Statt No-Deal-Brexit droht nun ein Marxist

Die Freude über den abgewendeten No-Deal-Brexit könnte der britischen Wirtschaft rasch vergehen. Wenn Boris Johnson stürzt und Corbyn kommt, droht statt Unsicherheit die sichere Wohlstandsvernichtung.

imago images / Xinhua

Die Tagesschau-Korrespondentin war schon kurz vor den beiden absehbaren Abstimmungsniederlagen des britischen Premierministers im Unterhaus mit sichtlicher Genugtuung zum Schluss gekommen: „Es scheint, als habe Boris Johnson sich in eine Sackgasse manövriert.“ Am gestrigen Abend wurde, was nach dem Ausschluss von 21 Abweichlern aus der Regierungsfraktion der Konservativen nicht überraschen konnte, erst der Antrag der Labour-Opposition angenommen, wonach es keinesfalls einen Brexit ohne Vertrag geben darf, und schließlich auch noch Johnsons Antrag für Neuwahlen abgelehnt.

Der Machtkampf im britischen Parlament um den Brexit-Kurs kennt für die meisten Beobachter in Brüssel und anderen EU-Hauptstädten nur einen Bösewicht: Johnson. FAZ-Redakteur Klaus-Dieter Frankenberger hält ihn für „gefährlich“, weil er „aufs Ganze“ geht. Den Ausschluss der Abweichler nennt er „Säuberungen“, wie man sie „sonst nur von autoritären Regimen kennt“. Da merkt ein Journalist ganz offensichtlich nicht, wie er selbst wird, was er dem Kritisierten vorwirft: maßlos. 

Dass Johnson kein würdiger Premierminister sei, meinten deutsche London-Korrespondenten schon zu wissen, als er noch Außenminister unter Theresa May war. Und als er es dann doch wurde, war der Tenor bei rechtschaffenen Beobachtern eindeutig: Nun hat auch Großbritannien seinen Trump. Der Vergleich darf auch bei Frankenberger nicht fehlen. Johnsons Berater Dominic Cummings erinnere an Trumps Ex-Berater Steve Bannon.

Johnson will Neuwahlen, Corbyn fürchtet sie
Tag des Gerichts, Tag des Verzichts
 Wer an Angela Merkel und deren Entourage gewöhnt ist und Robert Habeck oder Annalena Baerbock für die Krone der politischen Klasse hält, muss einen wie Boris Johnson natürlich unsäglich finden: Einen, der die Souveränität des eigenen Landes voranstellt und auf jeden Fall durchsetzen will, was die Bürger in freier Abstimmung als ihren politischen Willen bekundet haben. Unerhört! Oder wie Frankenberger fassungslos schreibt: „Warum lässt man zu, dass solche Leute ins Zentrum der Macht gelangen?“

Das medial-politische Establishment in London und erst recht in den Hauptstädten des Kontinents freut sich über Johnsons Niederlagen, wittert die Chance ihn loszuwerden. Und auch die meisten Insassen der Chefetagen der eher brexit-feindlichen britischen Wirtschaft dürften über das No-Deal-Brexit-Verbot froh sein. Doch wer Angst vor den ökonomischen Folgen eines ungeregelten Brexit hatte und sich vor ein paar Prozentpunkten weniger Wachstum dadurch fürchtete, hat keinerlei Grund nun aufzuatmen. 

Für die britische Wirtschaft könnte die Abwendung des No-Deal zu einer gewaltigen Falle werden, falls diese Niederlage Johnsons zum großen Sieg des Oppositionsführers Jeremy Corbyn werden sollte. Der kann sich vor allem über die Ablehnung des Neuwahl-Antrags freuen, denn in einem direkten Duell vor dem britischen Wahlvolk würde er Umfragen zufolge wohl verlieren. Aber, so vermutlich seine Hoffnung, durch ein Misstrauensvotum könnte er vielleicht doch an die Macht kommen. Der Groll der 21 Abweichler und politische Kurzsichtigkeit der Liberaldemokraten könnten seine große Chance werden.

Der Brexit bedeutet möglicherweise, zumindest kurzfristig, ökonomische Einbußen für die britische Wirtschaft. Aber Corbyn als Premierminister bedeutet mit Sicherheit eine ökonomische Katastrophe. Eine mit tiefer einschneidenden Folgen als jegliche Brexit-Variante. 

Corbyn erscheint wie ein gealterter, aber nicht geläuterter Berufsrevolutionär. Ein Asket, der keinen Spaß versteht und lieber alle arm als wenige reich sehen will. Er ist kein Sozialdemokrat, sondern nennt sich selbst einen „demokratischen Sozialisten“, umgibt sich mit früheren Kommunisten. Man stelle sich vor, Oskar Lafontaine habe nun doch noch die Chance, Bundeskanzler werden. So in etwa ist das.

Wobei Corbyns Pläne noch radikaler sind als die des Saarländers es je waren: Er fordert nicht weniger als eine gewaltige Kollektivierungsmaßnahme. Er will die Privatisierungen der Thatcher-Zeit rückgängig machen und Eisenbahn, Strom-, Gas-, Wasserversorger, die Post und Teile der Stahlindustrie wieder verstaatlichen. Alle größeren Unternehmen sollen 10 Prozent ihres Stammkapitals an die Belegschaft vergeben. Das wäre eine einmalige Umverteilung von rund 300 Milliarden Pfund. Die Körperschaftssteuer soll um fast 20 Prozent steigen. Boni für Banker werden abgeschafft. Mit den Steuereinnahmen sollen höhere staatliche Investitionen in Schulen, den berüchtigten Gesundheitsdienst NHS und die Infrastruktur finanziert werden. Gegen höhere Staatsdefizite und -schulden hat er nichts einzuwenden.  

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 Dass viele Briten, vor allem Wirtschaftslenker, von der Aussicht auf einen EU-Austritt ohne Vertrag verunsichert sind, wen sollte das erstaunen? Jeder, der unternehmerische Entscheidungen zu treffen hat, zieht verlässliche Rechtsgrundlagen einer unabsehbaren Lage vor. 

Aber aus Angst vor der Unsicherheit die sichere Unfreiheit vorziehen? Es wäre nicht nur für Unternehmer und Investoren, sondern für alle Briten, die ihre Freiheit der staatlichen Bevormundung vorziehen, fatal, wenn die Abwendung des No-Deal-Brexit einem Marxisten den Weg in die Regierungsverantwortung bahnte.

Vor lauter kurzfristigen Macht- und Verfahrensfragen und ebenso alarmistischen wie nebulösen Konjunkturprognosen für die Monate unmittelbar nach dem Brexit sollte doch das Wichtigste nicht vergessen werden. Die Briten haben mit dem Referendum von 2016 eine langfristige und grundsätzliche Frage beantwortet, die über das Ökonomische weit hinausreicht. Sie wollen als souveräne Nation selbst über ihr Schicksal bestimmen. 

Wie wird Großbritannien in fünf, zehn oder zwanzig Jahren aussehen – und wie die anderen europäischen Länder? Ist ein souveränes Land wie Großbritannien vielleicht besser in der Lage die bevorstehenden Umwälzungen und Megatrends zu bestehen, Wohlstand, Sicherheit und Freiheit seiner Bürger zu wahren, als ein Bund von Ländern, die zusammenwachsen sollen, es aber nicht können oder wollen? Der gegenwärtige Zustand der EU garantiert keineswegs, dass die Briten in einigen Jahren ihre Entscheidung von 2016 unbedingt bereuen werden. Die laute Empörung aus Medien und politischer Klasse gegen Johnson und die Brexiteers erfüllt für die Empörten wohl auch den Zweck des Pfeifens im Wald.

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Kommentare ( 62 )

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hoho
4 Jahre her

Es ist nicht No-Deal Brexit das verunsichert. Es ist ein Chaos der es tut. Die Abgeordneten in Parlament haben bewiesen dass sie nichts verstanden haben. Sie haben auch bewiesen dass sie echte Europäer sind – hauptsächlich weil sie die Entscheidungen der Leute (OMG: Nazis) verachten. Es ist wirklich erstaunlich wie es in D. nach den britischen Medien und Politelite geplappert wird: Demokratie in Gefahr!!! Die Entscheidung wurde doch in 2015 getroffen. Wenn man neue Referendum macht ist das dann doch eine Einladung um noch eine nach 2-3 Jahren zu machen. Bis es passt, oder? Dass die selbsternannten Demokraten die Wahlen… Mehr

Curisser
4 Jahre her

Bei aller Verachtung für Corbyn: Wenn er bei einer Neuwahl gewinnen sollte, dann haben sich die Tories das schon selbst zuzuschreiben. Es ist, gelinde gesagt, ein politisches Wunder, dass man die Folgen der Deindustrialisierung in Nordengland auf die EU abwälzen konnte und dafür nicht noch wesentlich härter abgestraft wurde. Ich könnte jedenfalls jeden englischen Arbeiter verstehen, der lieber einen marxistischen Antisemiten wie Corbyn wählt als die Parteifreunde derjenigen, die seine Region ruiniert haben. Das, was bei uns die Treuhand für den Osten war, war Maggie Thatcher für das ganze Vereinigte Königreich. Zudem ist es durchaus keine schlechte Idee, Verkehrs-und Versorgungsbetriebe… Mehr

Marc Hofmann
4 Jahre her
Antworten an  Curisser

Die Wähler in England werden nicht so dumm gehalten wie wir Deutschen… bzw das englische Volk ist mehr politisch aktiv als wir Deutschen. Die Engländer haben die Demokratie… Meinungsaustausch und Abwägung… selbständig denken und entscheiden in ihren Gen verankert. Im Gegensatz zu uns Deutschen… die wir immer einen starken Führer bzw Vormund brauchen…so hilflos geben wir uns Deutsche im Gegensatz zu England oder den USA. 18% sind für linksradikalen Kurs von Corbyn… Boris Johnson kann 40+X hinter sich vereinen. Auch die englische Volkswirtschaft wird sich lieber einen No Deal Brexit von Boris anschliessen als ein schwebendes und Schlimmeres weiter so… Mehr

Marc Hofmann
4 Jahre her

Und genau so macht man Politik….man zeigt den Wählern, Bürgern und der Volkswitschaft die alternativen schonungslos auf. Boris Johnson macht das perfekt…er versteht Demokratie und Politik…er zeigt dem britischen Volk die alternativen auf… entweder ein No Deal Brexit oder keinen Brexit und dafür einen Marxisten bzw der Verbleib in der EU kommt einem Marxismus gleich und hat nichts mehr mit einer freien und eigenverantwortlichen Volkswirtschaft zu tun.

Werner Baumschlager
4 Jahre her

Ist das nicht schon offener Demokratiehass dort in GB? Was sagt denn da die EU dazu? Wahrscheinlich „Bravo!“

armin wacker
4 Jahre her

mein Demokratie Verständnis geht so. wenn die Mehrheit sich entschieden hat, dann muß die Minderheit auch hinter dem Entschluss stehen und ihn konstruktiv mit durchziehen. Alles anders ist Willkür.

Michael_M
4 Jahre her

„Wenn Boris Johnson stürzt und Corbyn kommt, droht statt Unsicherheit die sichere Wohlstandsvernichtung.“
bis jetzt gibt es null anzeichrn das corbyn häuptling werden kann
was denken sie denn, warum corbyn, nschdem er mind 2 jahre fast tagtäglich neuwahlen/ein referendum gefordert hat, nun auf einmal GFGEN neuwahlen ist?

btw, sie vergessen farage

W aus der Diaspora
4 Jahre her

Aus Angst vor den „Rechten“ werden doch auch hierzulande Grün-Rote gewählt, die nichts anderes als eine faschistische, Verbotsdiktatur einführen wollen – und Deutschland dadurch Stück für Stück zurück zu mittelalterlichen Verhältnissen führen.

Es ist im gesamten Westen das Gleiche. Überall kämpft die Aufklärung des 16. / 17. Jahrhunderts gegen die neue Hexenverfolgung.

Martin L
4 Jahre her

Johnson muss sich nur über den 31. Oktober retten und bis dahin keinen Antrag auf Verlängerung stellen. Dann ist der Brexit Realität und der Rest ergibt sich.

H. Hoffmeister
4 Jahre her
Antworten an  Martin L

Leider erwarte ich in so einem Fall, dass die EU-BÜROKRATEN von sich aus die Frist verlängern, damit der Nettozahler nicht verloren geht.

Ecke
4 Jahre her

Sie können als mahnendes Beispiel für die Briten Berlin nehmen, dass marxistische Tollhaus, wenn Corbyn in Britannia den marxistischen Prügel schwingt.

darfdaswahrsein
4 Jahre her

Erinnert an Italien alles nur keine Neuwahlen. Dazu populistische Versprechungen von verstaatlichung und Vollversorgung für „die Menschen“. Also immer mehr von immer weniger. Rüchzugsgefechte der Repräsentanten eines politischen Auslaufmodells der sozialistischen Linken. Ob Johnson oder Salvini mittelfristig ist das nur gut für sie.