Merz als Cancel-Kandidat

Bekanntlich sind es nicht die großen weltpolitischen Analysen oder spektakulären Parteiprogramme, die jemand in die Seele blicken lassen. Wer Augen und Ohren und ein bisschen politische Lebenserfahrung besitzt, weiß aus kleinen Gesten Größeres zu lesen. Und so wundert sich über Merz nur, wer bisher geschlafen hat.

IMAGO / Christian Spicker

Warum wundert es mich nicht, dass der angebliche Gegner von Cancel Culture, Friedrich Merz, sich jetzt selber gecancelt hat? Warum sind eigentlich die meisten politischen Kommentatoren oder Internet-Foristen erstaunt und sprechen von einer „überraschenden Kehrtwende“ des CDU-Vorsitzenden? Worin liegt denn da die Überraschung?

Der Umfaller
Friedrich Merz versagt als konservativer Ritter
Klar, er hatte noch vorletzte Woche gewettert: „Cancel Culture ist die größte Bedrohung der Meinungsfreiheit.“ Allenthalben Jubel auf den Rängen der Konservativen. Doch zu früh gefreut – und Kundige überrascht das nicht. Letzte Woche hat der „wackere“ Sauerländer dann nämlich genau nach diesem Muster gehandelt und eine längst zugesagte Veranstaltung gecancelt, weil ihm die Meinung, ja die Personen der anderen Redner plötzlich nicht mehr gefielen. Und ihm das Aufheulen der Linken wohl gerade zupasskam, sich dieser Gesellschaft zu entledigen.

Seit heute ist klar, um wen es da vorrangig ging. Das, was andere Blätter (wie BILD, WELT etc.) in ihren scharfen Anti-Merz-Philippikas nur andeuteten, schreibt ausgerechnet die FAS in einem Merz verteidigenden Kommentar überdeutlich. Das ist dann also wohl die zutreffende Version.

Erst spät sei bekannt geworden, heißt es in der FAS, wen man da in der grün-schwarzen Landesvertretung Baden-Württembergs noch für das Podium eingeladen hatte: „Den Publizisten Henryk M. Broder zum Beispiel. Der wählte zwar die Tierschutzpartei, ist aber auch bei der AfD sehr beliebt. Einmal lud ihn die Fraktion zum Vortrag. Broder kam, leugnete den Klimawandel und wurde von der Vorsitzenden Alice Weidel umarmt.“

So ging es bei der Merz-Absage also keinesfalls „nur“ um den bekannten Rechtsanwalt Joachim Steinhöfel. Nein, Grund war der profilierteste und populärste jüdische Publizist unseres Landes. Jetzt ist es also dank FAS raus. Und das geschah exakt zu einer Zeit, in der das hoch sensible Thema „Umgang mit Juden in Deutschland“ im Fokus der Öffentlichkeit stand: der furchtbare Antisemitismus auf der „Documenta“ und der platte Israel-Hass eines bekannten Moderators des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, in dessen Aufsichtsgremium die Union maßgeblich sitzt. Ist das die neue CDU? Hätte nicht Merz auf diesem Hintergrund sagen müssen: jetzt erst recht ein Streitgespräch? Das ist doch die Frage, sonst nichts.

Vom Beckenrand
Friedrich Merz, der So-tun-als-ob- und Möchtegern-Kanzler
Höchstens noch: Warum wundert es Kenner nicht, dass Merz (plötzlich?) so handelte, also vom Anti-Cancel-Kämpfer zum einknickenden Cancel-Kandidaten wandelte? Vielleicht ja, weil das Konservative schon lange nur noch Staffage ist? Weil es ein Vehikel war, um an die Macht zu kommen?

Es sind bekanntlich nicht die großen weltpolitischen Analysen oder spektakulären Parteiprogramme, die jemand in die Seele blicken lassen. Bei Merkel reichte die verächtlich weggeworfene Deutschlandfahne, ihrem Generalsekretär am Wahlabend geringschätzend und missgestimmt abgenommen, um glasklar zu dokumentieren, was diese Frau über Deutschland denkt. Bei Söder war es die Begegnung mit dem (teils offen antisemitischen) FFF-Kindergarten auf der Zugspitze: „Ich bin der Markus … Und was ihr macht, finde ich gut.“ Oder bei Kramp-Karrenbauer der Kniefall vor dem queeren CDU-Establishment nach einem harmlosen Witz beim Stockacher Narrengericht. Wer Augen und Ohren und ein bisschen politische Lebenserfahrung besitzt, weiß aus solchen kleinen Gesten Größeres zu lesen.

Und so wundert sich über Merz nur, wer bisher geschlafen hat. Bereits im Sommer 2018 versuchte er, Roland Tichy zu canceln, dessen Kommentare und Analysen zum Beispiel in der „Wirtschaftswoche“ zuvor doch alles andere als im Gegensatz zur Merzschen Finanz- und Wirtschaftspolitik standen. Nein, das passte wohl plötzlich nicht mehr in die Karriereplanung.

Großer Junge auf dem Turm
Friedrich Merz: Der Junge, der nicht ins Wasser springt
Ein klassischer Fall von Kontaktschuld, bekannt damals nur aus dem linken Milieu, erfasste die CDU: Einen Preis der vom renommierten Tichy geleiteten renommierten Ludwig-Erhard-Stiftung lehne Merz doch tatsächlich ab, weil er meine, mit Tichy nicht auf einer Bühne stehen, geschweige denn auf einem gemeinsamen Foto erscheinen zu wollen. So ließ er sich das Ganze zumindest verbreiten. Denn sich persönlich dazu äußern, weder bestätigen noch dementieren, wollte er diese transportierte Aussage nie.

Spätestens da musste jedem klar sein, wohin die Reise geht. Jahre später äußerte er sich dann doch: „Das war aber nicht gegen Tichy persönlich gerichtet.“ Bitte, was?!

Oder, für mich noch erhellender und symptomatischer der Bundesparteitag in Hamburg im Dezember 2018. Dort lieferte, wie so oft, der baden-württembergische Delegierte Eugen Abler einen kurzen Redebeitrag zu seinen beiden Kernthemen, die doch auch die Merzschen einmal waren: Lebensschutz (kontra Abtreibung) und die Bedeutung des C im Parteinamen.

Ich habe das live miterlebt und war zutiefst erschüttert: im Saal eine Lautstärke wie auf einem sauerländischen Schützenfest, keine Glocke mahnte zur Ruhe. Die Noch-Vorsitzende Merkel dokumentierte ihre Abscheu durch ihr übliches Handy-Gespiele. Und Merz? Er ging während dieser wichtigen Rede zu Kernthemen der CDU schwatzend, scherzend und Schulter klopfend durch die Reihen, um Sympathiepunkte für die anschließende Vorsitzendenwahl zu sammeln.

Strategische Hilflosigkeit
Konservative in der CDU suchen ihre Aufstellung nach einem halben Jahr Merz
Er verlor dann auch gegen AKK, und Merkel strahlte doppelt: Sie hatte Merz nochmal triumphierend besiegt und die CDU einen entscheidenden Schritt weiter an den Abgrund gebracht. Dass es mit Laschet noch schlimmer kommen sollte, konnte damals noch niemand ahnen.

Der CDU-Austrittsbrief Ablers, bei TE veröffentlicht, war schließlich der meistgelesene deutschsprachige Online-Auftritt des Tages, sein Buch „Der Verrat am C“ wurde zum Bestseller.

Zwei Episoden also, die jedem Kundigen klar machten, wohin die Reise geht. Erinnerungen, die nochmals aufgefrischt wurden, als sich ausgerechnet das Unions-Spitzen-Duo Söder/Merz letzte Woche vor einem bayerischen Atomkraftwerk postierte und lauthals gegen das Kernkraft-Nein der Ampelregierung protestierte. Ja, wer hat denn die Meiler buchstäblich über Nacht abgestellt und die (heute lebensrettende) Atomkraft in Deutschland beendet? Die Grünen etwa? Wem konnte es nicht schnell genug gehen?

Und wer hat denn auf Merkels Abschiedsparteitag 16 (sechzehn!) Minuten stehend applaudiert zur Hymne über die großen Verdienste der großen Vorsitzenden?


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Kommentare ( 69 )

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Busdriver
1 Jahr her

Ich habe die Merkel nie gemocht aber sie hat mehr Cojones als Merz. Auf den hatte ich gehofft und erwartet, dass er die CDU wieder auf einen konservativen Vormerkel-Kurs führen würde. Dass es dagegen Widerstand geben würde, war schon klar, aber dass Merz gleich beim ersten Twitter Sturm einknickt statt zu kämpfen hätte ich nicht gedacht. Welche Hoffnungsträger bleiben dann noch ? Vielleicht Linnemann oder Kritina Schröder ? Oder etwa doch Söder, der leider auch sehr flexible Überzeugungen hat aber doch auch ein gewisses Gespür dafür, wenn der Wind dreht ? Zumindest hat er mehr Machtwillen als Merz.

Hans-Georg Villy
1 Jahr her

Alles richtig, Peter Hahne. Aber hat nicht auch die Werteunion zu lange auf Merz gehofft? Sie musste schmerzlich erkennen und miterleben, ebenso wie ihre prominenten Protagonisten Maaßen, Mitsch und Otte, dass Merz die konservativen in der CDU ausgegrenzt und in der Partei quasi zu unerwünschten Personen erklärt hat, mit denen er nicht kommunizieren möchte. Die Werteunion ist nun leider im Nirwana verschwunden und macht genau das, was in meinen Augen nicht zielführend ist, sich laufend an der AfD zu reiben. So kann man den politischen Konservatismus nicht voranbringen!

Manfred_Hbg
1 Jahr her

Was ich (auch)von F.Merz sowie auch von der „heutigen“ links-grün vermerkelte CDU halte, habe ich hier an anderer Stelke schon mehrmals geäusert. Deshalb hier mit Bluck auf den Artikel nur kurz gesagt: Super, ein wieder von Herrn Hahne prima Artikel welchen man jeden Tag zu Beginn und zum Ende des Tages im Hör- und Sehfunk vorlesen und zeigen müßte bis auch der letzte Schlafmischel und CDU-Fan kapiert hat was auch von dieser Altpartei namens CDU zu halten und erwarten ist. Nämlich NIX!!! Und (auch) zu Herrn Friedrich Merz gesagt: Wenn er diesem Land & Volk etwas Gutes tun will, sollte… Mehr

Pragmatiker
1 Jahr her

Ausgerechnet ein CDU-Politiker macht die „Kontaktschuld“ hoffähig.
Danke an Peter Hahne, dass er klar benennt, wie sich der führende Christdemokrat mit Boykott gegen „Rechts“ durch linke Methoden versucht abzusichern und anzubiedern.
Nun gilt also schon der Kontakt mit dem großen Publizsiten Henryk M. Broder als moralischer Fehler. Bin gespannt, wann Merz den großen Kanzler Helmut Kohl und dessen Kabinettsmitglieder, deren Grundsätze nahezu Deckungsgleich mit Blau sind, posthum aus der CDU schmeißen lässt.
Und auch der Münchner Flughafen „Franz-Josef-Strauß“ muss nach dem Merz’schen Cancel-Maßstab bald umbenannt werden. Zumindest wird Merz bis zur Umbenennung dortige Landungen mit seinem Privat-Flieger sicher boykottieren…

ramses82
1 Jahr her

Die CDU/CSU benötigt eine Runderneuerung, ganz im Sinne dessen, was Eugen Abler in der Tichy-Ausgabe vom 13.8.20 sagt. Dazu wäre allerdings richtige Personal vonnöten, was weit und breit nicht erkennbar ist. Mit Herrn Merz wird das nichts, er ist ein ausgesprochener Wackelkandidat. Andere Unionsgranden verstecken sich immer noch hinter der Merkel-Ära, nicht wahrhaben wollend, 16 Jahre lang eine unfähige Kanzlerin duckmäuserich und unkritisch begleitet zu haben. Eine Kanzlerin, die mit einer fatalen Einwanderungsdoktrin und einer noch katastrophaleren energiepolitischen Geisterfahrt und weiteren von Herrn Abler beschriebenen Fehlleistungen einen riesigen politischen Scherbenhaufen hinterlassen hat. Die gesamte Unionsführungsriege sollte sich Ablers Buch „Verrat am… Mehr

Armin Latell
1 Jahr her

Eine cdu geführte Regierung wäre genauso katastrophal wie die jetzige. Es ist und bleibt die Erkenntnis: bis auf eine einzige Partei im Bundestag sind alle anderen „Blockflöten“, durch programmatische Unterschiede jedenfalls nicht mehr zu identifizieren. Und der, ich bitte um Entschuldigung, strohdumme deutsche Wähler, erkennt nicht im Geringsten, was er sich „angewählt“ hat, und noch schlimmer, er würde es wieder tun. Das sehe ich in meinem Bekannten und Freundeskreis….Asche auf mein Haupt, aber: ich gönne denen das so dermaßen, auch wenn ich selbst leider „mitgehänkt“ werde.

Teiresias
1 Jahr her

Als Vertreter der Hochfinanz vertritt Blackrock-Merz natürlich die Interessen der Hochfinanz.

Man muss schon sehr naiv sein, um in Merz das Relikt der Bonner Republik zu sehen, der etwas von den alten Werten repräsentiert.

Ho.mann
1 Jahr her

Merz gehört eben auch zur mutierenden Gattung der Wendehälse, die opportunistisch ihre egoistische Selbstabsicherung betreiben.
Die zur Plage mutierte Gattung der Wendehälse lässt uns zu unserem Leidwesen täglich erleben, wie erfolgreich opportunistische Wendehals-Politik sein kann.

Rene Meyer
1 Jahr her

Super Beitrag mit einem dollen Titel: „Merz als Cancel-Kandidat“! Das ist jedenfalls lustiger und passender als „Merz, der Kanzlerkandidat der CDU“ womöglich in ein paar Jahren.

usalloch
1 Jahr her

Als Willi Brandt, er war inzwischen auf Wolke 7 angelangt, der Partei zu unberechenbar wurde, genügte ein Satz des Zuchtmeisters Herbert Wehners. „Auch Wehner hatte keine hohe Meinung von der politischen Substanz Brandts; auch er hielt den Berliner SPD-Politiker für einen dem Fleiß abgeneigten Dandy.“ (Der Spiegel.) Der Satz, „Der Herr badet gerne lau.“, leitete den Sturz Willi Brandts, trotz seiner hohen Verdienste, ein. Die CDU heute,ohne einen Zuchtmeister in ihren Reihen, mag sich trotz der  eklatanten Fehler der Ampelregierung und durch mimosenhaftes Verhaltens ihres Friedrich Merz noch eine Weile halten, allerdings je näher der GAU in Sicht kommt, wird… Mehr