Hollands zweifelhafte Zweifel an der polnischen Rechtsstaatlichkeit

Der seit Monaten andauernde Streit über den EU-Haushalt wurde jüngst beigelegt. Unzufrieden ist offenbar nur noch der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte. Als Nettozahler hat sein Land durchaus das Recht, auf eine gerechtere Verteilung von EU-Geldern zu pochen. Doch gilt dies ebenso für "Rechtsstaatliches"?

picture alliance / ANP | Jonas Roosens

Im EU-Haushaltsstreit zeigte sich Polen bis zuletzt „unnachgiebig“. Dies lesen wir zumindest aktuell in den meisten deutschsprachigen Zeitungen. Tatsächlich hatte der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki vor der gestrigen Übereinkunft in einigen Gastbeiträgen sein „Nein“ zu den Vorschlägen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft noch einmal nachdrücklich betont. Der geplante Mechanismus, die Auszahlung von EU-Geldern mit nebulösen rechtsstaatlichen Vorstellungen zu verknüpfen, eröffne „Tür und Tor für gefährliche Interpretationen“, schreibt der Regierungschef im „Handelsblatt“. Es ist nur fraglich, ob man sich hierzulande überhaupt mit der Argumentation des polnischen Premiers vertraut gemacht hat, wenn dieser bereits in der Bildunterschrift als „national-populistisch“ bezeichnet wird. Solcherlei Attribute ermuntern bisweilen zum raschen Überblättern.

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Dabei fordert der PiS-Politiker in seinem Beitrag eine Gleichbehandlung aller Mitgliedsstaaten und kritisiert das gezielte Umgehen der in den EU-Verträgen enthaltenen Regeln, in denen auch der hellste Suchscheinwerfer keinen „Rechtsstaatsmechanismus“ zu finden vermag. Er stellt zutreffend fest, dass die Europäische Union ihre eigenen Gesetze weder willkürlich aushebeln, noch spontan verändern darf. Polen selbst hat sich jedenfalls bisher an sämtliche Normen gehalten und vor dem EU-Gipfel gar die übelsten Vorwürfe demütig hingenommen. „Die Verträge achten und beschützen die Souveränität der Mitgliedsstaaten, während der neue Mechanismus sie verletzt und bedeutend beschränkt“, schreibt Morawiecki. Und auch das Veto ist nicht erst der Erfindungsgabe des polnischen Premiers entsprungen. Das demokratische Instrument wurde für Situationen geschaffen, in denen sich schwächere Staaten der Bevormundung durch Stärkere erwehren müssen. Der dunkle Schatten der Covid-Moralkeule lässt die Herren aus Warschau und Budapest zwar derzeit wie hinterlistige „Bösewichte“ aussehen. Dennoch war es aus ihre Sicht eine dringende Pflicht, genau in diesem Moment zu handeln. „Polen fühlt sich mitverantwortlich für die Zukunft Europas. Deshalb bedeutet unser Nein zu dem jetzt vorgeschlagenen Mechanismus ein Ja zu einem wahrhaftig vereinigten Europa der Vielfalt, Freiheit, Gleichheit und Solidarität“, meint Morawiecki.

In der Diskussion über die ungerechte Behandlung Polens und Ungarns ging es ja nicht einmal nur um die EU-Verträge. In einem anderen Gastbeitrag (diesmal für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“) hat der polnische Regierungschef treffend angedeutet, dass eigentlich andere europäische Länder etwas auf ihrem „rechtsstaatlichen“ Kerbholz haben. Und damit war nicht unweigerlich Belarus gemeint. Spitzenpolitiker dürfen vermutlich solch brisante Themen nicht weiter ausführen, doch glücklicherweise gehört die publizistische Zunft nicht dem diplomatischen Corps an. Die ganze Diskussion ist nämlich nicht ganz frei von Heuchelei.

Nach dem EU-Gipfel
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Es mag vielleicht noch einigen nicht aufgefallen sein, aber wenn in Brüssel oder Straßburg wieder einmal linksliberale deutsche Politiker gegen Polen und Ungarn zu Felde ziehen, erhalten sie zumeist vollste Rückendeckung von ihren holländischen Kollegen. Seit nun beinah schon sechs Jahren holt der ehemalige Außenminister der Niederlande Frans Timmermans regelmäßig zu Rundum- und Tiefschlägen gegen die konservativen Regierungen der Visegrád-Staaten aus. Selbstredend aus „Sorge“ um die Situation des dortigen Justizwesens.

Als Morawiecki und Orbán zuletzt im EU-Haushaltsstreit ihr Veto ankündigten, überlegte wiederum Ministerpräsident Mark Rutte ganz öffentlich und ungeniert, ob man vielleicht auch ohne die „trotzigen“ Polen und Ungarn über den Aufbaufonds abstimmen könne. Bereits vor einigen Monaten sann der Premier aus Den Haag darüber nach, ob sich künftig eine Europäische Union ohne die neuen ostmitteleuropäischen Staaten vorstellen ließe, da man auf dem Brüsseler Parkett wohl auch künftig weiterhin mit Blockaden und Hindernissen rechnen müsse. Auch nach der gestrigen Beilegung des monatelangen Streits ist eigentlich nur einer immer noch unzufrieden: Mark Rutte. Nun gehören die Niederlande in unserer Gemeinschaft zu den Nettozahlern und haben durchaus das Recht, bestimmte Ansprüche an eine gerechte Verteilung der EU-Gelder in Europa zu stellen. Aber wirklich auch an „Rechtsstaatliches”?

Und das Imperium hat ein Problem
Polen und Ungarn unterwerfen sich nicht
Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Niederlande seit Jahren nicht nur ihrem eigenen, sondern vor allem dem gesamten europäischen Steuersystem einen extremen Schaden zufügen. In Den Haag werden dann auch mal hin und wieder die notwendigen politischen Schutzschirme geöffnet. Die „sparsamen Rechtsstaatsverfechter“ ermöglichen es internationalen Konzernen, über niederländische Briefkastenfirmen Gewinne in Steuerzufluchtzentren zu verschieben und damit deren Besteuerung auf unter fünf Prozent zu drücken. Und zwar in einem Ausmaß, dass es dem Staat an der Amstel erlaubt, im weltweiten, unrühmlichen Ranking der Steuerbetrüger um die ersten Plätze zu konkurrieren.

Aus einer Studie der OECD geht hervor, dass jedes Jahr mehr als 90 Milliarden Dollar an Konzerngewinnen über niederländische Konten geschleust werden. Davon profitieren besonders US-amerikanische Konzerne, doch die anderen EU-Staaten (darunter Polen und Ungarn) erleiden dadurch finanzielle Verluste in dreistelliger Milliardenhöhe. Jegliche Reformversuche der Regierung Ruttes schlugen bislang fehl. Warum nur? Welche „Hindernisse“ in der EU gibt es sonst noch aus dem Weg zu räumen?

Angesichts der ernsten Bedenken über die Achtung der rechtsstaatlichen Situation in den Niederlanden müssten Mitgliedsstaaten wie Polen oder Ungarn eigentlich Ansprüche auf milliardenhohe Ausgleichzahlungen anmelden. Eigentlich. Denn in der aktuellen Lage bleiben den Regierungen in Warschau und Budapest augenscheinlich nur die in den EU-Verträgen gesetzlich festgelegten Spielräume, die sie gewiss nicht umgehen werden. Die polnische Regierungspartei Solidarna Polska, ein Koalitionspartner der PiS, prüft derzeit die Anforderungen für ein Artikel-7-Verfahren gegen die Niederlande. Die Aussicht auf Erfolg ist erwartungsgemäß gering, denn in Den Haag, Brüssel, Straßburg und Luxemburg werden alle „demokratischen“ Hebel in Bewegung gesetzt, um ein solches Szenario abzuwenden.

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Kommentare ( 12 )

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Anna-Maria
3 Jahre her

Ist es nicht so, dass die deutsche und niederländische Staatsanwaltschaft keine internationale Haftbefehl erlassen hat, weil sie Anweisung bedürftige sind?Ist es nicht so, dass Luxemburg und die Niederlande ein großes Anteil ihres BIP rechtswidrig durch Briefkastenfirmen realisiert? Das kleine Holland über 90 Milliarden €? Rechtsstaat sind so etwas?

Don Nicolas
3 Jahre her

Die EU und ihre Werte. Für Griechenland die Bailout Klausel weg geschoben, Schulden vergemeinschaftet, die EZB politisiert, die Aussengrenzen nicht gesichert. Dutzende Male die Verträge gebrochen.
Und Polen und Ungarn vorwerfen, Rechtsstaatlichkeit nicht einzuhalten!
Hypocrisy oder zu gut Deutsch Heuchelei

country boy
3 Jahre her

Die Unnachgiebigkeit der Polen hinsichtlich der Einwanderung von Muslimen ist vorbildlich.

November Man
3 Jahre her

In der EU sind also mehrere Staaten Mitglied die keine Rechtsstaaten sind.
Damit sind nicht nur Polen und Ungarn gemeint, sondern andere Staaten auch.
Und bei einer solchen EU sollen wir Deutschen unsere Souveränität und unsere Gesetzgebung bedingungslos abliefern.
Also raus aus der EU, und zwar ganz schnell.  

Maja Schneider
3 Jahre her

In puncto Rechtsstaatlichkeit herrscht ganz offensichtlich eine Heuchelei und Scheinheiligkeit, die innerhalb der EU offensichtlich ihresgleichen sucht. Statt immer nur auf Ungarn und Polen zu zeigen – man kann hier u.a. auf das Interview mit Rupert Scholz, der an der Verfassung Ungarns als Berater mit beteiligt war, verweisen – sollten wohl lieber die meisten anderen Länder, allen voran Deutschland und die Niederlande, eher vor ihrer eigenen Tür kehren.

AndiScheuer
3 Jahre her
Antworten an  Maja Schneider

Hallo Maja,
wenn wir bei dem Vergleich um Polen und Ungarn bleiben. Zeig bitte auf an welcher Stelle sich andere EU Länder daran gemacht haben rechte von Presse einzuschrenken, Homosexuelle zu Diskriminieren und umfangreiche Justizreformen durchzusetzen.
MfG

StefanB
3 Jahre her

„Er stellt zutreffend fest, dass die Europäische Union ihre eigenen Gesetze weder willkürlich aushebeln, noch spontan verändern darf.“

Also bitte! Es ist doch inzwischen hinlänglich bekannt, dass die „Guten“ das Recht nach eigenem Gusto formulieren und dazu an den „aktuellen Erfordernissen“ zum Zwecke ihrer Zielerreichung ausrichten. Man könnte das auch „rechtliche Diskontinuität“ oder einfacher Unrecht nennen.

Odysseus JMB
3 Jahre her

Die EU ist (un)bewiesenermaßen eine geschlossene Anstalt, in der man ohne ein profundes Maß an Doppelmoral und Heuchelei nicht bestehen kann. Der vorliegende Beitrag erklärt das gut am Beispiel der Niederlande, die Steuerschlupftlöcher für Konzerne anbietet, wie andere auch (Irland, Malta, Luxemburg,…). Kritik daran kann „logischerweise“ nur ein fehlendes Verständnis für Rechtsstaatlichkeit sein. Dass man Ungarn und Polen hier aber offensichtlich Defizite an Doppelmoral und Heuchelei vorwirft, wird wohl eher selten explizit erörtert. Es wäre aber an der Zeit. .. In der EU unterstellt man ernsthaft, dass die jeweils spezialdemokratisch agierenden politischen Netzwerke (inklusiv NGOs, Soros etc.) in den jeweiligen… Mehr

Last edited 3 Jahre her by Odysseus JMB
Wald7
3 Jahre her

Diese Nazischelte aus Polen beleidigt schon die demokratischen EU-Grundwerte. Als größter EU-Profiteur und CO2-Schleuder im großen Stil ist Polen wohl nicht in der Lage sich solcher Arrogranz zu bemächtigen. Ganz zu schweigen, daß es viele kleine EU-Länder gibt, die maßloser – auch wie die NL – sich auf Kosten der anderen EU-Länder bereichern. Demokratisch kann sich Polen auch nicht profilieren, um solch ein Verhalten an den Tag zu legen. Bloomberg Zitat über Brexit vom 13.12. „Der Optimist vermutet, dass die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel im letzten Moment einspringen und den Weg zu einer Einigung ebnen wird, so wie sie es… Mehr

Last edited 3 Jahre her by Wald7
hoho
3 Jahre her
Antworten an  Wald7

Was meinen Sie mit Daseinsberechtigung genau? Es gibt nämlich viele die meiste sozial-politische Entscheidungen der EU Gremien nicht als Vorteil nehmen und es lieber nur als wirtschaftliche Gemeinschaft (was sie auch war) sehen wollten. Wenn die meiste Deutschen (besonders in Medien und in Politik) mit eigene Identität nichts anfangen können und deshalb sie auf EU verlagern bedeutet das nichts anderes als neues heiliges Reich der deutsche Nation zu bauen ohne dass man eine Nation erwägt weil man sich zu viel schämt. Das kann durchaus manche andere Leute und zwar berechtigerweise zum K..en bringen und EU Daseinsberechtigung berauben. Über Demokratie sollte… Mehr

handwerk
3 Jahre her
Antworten an  Wald7

Wenn du vier Finger richtung Polen zeigst ein
zeigt nach Deutschland. Demokratischen EU-Grundwerte in Deutschland?
(Hans-Georg Maaßen, Thomas Kemmerich aus Thüringen).

Waehler 21
3 Jahre her

Man könnte die Niederlande auch einen Steuerdieb nennen! Deshalb, solange Polen freie und geheime Wahlen abhält und die Trennung der Staatsgewalten gewährleistet, braucht es klare Beweise um diese Vorwürfe nachvollziehbar zu machen.
Insbesondere Frau Dr. Merkel sollte sich mal an ihre eigene Nase packen, wie oft sie die rote Linie gerissen hat ( schlimmer ist hier noch, dass alle Hochbezahlten mitgemacht haben. Fernsehen, widerspruchslose Abgeordnete) dann sollte sie mal überlegen was sie gegen Korruption und Transparenz bei der politischen Garde macht? Nichts! sie verhindert diese noch) Aber dank ÖRR , wird das nicht zum öffentlichen Thema.