„Vergifteter Stachel“: Wie der Bundespräsident die Axt an den politischen Diskurs legt

Sind wir nicht alle gegen „Hass und Hetzrede“? Vielleicht sollte sich das auch Frank-Walter Steinmeier einmal zu Herzen nehmen, wenn er das nächste Mal mit engagierten Bürgern spricht.

IMAGO / Jochen Tack

Lange ist’s her, dass ein Bundespräsident zu „Versöhnen statt Spalten“ aufrief (Johannes Rau), lange auch, dass jemand etwas von demokratischem und rechtsstaatlichem Procedere verstand (Roman Herzog) oder gar von deutschen Interessen (Horst Köhler). Der derzeitige, der uns noch weitere vier Jahre nicht erspart bleiben soll, ist ein erschütternder Tiefpunkt. Das stellte Steinmeier erst gestern wieder unter Beweis – in einer „kleinen Diskussionsrunde“ mit ehrenamtlich engagierten Bürgern in seinem Amtssitz Schloss Bellevue zwar nur, doch die Tagesschau war offenbar dabei.  

Nach Ruhmesworten für die „solidarische und verantwortungsvolle“, die „große, oft stille Mehrheit in unserem Land“ forderte er diese auf, nicht still zu bleiben, „wenn Extremisten die Axt ans demokratische Urvertrauen legen“. 

Damit meinte er selbstredend nicht all jene Akteure in Politik und Medien, die dieses „Urvertrauen“ seit zwei Jahren unerbittlich mit der Kettensäge bearbeiten und mit ihrem Bemühen um größtmögliche Coronapanik manche Daten verzerrt verbreiten und anderes verschweigen – sondern jene Bürger, denen genau das aufgefallen ist. Er meint „sogenannte Spaziergänger“, die, wenn sie „von einer ‚Corona-Dikatur‘ schwurbeln“ nur „Verachtung für staatliche Institutionen“ zeigten. 

Institutionen? Wer ist gemeint? Politiker? Nichtlegitimierte Entscheidungsgremien wie Ministerpräsidentenrunden, willfährige Wissenschaftler oder Ethikräte?

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Gewiss, gewiss, friedlich protestieren dürften die Sogenannten schon. Doch Steinmeier sorgt sich, „dass radikale, vor allem rechtsextreme Kräfte (…) unseren demokratischen Rechtsstaat angreifen, dass die die Proteste für ihre Zwecke instrumentalisieren und zunehmend andere vor ihren demokratiefeindlichen Karren spannen“. Und er ist sogar „sicher, die Impfpflicht-Debatte wird nicht das letzte Thema sein, mit dem extreme Kräfte versuchen werden, den vergifteten Stachel in unsere Demokratie zu treiben“.

Hm. Ein vergifteter Stachel? Ist das nicht zumindest nah am Tiervergleich, der doch zurecht als diffamierend und darum inakzeptabel für eine zivilisierte Debatte gilt?

Man muss die Sätze, mit denen der Bundespräsident von der Tagesschau zitiert wird, in einen zeitgeschichtlichen Kontext stellen, um zu begreifen, auf welchem hohen Ross sitzend Steinmeier hier zu den Bürgern spricht. Wer alt genug ist, sich zu erinnern, denkt nicht nur an die DDR, in der die Nomenklatura ähnlich argumentierte, wenn der dumme Lümmel Volk aufbegehrte. Unsereins fallen auch die 1970er Jahre ein und die Kampagne gegen die „Sympathisanten“ der Terror-Gang Rote Armee Fraktion, da wurde ähnlich geholzt und gebolzt.

Mit einem Unterschied: Die RAF griff Demokratie und Rechtsstaat tatsächlich an, mörderisch gegen ihre Repräsentanten, sie hatte in der Tat viele Sympathisanten, die einen Systemwechsel wünschten – und sie wurde heimlich aber effektiv vom SED-Regime der DDR unterstützt. Dort förderte man den Kampf gegen Rechtsradikalismus in der „BRD“ ideell und materiell, man pflegte damit das Narrativ, der demokratische Westen sei noch immer Heimat des Nationalsozialismus, während die DDR ja nur ein bisschen stalinistisch war. Es ist erstaunlich, wie stark diese Propaganda noch immer in den Köpfen verankert ist, dagegen haben auch die vergangenen 30 Jahre offenbar wenig ausrichten können.

Nebenbei: In damaligen Demonstrationen bis heute war und ist ein treuer Begleiter der schwarze Block der Antifa – Spitzenkräfte, was die Instrumentalisierung oder, umgekehrt, Behinderung friedlicher Proteste betrifft. Man denke etwa an die Gewaltexzesse beim G20-Gipfel in Hamburg. Damals sprach der frisch gewählte Bundespräsident Steinmeier übrigens nicht von giftigen Stacheln oder einer Axt am demokratischen Urvertrauen, er war einfach nur „fassungslos“ sowie „schockiert und erschüttert“.

Dass auf den lahmen Gaul der rechtsradikalen Instrumentalisierung – Motto: das nützt doch nur dem Klassenfeind – noch immer eingedroschen wird, ist, gelinde gesagt, ein Skandal. Und dass auf der Linken viele diesen Bullshit mitmachen, jede Kritik am notabene demokratiefeindlichen und Rechtsstaatlichkeit verachtenden Politikstil der Alternativlosigkeit und des Notstands als mindestens rechts bis rechtsextrem zu verteufeln, lässt tief blicken. Wann war das noch mal, als „links“ sein hieß, die Verhältnisse und nicht zuletzt Staat und Politiker zu kritisieren?

Und obwohl es unfair ist, jemandem seine Jugendsünden noch Jahrzehnte danach vorzurechnen: Manch einer hat sie nie abgelegt. Offenbar auch Steinmeier nicht. Er war, das ist bekannt, während des Studiums Redakteur der Zeitschrift „Demokratie und Recht“, die unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stand – kein Wunder, erschien das Quartalsblättchen doch im Pahl-Rugenstein Verlag, und der wurde von der SED finanziert (was man schon damals wissen konnte, wenn man wollte). 

Zufall, dass die Sprache, mit der den „Spaziergängern“ mit dem Schlimmsten gedroht wird, was hierzulande zu haben ist – dass sie sich mit „den Rechten“ gemein machten – der Sprache der SED und ihrer westdeutschen Sympathisanten so verdammt ähnelt?

Umso erstaunlicher, dass sich dennoch so viele selbst im Westen nicht davon abhalten lassen, gegen die durch kein Virus zu rechtfertigende autoritäre Maßnahmenpolitik zu demonstrieren. In der DDR haben die Montagsdemonstrationen zum Systemsturz geführt. Heute möchte eine wachsende Minderheit, Ost wie West, nur eines: die alte, demokratische, rechtsstaatlich gefestigte und damit den Bürger vor Maßnahmenwillkür schützende Bundesrepublik zurück haben. 


Unterstützung
oder

Kommentare ( 82 )

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

82 Comments
neuste
älteste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
Nibelung
2 Jahre her

Hass und Hetze war der Kampfbegriff der Bolschewiken, die damals schon ihre Gegner an den Pranger stellen wollten und ihnen damit alles unehrenhafte unterjubeln wollten und die Sozis haben das übernommen und verfahren seither mit nach dem gleichen Muster und wenn man das weiß, dann sind zwar die Beschuldigungen nicht aus der Welt geschafft, aber man kann in ihr falsches Inneres blicken und das spricht für sich allein Bände.

Fsc
2 Jahre her

Frank Walter der Spalter!

Wenn jemand die Steinmeier in dieses Amt gelangen kann dann ist es an der Zeit diesen Bundes-Grüßaugust abzuschaffen!

Bleichgesicht
2 Jahre her

Je länger Hitler tot ist, um so rasanter vermehrt sich die Zahl der Kämpfer gegen ihn. (frei nach Josef Kraus „Der deutsche Untertan“).

Bauernbursch
2 Jahre her

Wer einen amerikanischen Präsidenten als Hassprediger bezeichnet, verbreitet selbst Hass und Hetze. Da ist es vollkommen egal, ob dieser US-Präsident Donald Trump oder Mickey Mouse heißt!
Und dieser Präsident verbreitet Hass und Hetze gegen einen erheblichen Teil des deutschen Volkes! Was für eine von Arroganz!!!

Deutscher
2 Jahre her

…„sicher, die Impfpflicht-Debatte wird nicht das letzte Thema sein, mit dem extreme Kräfte versuchen werden, den vergifteten Stachel in unsere Demokratie zu treiben“.“

Er meint, es wird nicht das letzte Thema sein, bei dem er Lügen über Oppositionelle und Regierungskritiker verbreiten wird.

Hieronymus Bosch
2 Jahre her

Steinmeier ist für mich ein Agent des Systems! Er ist der Wolf im Schafspelz, der vorzugsweise mit den Lämmern blökt! Als Außenminister hat er schon nichts erreicht, als Bundespräsident ist er vollkommen überflüssig!

Bubi1111
2 Jahre her

Ruhmesworten für die „solidarische und verantwortungsvolle“, die „große, oft stille Mehrheit in unserem Land“ forderte er diese auf, nicht still zu bleiben, „wenn Extremisten die Axt ans demokratische Urvertrauen legen“. 1) Zur Zeit sind keine NPDler unterwegs, also kann es sich nur um Spaziergänger handeln! 2) demokratisches Urvertrauen = noch nie diesen Slogan gehört 3) folglich sind Demonstranten = Extremisten 4) Die Demonstranten bedrohen die Demokratie ?? 5) Steigerung von Demokratie=Urvertrauen 6) Diese Demonstranten sind besonders schlimm und gefährlich sie bedrohen den Kern, das Ur… 7) Die Mehrheit = in Nazideutschland = Volkswille, Volkskörper – alle Nichtnazis=gefährliche Volksfeinde=Volkschädlinge! 8) Jetzt… Mehr

Annette
2 Jahre her

Bitte erlauben Sie mir, derbe Worte zu schreiben, danke. Der Mann redet doch SCHEISS vom Fass. Wer schreibt dem eigentlich das auf, was er ablesen soll? Die Spaziergänger würden mit der Axt die demokratische Grundordnung zerstören? So einenSchwachsinn will ich mir nicht anhören; Steinmeier hat überzogen und nicht nur er; die Bevölkerung hat die Schnauze voll von diesen selbstverliebten Universal-Politikern. (Man möge mir die kernigen Worte verzeihen; auf zarte Hinweise reagieren Politiker nicht.) Ach so, lachen kann man über F.W. Steinmeiers Rede von einst: „Demokratie verlangt, sich am demokratischen Leben zu beteiligen und sich einzubringen. Demokratie braucht Meinung und Mitwirkung.… Mehr

Index
2 Jahre her

Ich glaube bei Herrn Steinmeier ist es schon soweit, dass er als verbaler Büchsenspanner der „Vierten Gewalt“ agiert, ob nun absichtlich oder aus unsäglicher Dummheit. Passend dazu: Das langjährige DJV-Mitglied Wolf Reiser hat in einem fulminanten, sehr lesenswerten, offenen Abschiedsbrief — an einen gewissen Herrn Überall vom DJV adressiert — von einer „Dramatischen Verrottung“ des dt. Medienbetriebs geschrieben (s. akt. Artikel im Rubikon). Genau dieser verrottete Medienbetrieb stürzt sich doch mittlerweile messerwetzend auf genau solche agitatorischen Äußerungen, wie sie jetzt vom Bundes-Uhu unter sich gelassen wurden! Herr, schmeiß‘ Hirn vom Himmel! Ob sich Steinmeier damit möglichst überall die Wiederwahl sichern… Mehr

Last edited 2 Jahre her by Index
Deutscher
2 Jahre her
Antworten an  Index

„…ob nun absichtlich oder aus unsäglicher Dummheit.“

Nun, das Eine schließt ja das Andere nicht aus.

LadyGrilka55
2 Jahre her

„Wann war das noch mal, als „links“ sein hieß, die Verhältnisse und nicht zuletzt Staat und Politiker zu kritisieren?“

Das war, als „links“ noch nicht an der Macht war!

Deutscher
2 Jahre her
Antworten an  LadyGrilka55

So ist es. Nur sehen wir jetzt einmal mehr, dass wo „sozial“ draufsteht, „totalitär“ drin ist.