Türkei: Ein Putsch? Nein, ein Staatsstreich.

Langsam klärt sich der Nebel über dem angeblichen Putsch in der Türkei. Und er öffnet den Blick auf Fakten, die so überhaupt nicht passen wollen zu dem, was wir glauben sollen.

© Gokhan Tan/Getty Images
Groups of soldiers involved in the coup attempt in Turkey surrender on Istanbul's Bosphorus bridge with their hands raised on July 16, 2016 in Istanbul, Turkey.

VI. Der Atatürk-Flughafen

Die Putschisten besetzten den Atatürk-Flughafen. Auch hier stellt sich die Frage nach dem Warum. Wollte man – siehe oben – verhindern, dass dieser internationale Airport zum Fluchtweg gesuchter AKPisten wird? Auch das wäre eher lächerlich – die hätten wirklich bessere Wege gefunden. Aber die Besetzung schuf vor allem internationale Aufmerksamkeit und Aufregung. Und organisierte indirekt sogar noch einen symbolischen Angriff auf den laizistischen Staatsgründer Kemal Atatürk.

Um es nun allerdings mit Aufmerksamkeit und Symbolik nicht zu übertreiben, zogen die Putschisten bereits nach kurzem wieder ab – und gaben den Flughafen damit für die Landung des vorgeblich unbehelligt über Istanbul kreisenden Erdogan frei.

VII. Erdogan in Istanbul

Bereits gegen 2 Uhr meldet Ministerpräsident Yildirim, seine Regierung habe die Lage weitgehend unter Kontrolle. Gegen 2.30 Uhr landet Erdogan auf dem kurzeitig besetzten Flughafen In Istanbul. Dort stößt er auf eine wartende Presse, die seine Mitteilungen ab 3.30 Uhr landesweit verbreitet. Und diese sind durchaus spannend. Denn Erdogan habe sich gar nicht in seinem Urlaubsdomizil in Bodrum befunden, sondern im gut 100 Kilometer davon entfernten Marmaris. Dieser schöne Ort sei „unmittelbar nach seiner Abreise von den Putschisten genauso bombardiert“ worden!

Genauso – wie was? Und übrigens – bis heute sind weder aus Bodrum noch Marmaris irgendwelche Angriffsfolgen von Putschisten-Attacken bekannt. Die dortigen Urlauber erfuhren vom Putsch erst aus den Medien.

Ohnehin – wenn Erdogan irgendwann nach Mitternacht von Marmaris nach Istanbul flog, stellen sich mehrere Fragen. So wird davon auszugehen sein, dass er den Flughafen Dalaman benutzt hat. Der liegt nun aber auch fast 100 Kilometer von Marmaris entfernt, könnte von Erdogan also erst gegen 1 Uhr nachts erreicht worden sein. Nun wird Marmaris auch als Militärflughafen genutzt – und die angeblich putschende Luftwaffe hatte weder Kenntnis davon, dass dort die Präsidentenmaschine stand, noch erfuhr sie von Erdogans Start?

Und warum steuert Erdogan ausgerechnet direkt und unmittelbar Istanbul an, dessen Flughafen doch offensichtlich wenn nicht unter direkter Kontrolle des putschenden Militärs, so doch zumindest in dessen unmittelbarer Erreichbarkeit ist? Musste er nicht befürchten, dass man den Versuch unternehmen würde, dort seiner habhaft zu werden?

Offenbar musste er das nicht – und deshalb musste er auch, als er angeblich nach 1 Uhr nachts in Dalaman startete, nicht lange darüber nachdenken, wohin er in der für ihn überaus bedrohlichen Krisensituation zu fliegen habe.

VIII. Allahs Geschenk an Erdogan

Kaum wieder als Präsident aktiv erklärt Erdogan den Putsch zu einem „Geschenk Allahs“. Einmal abgesehen davon, dass solches allein schon angesichts der anscheinend bis zu 300 unmittelbaren Opfer der Aktion blanker Zynismus ist, darf man sich mittlerweile tatsächlich die Frage stellen, ob Erdogan nicht Allah mit seinem MIT verwechselt hat.

IX. Yildirim und die Todesstrafe

Erdogans Gefolgsmann Yildirim gibt sich – mittlerweile ist dieser angebliche Putsch schon längst zusammengebrochen – kämpferisch. Er verkündet, der von den Putschisten als Geisel genommene Armeechef Hulusi Akar sei befreit worden. Er ordnet an, die loyale Luftwaffe habe den Befehl, „gekaperte Maschinen“ vom Himmel zu holen. Außer einem abgeschossenen Hubschrauber scheint die loyale Luftwaffe dabei jedoch nicht erfolgreich gewesen zu sein. Vielleicht, weil es gar keine putschistischen Flugzeuge gab?

Außerdem lässt Yildirim das Stichwort „Todesstrafe“ fallen – welches von den islamischen Anhängern des Präsidenten gern und willig aufgegriffen wird und sogar selbst an Wehrpflichtigen exekutiert wird, sodass der Ministerpräsident wiederholten und nun selbst der Präsident Anlass findet, Volkes Willen für bedeutsam genug zu erklären, ernsthaft über die gleichsam rückwirkende Einführung dieses Instruments einer Rachejustiz nachzudenken.

X. Das Schnellgericht – eiskalt serviert

Der angebliche Putsch ist noch nicht vorüber, da werden vorrangig vom Geheimdienst – der durch den eher symbolischen Angriff auf seine Zentrale Ankara besonders motiviert ist – bereits Schuldige benannt. Konnten die türkischen Dienste auch bislang immer innerhalb nicht einmal einer Stunde nach erfolgten Attentaten absolut sicher erklären, dass es (a) kurdische PKK-Untergruppen, (b) Kämpfer des IS oder (c) russisch-stämmige Tschetschenen gewesen sind, so traf es dieses Mal (d) Erdogans alten Weggefährten und heutigen Lieblingsfeind Abdulah Gülen.

Nicht das von der kemalistischen CHP geprägte, laizistische Militär, sondern der Prediger eines bildungsorientierten Islam hat den Putsch gegen den qua Herkunft bildungsfernen  Islamfundamentalisten veranlasst. Und mit ihm sind in den Putsch aktiv verstrickt seit vergangenen Sonnabend ständig steigende Zahlen von Militärangehörigen, Polizisten und Justizvertretern, deren laufende Aktualisierungen nicht ohne Zynismus mit Wasserstandmeldungen verglichen werden könnten – handelte es sich dabei nicht um Menschen, deren Existenz wie  vielleicht sogar sie selbst mehr als final vernichtet werden wird.

Am Mittag des 18. Juli waren laut der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu 8777 Staatsbedienstete ihrer Posten enthoben worden, darunter allein 30 Gouverneure als Regionalverantwortliche.

Mindestens 7.500 Menschen waren am Abend bereits inhaftiert. Darunter rund 6.000 Soldaten und 100 führende Militärs wie der Luftwaffenkommandeur Akin Öztürk, der angeblich erst seine führende Beteiligung am Putsch gestanden haben soll, welches dann jedoch von der staatlichen Presseagentur dementiert werden musste. Die inhaftierten Militärs wurden offenbar in demütigendem Zustand wie Vieh in Sammellagern konzentriert untergebracht – da werden mehr als unschöne Erinnerungen wach.

Im Justizapparat belief sich die aktuelle Zahl am Montagabend auf fast 800 Inhaftierte, darunter zwei Mitglieder des Verfassungsgerichts und allein 140 Richter der Kassationsgerichte, die als obere Rechtsinstanzen zuständig für Berufungsverfahren sind.

Mit diesen Entlassungen und Inhaftierungen, die angesichts der unerhört hohen Zahlen unverkennbar auf eine langfristige Vorplanung und genaueste Recherche der jeweiligen Aufenthaltsorte der Betroffenen schließen lassen (und mich an jene Listen erinnern, die wir 1990 in einem Landratsamt der Noch-DDR fanden und die die Namen jener Bürger nannten, die im Falle einer „Krise“ unmittelbar in Gewahrsam zu nehmen seien), wird gleichzeitig das Militär und das Rechtswesen der Türkei abschließend unter die Kontrolle der Erdogan-Getreuen gebracht. Spätestens mit der Vernichtung der Kassationsgerichtsbarkeit wird jegliche Rechtsstaatlichkeit ausgehebelt. Auch das Verfassungsgericht wird dem Präsidialdiktator künftig nicht mehr in die Parade fahren.

Es ist davon auszugehen, dass diese Massenverhaftungen, zu deren Umfang nicht einmal die Nationalsozialisten nach dem Reichstagsbrand 1933 in vergleichbarer Kürze der Zeit fähig waren, noch nicht am Ende sind.

Die Türkei wird – so formulieren es die Akteure selbst – „gesäubert“. Es gehe darum, „ein Krebsgeschwür“ zu beseitigen, wie Erdogan enthusiastisch zu vermelden weiß.

Krebsgeschwüre schneidet man heraus und vernichtet sie. Dann sucht man nach den Metastasen und vernichtet diese ebenso. Und damit der Krebs nicht wieder aufkeimt, wird er prophylaktisch mit allen Mitteln bekämpft, die auch nur den Hauch einer Chance versprechen, neue „Wucherungen“ zu verhindern. So ist es dann nicht nur die Sprache – es ist auch der scheinbar medizinische Befund, der mehr als deutlich macht, wohin die Reise der Türkei unvermeidlich geht.

Ein Putsch? Nein, ein Staatsstreich.

War es also ein Putsch, der dort am vergangenen Freitag der Weltöffentlichkeit vorgeführt wurde? Alle bis hierhin aufgelisteten Fakten und Fragestellungen sprechen dagegen. Vielmehr sprechen sie dafür, dass hier von langer Hand etwas vorbereitet wurde, um den immer noch rudimentär demokratischen Staat Türkei im Sinne seiner islamisch-autoritären Führung gleichzuschalten.

Wie sagte Recep Tayyip Erdogan, als er vor vielen Jahren Bürgermeister von Istanbul war? „Laizistisch und gleichzeitig Muslim zu sein ist unmöglich.“  Deshalb musste das kemalistische Militär verschwinden.

Sein Verhältnis zur Europäischen Union beschrieb der bekennende Anhänger fundamentalislamischer Vorstellungen 1994 mit der Feststellung, dass es sich dabei um „eine Vereinigung der Christen“ handele, in der die Türkei nichts zu suchen habe. Deshalb muss nun das christliche Geschwür der parlamentarischen Demokratie mit Interessenausgleich, Menschen- und Minderheitenrechten als Krebsgeschwür ausgemerzt werden.

Der Junge aus dem Istanbuler Armenviertel Kasimpasa, der noch Anfang des Jahres das von den Nationalsozialisten in Deutschland durchgesetzte Modell eines kollektivistischen Volksgemeinschaftsstaats mit einem allmächtigen Führer als beispielhaft für seine Ziele nannte, macht Ernst.

Er wollte es immer und er wird diesen, wird seinen Führerstaat schaffen – und er wird sich dabei auf den vorgeblich direkten Willen „seines“ Volkes berufen, das mit dem inszenierten Putsch abschließend im Sinne LeBons zur unberechenbaren Bestie der Masse wurde. Gemeinsam werden Erdogan und „sein“ Volk ihr vorgeblich direktdemokratisches Staatsverständnis als „Volksdemokratie“ durchsetzen – hin zu einem politischen System, in dem Demokratie nur noch für die Diktatur einer manipulierbaren, scheinbaren Mehrheit steht.

Minderheiten haben in diesem Staat Türkei nichts mehr zu hoffen – seien sie laizistisch, nicht-sunnitisch, ethnisch „untürkisch“ oder einfach nur intellektuell-freidenkend. Sie alle werden die Opfer eines von langer Hand geplanten Staatsstreichs, der schon in den 1990ern begann und den Erdogan zielstrebig bis zur gegenwärtigen Eskalation verfolgte, um ihn nun endlich in seinem Sinne erfolgreich zu  Ende bringen zu können.

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