macron mit einer Heckenschere an einem ihn überwuchernden Vollbart versucht: „Es ist noch Zeit zu handeln.“

Mark Rutte: „Meinungsfreiheit als das höchste Gut“

Eine Einschätzung Macrons dürfte kontrovers bleiben: Der Islam sei heute überall in der Welt „in der Krise“, so auch in Frankreich. Weder wird das den Muslimen – ob radikal oder nicht – gefallen, noch werden alle Islamkritiker zustimmen. Sind die jüngsten Anschläge und Attacken wirklich ein Zeichen dafür, dass sich die vom Propheten Mohammed begründete Religionsgemeinschaft „in der Krise“ befindet? Sind sie nicht vielmehr ein Ausdruck für die Virulenz einer zentralen Aussage eben dieser Religion, dass der Glaube nämlich auch gewaltsam, durch den Dschihad, verbreitet werden darf und soll?

Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte machte eine klare Ansage: „Ich habe eine Botschaft für Präsident Erdogan, und die ist sehr einfach: In den Niederlanden halten wir die Meinungsfreiheit für das höchste Gut, und das umfasst auch Karikaturen, auch solche von Politikern.“ 

Macrons „hässliche Wendung“ gegen den radikalen Islam

Eine merkwürdige Fußnote hat dieses ganze Geschehen noch: In der französischen Presse stellte man fest, wie der derzeitige Konflikt zum Teil schon offen den radikalen Islam und die amerikanische Linke eint. So weiß man bei der New York Times zwar, dass Frankreich in den vergangenen acht Jahren 36 dschihadistische Anschläge überstehen musste, vor allem die besonders gravierende Serie der Anschläge auf Charlie Hebdo, die Pariser Konzerthalle Bataclan und die Strandpromenade von Nizza. Trotzdem macht sich der Brüsseler Korrespondent des Blatts, Steve Erlanger, vor allem Sorgen um eine „hässliche Wendung“, die die französische Politik gegenüber dem Islam derzeit nehme.

Aber auch in Deutschland gibt es ähnliche Stimmen. So weiß Luisa von Richthofen für die Deutsche Welle, dass „das Pochen auf Laïzität die Debatten schwierig“ mache. Außerdem habe „die Republik versagt“, das Land belege „einen makabren Spitzenplatz in Europa“, was die Toten durch islamistische Anschläge angeht. So weist man dem Opfer also die Schuld an der Tat zu.

Zu all dem passt, dass die Türkei schon lange enge Kontakte zu Dschihadisten in Syrien hat, und dass sie diese als Söldner in verschiedenen Ländern einsetzt: in Libyen ebenso wie jetzt in Aserbaidschan, während Macron schon seit längerem deren Abzug fordert. 

Derweil kursieren auf Twitter zahlreiche aktuelle Videos aus der südfranzösischen Mittelstadt Vienne, auf denen zu sehen ist, wie Dutzende, wenn nicht hunderte Türken und Azeris durch das armenische Viertel der Stadt marschieren. Dabei wird auch die französische Polizei nicht geschont. Ein junger Armenier soll mit einem Hammer verletzt worden sein.

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