Das Weihnachtsessen

Zu Weihnachten finden sich an unzähligen Tischen im Lande sehr unterschiedliche Menschen zusammen. Wird diese große kulturelle und soziale Errungenschaft für den „Sieg“ über das Corona-Virus geopfert?

MAGO / Westend61

Es gibt sie auch in diesen Advents- und Weihnachtstagen in viel tausendfacher Zahl: die festlich gedeckten Tische, an denen Menschen in geselliger Runde essen und trinken. Ein Weihnachtsessen kann opulent sein, mit großer Tafel und großem Glanz. Aber auch kleinere Tische, mit bescheidenen Speisen und wenigen Lichtern können mit Sorgfalt und Liebe hergerichtet sein. Es ist ein schöner und keineswegs selbstverständlicher Brauch in diesen Tagen. Denn es gibt gegenwärtig viele Dinge, die das Herz eng machen können. Doch ist das Weihnachtsessen ein Brauch, der darauf angelegt ist, Menschen trotz großer Unterschiede zusammenzubringen. Ob im Familienkreis, im Betrieb, im Wohnhaus, im Verein – die festliche Tafel dient nicht einem bestimmten beruflichen, politischen oder kulturellen Interesse. Oft sitzen auch Menschen am Tisch, die sich selten sehen, und die sich vielleicht in vielen Dingen fremd sind oder fremd geworden sind. Doch können sie bei dieser Gelegenheit etwas Gemeinsames finden.

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Aber gilt das im Jahr 2021 auch für das Miteinander von Geimpften und Ungeimpften? Ist dieser Gegensatz nicht zu groß, um die Tischgemeinschaft zu Weihnachten eingehen zu können? Hat dieser Gegensatz nicht die Gesellschaft so sehr zerrissen, dass eine so elementare Geselligkeit nicht mehr gelingt? Wenn das der Fall wäre, dürfte man allerdings in diesem Land nicht mehr den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ beschwören. Denn dieser Zusammenhalt ist jetzt keine Frage abstrakter Absichtserklärungen, sondern eine ganz praktische Frage. Gibt es die Fähigkeit und Bereitschaft von Geimpften und Ungeimpften, ein Essen miteinander zu teilen – in welchem Rahmen auch immer.

Stell´ Dir vor, unsere „Leitmedien“ säßen mit am Tisch

Das Thema ist auch in den Medien aufgetaucht. Vor ein paar Tagen stieß ich beim abendlichen Zappen durch die Fernsehprogramme auf eine Sendung, in der gefragt wurde: Wie können Familien, Belegschaften oder Freundeskreise mit dem Gegensatz von Geimpften und Ungeimpften umgehen? Und wie soll man, wenn die Tischrunde zustande gekommen ist, verhindern, dass sie nicht ganz schnell auseinanderfliegt? In der Sendung wurde auch ein Psychologe gefragt. Er gab zwei Ratschläge: Erstens könne man dafür sorgen, dass jede Seite zu Wort kommt und die jeweils andere Seite ihr Gehör schenkt. Das Ganze natürlich nicht den ganzen Abend lang, sondern zeitlich begrenzt. Zweitens könne man das Thema auch ausdrücklich bei diesem Essen ausklammern. Also im Streit eine Weihnachtsruhe vereinbaren.

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Ich finde, beides sind gute Vorschläge. Es sind Vorschläge, die voraussetzen, dass das gemeinsame Zusammensein als solches von den Beteiligten als wertvoll empfunden wird. Dass also „der Tisch“ als ein gemeinschaftliches Gut einen eigenen Wert hat. Aber als ich dann weiterzappte und sah, wie auf allen Kanälen wieder eifrig die Menschen nach „einsichtig“ und „gefährlich“ sortiert wurden, ging mir die Vorstellung durch den Kopf, was wohl geschehen würde, wenn die Medien als Personen am Tisch unseres Weihnachtsessens säßen. Würden sie sich an den Rat des Psychologen halten? Würden sie einen Ungeimpften seine Gründe vortragen lassen und ihm einfach mal ruhig zuhören? Oder würden die Medien als Tischgäste sich bereitfinden, das strittige Thema ruhen zu lassen – für einen Moment des Weihnachtsfriedens?

Nein, dachte ich, das kann ich mir nicht vorstellen. So sind die Zustände in Deutschland nicht. Selbst wenn alle anderen sich auf so einen Moment verständigen könnten, die Medien würden versuchen, die Öffentlichkeit des Tischs in ihre Medien-Öffentlichkeit zu verwandeln. Und in dieser Medien-Öffentlichkeit regiert eine höhere „Wahrheit“, die alles öffentliche Sprechen immer schon vorsortiert. Und das Thema ausklammern? Einfach mal das ständige Corona-Trommelfeuer unterbrechen? Völlig undenkbar! Unsere Medien-Leute leben inzwischen viel zu selbstverständlich in ihrem Leit-Modus. Sie können gar nicht mehr anders.

Wie die Tisch-Gemeinschaft gelingen kann

An einem anderen Tag tauchte das Thema noch einmal bei einem anderen Sender auf. Da wurden in einer mittelgroßen Stadt im Osten Deutschlands in Industrie- und Handwerksbetrieben nachgefragt, wie das Miteinander von Geimpften und Ungeimpften bewältigt würde. Ob das nicht sehr schwierig sei „mit den Ungeimpften“, wollte der Reporter immer wieder wissen. Seine Fragen waren deutlich darauf angelegt, Schwierigkeiten heraufzubeschwören und sie in einer bestimmten Richtung zu verorten. Doch die Antworten der Kollegen, die der Beitrag dann präsentierte, waren bemerkenswert.

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Es gab keine einzige Stimme, die das bestätigen wollte, was der Reporter immer wieder antippte. Ja, es gäbe im Betrieb Geimpfte und Ungeimpfte. Aber es sei durchaus möglich, sich zu arrangieren. Es herrsche keine rigorose Trennung zwischen Geimpften und Ungeimpften. Die Abstände am Arbeitsplatz seien oft recht groß, aber es gäben auch ganz unvermeidlich engere Kontaktsituationen. Ja, es gäbe ein Restrisiko, aber bisher habe man kein dramatisches Geschehen feststellen können, das auf die betriebliche Situation zurückzuführen sei. Wenn der Film also Empörung über die angeblichen „unsolidarischen“ Ungeimpften dokumentieren sollte, war er ein glatter Fehlschlag. Er dokumentierte das Gegenteil: In einem festen Kollegenkreis mit langjähriger Zusammenarbeit lassen sich „Empörte“ kaum finden.

Sind so nicht alle Voraussetzungen für ein gemeinsames Weihnachtessen gegeben? Die Einen können sagen: Ich bin geimpft und dadurch vor den schlimmsten Verläufen ziemlich weitgehend geschützt. Deshalb ist die Anwesenheit von Ungeimpften bei Tisch für mich kein Problem. Die Anderen können sagen: Ich halte die Gefahr des Virus nicht für so groß, dass ich mich impfen lasse. Aber deshalb stören mich die Geimpften nicht. Ich habe ihnen nichts vorzuwerfen. War das nicht die gute ursprüngliche Idee, mit der die Impfkampagne begann? War das nicht die Lösung aller Realisten? Sie enthielt noch die Einsicht, dass dieses Virus in absehbarer Zeit nicht völlig aus der Welt zu schaffen ist, sondern in immer neuen Varianten auftauchen kann. Und die Konsequenz: sich darauf einstellen, mit dem Virus zu leben.

Wie verheerend ein überzogenes Ziel wirken kann

Doch genau hier ist der kritische Punkt, der die Corona-Krise inzwischen ins Unermessliche und Unlösbare wachsen lässt. Man hat dem Land ein ganz anderes Ziel eingeimpft, indem man sagte: Freiheit gibt es erst wieder, wenn das Virus aus der Welt geschafft ist. Wenn es „endgültig“ besiegt ist. Damit hat man das Land in eine Auseinandersetzung gestürzt, die alle Konflikte ungeheuer auflädt. Und die doch nicht zu gewinnen ist. Wenn der neue Gesundheitsminister bei Amtsantritt die Losung ausgibt „Wir werden das Virus besiegen“, so ist das alles andere als eine harmlose Bekundung engagierter Amtsführung. Es ist ein verheerendes Alles oder Nichts. Aber man sollte da nicht gleich einen neuen „Faschismus“ an der Macht sehen, und denjenigen, die sich impfen lassen, eine „Untertanen-Mentalität“ unterstellen. Auch das steigert diese Krise ins Unlösbare.

Mehr Toleranz wagen

Deutschland hat noch kaum angefangen zu lernen, was es heißt, „mit dem Virus zu leben“. Es bedeutet ganz praktisch: Geimpfte müssen lernen, mit Ungeimpften zu leben. Und Ungeimpfte müssen lernen, Geimpfte zu respektieren. In diesen Tagen ist sehr viel von „Solidarität“ die Rede. Diese Solidarität wird besonders dann beschworen, wenn heftige Anklagen gegen „die Anderen“ vorgebracht werden. Geimpfte und Ungeimpfte halten sich gegenseitig vor, „unsolidarisch“ zu sein. Aber der Maßstab, an dem in dieser Situation das Solidarische zu messen wäre, kann gar nicht die Befolgung eines bestimmten („alternativlosen“) Verhaltensgebots sein. Es müsste um die gegenseitige Toleranz unterschiedlicher Verhaltensweisen gehen. Solidarität ist also eine Toleranzaufgabe. Das ist eine zwischenmenschliche Aufgabe, aber es geht im Grunde um eine Toleranz in der Sache: Die dauerhafte Existenz der Virusgefahr in unserem Land muss – in einem bestimmten Maße – toleriert werden. Dies Land wird seine Freiheit erst wiedergewinnen, wenn es in diesem Sinn seine Toleranzen vergrößert.

„Wir wollen mehr Toleranz wagen.“ Das wäre der Satz, den man sich in einer Regierungserklärung wünschen würde. Und seine beharrliche Wiederholung für die ganzen 2020er Jahre in Deutschland. Aber wir müssen ja gar nicht auf die Regierung warten. Wir haben ja das Weihnachtsessen, und können dort schon jetzt unsere Gläser darauf erheben.

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Kommentare ( 12 )

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Schwabenwilli
2 Jahre her

Haben heute noch ein Familienessen, mit und ohne Impfung. Keinen Interssiert das.

Sonny
2 Jahre her

Wir wohnen in einem dreitausend-Seelen-Dorf in NDS. Auch in unserer (großen) Familie wird überhaupt nicht unterschieden zwischen Geimpften und Ungeimpften. Und wir haben uns dazu entschlossen, weder über ein Virus noch über Krankheiten zu sprechen. Wir hatten Spaß, gute Laune, tolles Essen, viele Geschenke und einen überaus lustigen Spieleabend. Dazu ein zweistündiges Treffen von vielen netten Menschen unter einem kleinen Vordach am Stehtisch mit Glühwein. Umarmungen waren die Regel und kein Mensch hat nach „Impfstatus“ gefragt. Die einzigen, die dieses Land hier wirklich spalten, sitzen in der Politik und den Medien, die Mitläufer schenken wir denen, die sind für unsere… Mehr

Last edited 2 Jahre her by Sonny
Physis
2 Jahre her

Ich darf Sie beruhigen!
Unter dem Viertel der noch nicht Geimpften sind meine Frau und ich nämlich wohl diejenigen, die sich in diesem Jahr wohl kaum mehr beschieden haben!
Bescheidenheit ist aber eine Zier!
Gut, wir bescheiden uns nicht nur.
Wir wissen nämlich, was die Vokabel Zier bedeutet!

Reinhard Schropp
2 Jahre her

Lieber Herr Held,
ich komme gerade von einer Familienfeier mit geimpften Älteren, einem ungeimpftem Jungen und einem digital zugeschaltetem, geimpftem Jungen.

Ich darf Sie trösten: Keinerlei Kämpfe zwischen Geimpften und Ungeimpften, oder zwischen Infizierten und Uninfizierten.

Man kann Konflikt und Spaltung auch herbeischreiben.

W aus der Diaspora
2 Jahre her

Auch bei uns arbeiten Geimpfte, Genesene und Ungeimpfte, Geboosterte und Geimpfte und danach infiziert und wieder genesen.
Ich habe noch nicht feststellen können, dass da jemand mit jemand anderem ein Problem hätte.
Ich denke, die allermeisten Menschen sind in ihrem persönlichen Umfeld viel toleranter als Politiker und Medien glauben.

Da wird von einigen über den ungeimpften Kimmich geschimpft, aber der ungeimpfte Kollege wird so akzeptiert wie er ist. Den Kollegen kennt man, da sind ander Dinge als die Impfung viel wichtiger, z.B. für welchn Fußballverein er ist 🙂

JamesBond
2 Jahre her

Es gibt in diesem Land leider Realitätsverweigerer: „ Söder ist überzeugt: „Eine Impfpflicht wird die Spaltung der Gesellschaft eher überwinden als vertiefen.“ Davon bin ich überzeugt. Zum einen würden Vorurteile überwunden. Viele Menschen würden feststellen, dass es nicht so schlimm ist, sich impfen zu lassen – sondern im Gegenteil sogar schützt und Freiheit gibt.““ Söder ist so ein Realitätsverweigerer, erst alles verbieten und dann Mitbürger für dumm verkaufen, nach dem Motto lass Dich impfen dann gibts Freiheit zurück. Wir sind „vollständig geimpft“ und die Freiheit Anfang Dezember sah in Bayern so aus: Therme 2GPlus = trotz Impfung auch noch zusätzlich… Mehr

Last edited 2 Jahre her by JamesBond
Aboriginal
2 Jahre her
Antworten an  JamesBond

Wenn der Riss erstmal durch Firmenbelegschaften geht, dann ist in diesen Unternehmen der Riss nicht mehr zu kitten.

Positivsteuerung
2 Jahre her

Gerade komme ich vom Weihnachtsfrühstück mit meinen Freundinnen. 3 Frauen an einem Tisch, davon 1 geboostert, 1 geimpft, 1 ungeimpft. Keinerlei Streit, anregende Gespräche, Konsens darüber, dass jeder Mensch eine individuelle Abwägung und Entscheidung darüber treffen sollte, ob für ihn die Impfung oder die Nichtimpfung besser ist. Exzellentes Essen, gegenseitige Rücksichtnahme, Risikominimierung (das kann je nach Lebenssituation vorheriger Test oder Isolierung sein). Gerade unterschiedliche Entscheidungen und Lebenssituationen können auf den jeweiligen anderen inspirierend und bereichernd wirken. Und Konsens und Erstaunen darüber, dass seitens der Politik offenbar die Spaltung gewünscht wird, um abzulenken von eigenen Fehlern. Dieses Virus wird bleiben, es… Mehr

RS
2 Jahre her

Das Weihnachtsessen wurde letzes Jahr (Kontaktbeschränkung) so wenig geopfert, wie dieses Jahr. Das gilt auch für alle unsere Nachbarn. Wir haben hier keine Blockwarte. Es gibt Dinge, die erfordern einfach Widerstand und Ungehorsam. Wir sind keine Untertanen sondern freie Bürger. „Frohe Weihnachten“ hieß es in der Politikeransprache. „Sie uns auch“, war unsere Antwort.

Last edited 2 Jahre her by RS
Franzl
2 Jahre her

Mit mir kann man beim Weihnachtsessen über alles reden. Es gibt nur eine klare Vorgabe: Sobald jemand meint in Gendersprache reden zu müssen, ist für mich das Essen beendet. Wenn ich Gast bin gehe ich und ein betreffender Gast (m/w/d) muß dann gehen. Ideologischer Extremismus wird nicht geduldet.

Skeptiker
2 Jahre her

Ich fürchte, „Freiheit“ gibt es erst wieder, wenn die Gegner linksgrüner Fehlleistungen, Migration und Deutschenfeindlicher Entkulturisierung, Frauenförderung und Genderismus, Sprachverhunzung, Energiewende, Verbots- und Vorschriftenpolitik, Rasissmus- und Naziphobie, Gleichmacherei und Gesellschaftsspaltung endlich zu Kreuze gekrochen sind. Oder aber, wenn sie endlich aufhören, trotz alledem massenhaft die internationalsozialistischen und ökofaschistischen Minderheiten-Parteien zu wählen. Sofern diese Leute uns noch einmal „frei und geheim“ wählen lassen.