Putin und der Westen

Es ist die Ambivalenz des Deutschen, die Unentschiedenheit zwischen Herz und Verstand, die die deutsche Diplomatie als selbst gedachtes Glied zwischen Ost und West prägt. Es ist die Zerrissenheit des Deutschen und das Versagen seiner Diplomatie, in dieser Ambivalenz die richtigen Worte, die notwendigen Positionierungen nicht finden zu können.

© Chip Somodevilla/Getty Images
Vladimir Putin und Barack Obama schütteln Hände für die Kameras vor dem Start des Bilateralen Treffens bei den Vereinten Nationen in New York, September 28, 2015
„Putin ist Russe. Aber er ist kein unberechenbarer Bär. Er ist ein Bandenboss mit dem Instinkt eines Wolfes. Dennoch lässt sich die westliche Politik von diesem Bild des Bären, der im vermeintlichen Abwehrkampf zu allem bereit ist, leiten. Und zieht aus der irrationalen Angst vor einem atomaren Krieg knurrend den Schwanz ein vor einem Wolf, der sich wohl kalkuliert mit erhobenen Vorderläufen aufrichtet, um als unberechenbarer Bär wahrgenommen zu werden.

Dabei wäre es so einfach. Nicht denken wie ein französischer Diplomat des achtzehnten Jahrhunderts. Sondern denken wie ein Bandenboss. Und handeln wie ein Bandenboss. Dabei das Kernterritorium des Gegners nicht bedrohen, nicht in Frage stellen.“

Diese Sätze schrieb ich im März 2014 in einem seitdem viel beachteten Psychogramm des russischen Präsidenten. Sie sind heute so richtig wie vor zweieinhalb Jahren. Nur mit dem Unterschied, dass der mächtigste Bandenboss Russlands seine Begehrlichkeiten seitdem noch deutlicher auf die Territorien in seiner Nachbarschaft gerichtet hat und nicht nur in Georgien, der Ukraine, Transnistrien und mittlerweile auch Syrien aktiv ist.

Das deutsche Iwan-Rebroff-Syndrom

Putin erhält bei seinem Bestreben der Reaktivierung russisch-imperialer Größe viel Unterstützung gerade in Deutschland. Nur selten ist diese Unterstützung wie im Falle eines früheren deutschen Bundeskanzlers mit der nachvollziehbaren Vernunft des konkreten, persönlich-materiellen Vorteils verbunden. Es ist auch selten eine tief verankerte Loyalität wie bei einem langjährigen Freund, den ich 1989 als Staatsanwalt der untergehenden DDR kennenlernte und der als zu Wohlstand gekommener Rechtsanwalt Dank seiner NVA-Offizierskarriere bis heute nicht davon lassen kann, mit Russland die Illusion eines ewigen, großen Vorbildes zu verbinden.

Bei den meisten Deutschen ist das Verhältnis bestimmt von dem, was ich in einem Gespräch mit Russland-Experten einmal als „Iwan-Rebroff-Syndrom“ beschrieben hatte. Jener Spandauer Hans Rolf Rippert, der mit seinem Bass-Falsett im Phantasie-Kosakenkostüm ein Millionenpublikum ebenso begeisterte wie sein weibliches Pendant Doris Nefedov alias Alexandra, die – leider viel zu früh verstorben – mit ihrer Kontra-Altstimme des Deutschen Sehnsucht an das Land des Doktor Schiwago gleichermaßen weckte, wie befriedigte. Beide gaben im wahrsten Sinne ihrer Songtitel einer tiefsitzenden deutschen Illusion Ausdruck, die nach Osten schaut und dort die Weiten der scheinbar unberührten Taiga erblickt, in denen  „der Russe“ als eine Mischung aus Pelztier-jagendem Waldläufer und die Scholle liebenden Kosaken als Inkarnation der Naturverbundenheit des einfachen Lebens  in einer ewig währenden Melancholie von einer besseren, unkomplizierteren Welt lebt.

Kein rationales Verhältnis

Das Verhältnis der Deutschen zu Russland war nie rational. – „Ich fühle mich mental den Russen viel näher sind als den Amis“, bekannte mir gegenüber dieser Tage ein norddeutscher Christdemokrat. Er, selbst Landwirt, fühlt sich eins mit dem seit Generationen bewirtschafteten Boden. Mensch und Erde sind für ihn eine fast mythische, organische Einheit – und diese meint er bei den Russen ebenso wie bei sich und bei den Yankees überhaupt nicht zu erkennen.

Der Bauch der Deutschen möchte so gern russisch sein. Er möchte so sein, wie er sich in seiner Phantasie das Russisch-sein vorstellt. Der deutsche Kopf hingegen weiß, wenn er nüchtern auf die Welt schaut, dass seine Sicherheit in einer Welt voller Unsicherheit von der letztverbliebenen Supermacht USA abhängt. Er weiß, dass es die enge Verbindung mit den ungeliebten Europäern im Norden Amerikas ist, die ihm seinen wirtschaftlichen Wohlstand garantiert und dem europäischen Wurmfortsatz an der eurasischen Landmasse im Rahmen seiner Verpflichtungen seine Selbstbestimmung sichert.

Es ist diese Ambivalenz des Deutschen, diese Unentschiedenheit zwischen Herz und Verstand, die die deutsche Diplomatie als selbst gedachtes Glied zwischen Ost und West prägt. Es ist die Zerrissenheit des Deutschen und das Versagen seiner Diplomatie, in dieser Ambivalenz die richtigen Worte, die notwendigen Positionierungen nicht finden zu können. Und es ist der Sieg des Bauches über den Kopf, wenn ein deutscher Außenminister denen einen rhetorischen Dolch in den Rücken stößt, die mit seiner Zustimmung und Unterstützung in dieser Ambivalenz Linien ziehen, die nicht überschritten werden dürfen.

Steinmeiers Irrtum

Wenn der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier nach Moskau schaut, dann ist sein Blick jenseits der Dauerberieselung durch seinen Mentor und Macher Gerhard Schröder  beseelt von der Vorstellung eines russischen Bären, der in seiner tappsigen Art etwas ungelenk durch die Taiga trollt und eigentlich völlig harmlos ist, wenn man ihn nur nicht reizt und ihm einen dicken Topf voll Honig vor das Maul stellt. Und dann träumt Steinmeier davon, wie einst der Bauchmensch Kohl mit Gorbatschow in emotionaler Gemeinsamkeit der Welt Frieden und dem deutsch-russischen Verhältnis dauerhafte Freundschaft schenken zu können.

Doch Geschichte wiederholt sich nicht und die einmalige Konstellation der Doppelpartner Kohl-Gorbatschow und Genscher-Schewardnadze, die der Welt tatsächlich das Ende des 75-jährigen, europäischen Krieges bringen sollte, war eine grundlegend andere als die heutige. Denn damals saßen im Kreml tatsächlich Männer mit Emotion und Empathie, die den Niedergang des eigenen Landes mit den Händen greifen konnte und deshalb versuchten, die ewige Konfrontation zwischen Russland und dem Rest der zivilisierten Welt zu überwinden.

Russlands Napoleon

Das Chaos, in welches Russland nach dem Zerfall des Sowjetimperiums fiel, und an dessen Entstehen auch der Westen eine Teilschuld trägt, weil er sich zu sehr darauf verließ, dass die Russen in der Lage sein würden, einen eigenen Weg in die Demokratie zu finden und deshalb in Russland nur den Wirtschafts-, nicht aber den politischen Partner erblickten, schuf jenen Wladimir Putin.

So seltsam es auf den ersten Blick erscheinen mag und so sehr sich Geschichte nicht wiederholt, so sind die Parallelen zu jener Entwicklung des revolutionären Frankreichs vor nunmehr gut 200 Jahren unübersehbar. Auf die Revolution, die das Ancien Régime der KPdSU hinwegfegte, folgte die Phase der marktwirtschaftlich-anarchischen Jakobiner, deren implodierendes Gesellschaftsgefüge nach einem Napoleon schrie.

Putin, dieser eiskalt berechnende Geheimdienstler aus den Hinterhöfen Leningrads, ist der Napoleon des russischen Zusammenbruchs von 1989. Doch anders als der kleine Korse, der sich immer noch als Republikaner verstand und als Etatist an einen starken, gerechten Staat glaubte, fehlte dem kleinen Leningrader jene Fähigkeit, über seinen und seiner Freunde Nutzen hinaus zu denken. Putin war und ist das Produkt seines von Straßenbanden geprägten Ursprungs und der entmenschlichenden Ausbildung zum Geheimdienstmechaniker.

Der Westen unterschätzt Putin

Lange Zeit wurde dieser Wladimir Putin von seinen westlichen Partnern sträflich unterschätzt. Seine heimlich gefilmte Rede vor KGB-Kollegen, in der er schon Ende des vergangenen Jahrhunderts sein Ziel darlegte, das von seinem Vorgänger Boris Jelzin in einem Zustand demokratischer Anarchie hinterlassene Reich als KGB-Staat neu zu ordnen, wurde von den westlichen Politikern ignoriert. Als Putin mit der Unterstützung seiner KGB-Camarilla ansetzte, den weltgrößten Ölkonzern Yukos in das Eigentum des Geheimdienstes zu überführen, wurde dieses als innerrussische Angelegenheit abgetan. Gleiches geschah, als Putin sein Parlament und seine Medien gleichschaltete, Wahlen in seinem Sinne manipulierte, immer mehr Oppositionelle und neuerlich auch hohe Militärangehörige eines unnatürlichen Todes starben.

Der Westen beschränkte sich darauf, mit Russland Geld verdienen zu wollen  und sich ansonsten aus Russland herauszuhalten. Zwar mochten ihm der Abbau der demokratischen Rechte und die Vernichtung des bisschen Marktwirtschaft, das sich unter Jelzins Liberalisierung gebildet hatte, nicht so recht gefallen – doch es galt das absolute Gebot, sich nicht in die politischen inneren Angelegenheiten Russlands einzumischen. Das machte Putin stark. Denn es gab ihm die Gelegenheit, Stück für Stück auszutesten, wie weit er gehen konnte – nach Innen wie nach Außen.

Tschetschenien als Testlauf

Tschetschenien war sein erstes Opfer. Das kleine Land nördlich Georgiens, das die Zaren erst 1864 nach langen Guerillakriegen als Kolonie abschließend annektierten, diente dem Leningrader KGB-Mann als erster Gradmesser dafür, wie weit er gehen kann, ohne den Bruch mit dem für ihn überlebenswichtigen Westen zu riskieren. Er ließ das Land samt seiner Menschen zusammenbomben – und je lauter der Westen schwieg, desto brutaler wurde der Krieg. Taus Dschabrailow, von Russland eingesetzter Spitzenbeamter in Tschetschenien, bezifferte die Opfer dieses Krieges im Jahr 2005 mit 160.000 – überwiegend Zivilisten. Der Westen hörte weg, so wie er zuvor weggeschaut hatte. Und Putin hatte gelernt: Mit dem, was ich mir gehört, kann ich machen was ich will.

Der Raid over Georgia

Als jede schmerzhafte  Reaktion auf die Bombardierung der tschetschenischen Bevölkerung ausblieb, wendete sich Putin seinem südlichen Nachbarstaat Georgien zu. Dieses kleine Land hatte – anders als Armenien – zu intensiv in Richtung Westen geschaut  und war damit geeignet, für Russlands Südflanke zu einer gefühlten Bedrohung zu werden. Während Putin Separatismus innerhalb Russlands als Terrorismus mit brutalen Mitteln niederschlagen lässt, legitimiert und unterstützt er Separatismusbewegungen in anderen souveränen Staaten , so sie seinen geopolitischen Zielen nutzen.

Teil 2 unserer Serie zur Russlandpolitik
Steinmeier: Kritik am „Säbelrasseln“ der NATO
Auch hier hatte der Westen dem KGB-Mann den Weg gewiesen, indem es jenes unsägliche, bereits 1990 entstandene Konstrukt „Transnistrien“ als Separation des sich nach Westen orientierenden Moldawiens zuließ. Er akzeptierte, dass Russland dieses für sich wegen seiner Industrie wichtige, verbreiterte Ostufer des Dnistr faktisch übernahm und als militärischen Außenposten ausbaute. Bereits hier hatte Putin gelernt: Die NATO hält sich tatsächlich strikt daran, gegenüber Russland keine Territorien zu beanspruchen, die nicht ausdrücklich durch Beitrittsakt zur NATO gehören.

Damit war für ihn der Weg frei für weitere Revisionen der Ergebnisse des Zusammenbruchs Russlands als Verlierer im Rüstungswettlauf mit dem Westen. Nun stand Georgien an, aus dem Putin über von ihm organisierte Separatismusbewegungen zwei wichtige Provinzen herausbrach. Als Georgien getreu der russischen Doktrin der Unverletzlichkeit eigener Territorialhoheit den Versuch unternahm, die separatistischen Terroristen militärisch zu besiegen und sein abtrünniges Hoheitsgebiet zurück unter seine Verwaltung zu holen, griff Putin ein. Aber auf Seiten jener Separatisten, deren Pendants er auf russischem Hoheitsgebiet erbarmungslos verfolgen ließ.

Zwar wurde Putins Versuch, das kleine Land Georgien im Handstreich zu überrennen, im letzten Moment durch ein unmissverständliches Signal aus Washington unterbunden – doch der von Russland nun durchgesetzte Status Quo manifestierte abschließend das Herausbrechen der beiden Nordprovinzen aus georgischer Souveränität. Sobald es sich als notwendig erweisen oder die USA ihre Sicherheitsgarantie zurückziehen sollte, ist es für die russische Armee ein 24-Stunden-Job, die Autonomie des Kleinstaates einmal mehr zur Geschichte werden zu lassen.

Wieder hatte Putin gelernt. Er hatte gelernt, dass dann, wenn er seine Gebietsübernahmen durch scheinbar von Russsland unabhängige Freiheitsbewegungen vorbereiten ließ, der Westen bereit war, zähneknirschend diese faktischen Gebietsübernahmen zu akzeptieren. Der Westen gab dem Russen das Gefühl, dass die Krämerseele und Furchtsamkeit aus der einst gefürchteten NATO einen wuscheligen Kläffer gemacht hatte, der nicht mehr zu fürchten war. Was er deshalb nicht gelernt hatte, war, dass zumindest die USA seinem Treiben nicht vorbehaltlos zuschauten.

Putins Trial-and-Error

Ich beschrieb Putins Vorgehen 2014 mit Blick auf Russlands Einfall in die Ukraine so:

„Putin pokert. Er pokert mit hohem Einsatz. Er kann das tun, weil er in seiner Hand das bessere Blatt wähnt. Und weil er gelernt hat, dass die Chefs der gegnerischen Gangs zwar die Klappe groß aufreißen, aber eine höllische Angst vor einem blauen Auge haben. Bevor sie es auf einen Bandenkrieg ankommen lassen, werden sie unter Absingen böser Beschimpfungen den Schwanz einklemmen. So sind sie für ihn, den großen Bandenboss Putin, letztlich alles Schwätzer ohne Eier, kläffende Hunde ohne Rückgrat, bestenfalls Angstbeißer.“

Putin, das ist heute hinzuzufügen, betreibt sein Spiel auf internationalem Parkett als Trial-and-Error. Lange Zeit sah es so aus, als wäre er darin perfekt. Sein hybrider Blitzkrieg auf der Krim und die Erfolge seiner terroristischen Hybridarmee in Donezk und Luhansk gaben ihm das Gefühl, ungehindert eine Landbrücke bis in seine Enklave Transnistrien schlagen zu können. Doch nicht nur die Bürger von Mariupol und Odessa sollten ihm einen Strich durch die Rechnung machen, indem die einen ihre Stadt massiv gegen die von Moskau gesteuerten Terroristen befestigten und der Versuch der Übernahme Odessas mit dem Flammentod im Gewerkschaftshaus in einem Fanal endete.

Seitdem hat Putin in der Ukraine einen Status Quo organisieren lassen wie in Georgien. Seine Übernahme der Krim wird vom Westen ebenso zähneknirschend akzeptiert wie die russische Anwesenheit in den ukrainischen Ostprovinzen. Gleichzeitig – auch das ist kein Geheimnis mehr – wird die freie Ukraine von westlichen Diensten unterstützt. Mit jedem Tag, der vergeht – und der ständig Opfer fordert, weil die Russland-gestützten Terroristen übergegangen sind zu einer Politik der militärischen Nadelstiche, um trotz offizieller Waffenruhe ihre Territorien zu erweitern oder feindliche Positionen zu bedrängen – wird die Ukraine stärker und damit ein Militärschlag Russlands gegen das immer noch dank der mafiösen Ausbeutung durch seine früheren Eliten geschwächte Land zwar nicht unmöglich, doch zumindest teurer.

Auch wenn Putin in der Ukraine sein ursprünglich erhofftes Ziel bislang nicht erreichen konnte, so hatte er erneut hinzugelernt. Er hatte angesichts des vom Euromaidan nicht akzeptierten, vorrangig vom deutschen Außenminister im Interesse  Russlands ausgehandelten Vertrages vom  21. Februar 2014 gelernt, dass die Europäer unter deutscher Führung machtlos sind. Sie unterstrichen dieses mit ihrem verzweifelten und erfolglosen Versuch, durch die faktische Anerkennung der russischen Annektion der Ostukraine und der Krim über die sogenannten Minsker Abkommen die Gefechte zwischen Ukraine und Russland einzufrieren.

Das Trial-and-Error der ständigen Lüge

Da Putin in seinem Trial-and-Error auch gelernt hatte, dass sich für ihn der Bruch internationaler Vereinbarungen und völkerrechtlicher Prinzipien am Ende mehr lohnt als Vertragstreue, ist faktisch keine Vereinbarung mit ihm auch nur das Papier wert, auf dem sie geschrieben steht. Auf „Recht“ pocht Russland nur, wenn es ihm nützt. Nicht nur der aufgezeigte Umgang mit Separatismusbewegungen spricht für sich – mit seiner Annektion der Krim und dem Einfall in der Ukraine brach Russland vorsätzlich seine Zusagen, die Grenzen der Ukraine notfalls sogar aktiv gegen jede gewaltsame Änderungsabsicht militärisch zu verteidigen.

Gleichzeitig fordert Russland beständig von den anderen die Einhaltung vorgeblicher Vertragszusagen ein – verbietet sich dabei jedoch jegliche Einmischung von außen. Exemplarisch sei hier jene vorgebliche Verletzung der Grundakte durch die NATO hinsichtlich der Stationierung von Truppen im Baltikum und in Polen genannt, die Russland beständig behauptet und die von Russlands Supporten bedenkenlos nachgeplappert wird. Tatsächlich ist in der NATO-Russland-Grundakte vom 27. Mai 1997 zu lesen:

„Die NATO wiederholt, dass das Bündnis in dem gegenwärtigen und vorhersehbaren Sicherheitsumfeld seine kollektive Verteidigung und andere Aufgaben eher dadurch wahrnimmt, dass es die erforderliche Interoperabilität, Integration und Fähigkeit zur Verstärkung gewährleistet, als dass es zusätzlich substantielle Kampftruppen dauerhaft stationiert.“

Bedarf es zu den absurden Vorwurfen Russlands angesichts dieser Formulierung noch irgendwelcher Erläuterungen? Glaubt ernsthaft irgend jemand angesichts des russischen Vorgehens gegen die Ukraine und gegen Georgien noch daran, dass das „gegenwärtige und vorhersehbare Sicherheitsumfeld“ von 1997 das von 2016 ist? Die NATO hätte jedes Recht, dauerhaft massiv Truppen an einer Grenze zu stationieren, an der in den vergangenen Monaten ständig Militärmanöver der Russen stattgefunden haben, in denen offenkundig Operationen wie der Einmarsch in die westlichen Nachbarn wie die Übernahme von Ostseeinseln und nordeuropäischen NATO-Staaten geprobt wurden.

Die Sanktionen-Lüge

Ähnlich verhält es sich mit den Sanktionen des Westens, die als Reaktion auf die imperiale Politik Putins verhängt wurden. Von CSU bis SPD – von den putinschen Parteigängern in PdL und AfD ganz zu schweigen – wird auf deren Aufhebung hingewirkt. Russland und seine heimlichen und unheimlichen Unterstützer vermitteln den Eindruck, diese Sanktionen des Westens seien der Grund des Übels einer darbenden, russischen Zivilbevölkerung.

Tatsächlich aber sind die westlichen Sanktionen – ich führte dieses bei TE bereits zu einem früheren Zeitpunkt aus – ausschließlich auf Güter gerichtet, die der militärisch-industrielle Komplex Russsland benötigt. Es geht um Güter, die für die Rüstung genutzt werden können – und die Russland braucht, um seinen  einzigen Reichtum der unter der Erde liegenden Öl- und Gasfelder ausbeuten zu können. Die darbende Bevölkerung hingegen hat Putin selbst erzeugt – durch seine lächerlichen Gegensanktionen gegen westliche Lebensmittel wie Hühner und Milchprodukte, die er sich nicht mehr leisten kann, weil sein einseitiges Setzen auf den Energieexport angesichts des Preisverfalls bei gleichzeitig exorbitanten Kosten für seine militärisch-imperialistischen Abenteuer den russischen Staatshaushalt an die Schwelle des Bankrotts geführt hat.

Wenn ständig ein Horst Seehofer zum Alexander Gauland mutiert und die Aufhebung der westlichen Sanktionen einfordert, dann macht er sich zum Erfüllungsgehilfen Putins nur deshalb, weil seine industriellen Freunde, die nicht begreifen können, dass sie mit Russland auf das falsche Pferd gesetzt haben, ihm die Ohren vollheulen.

Nach zwei Jahren wird die NATO wach

Die NATO hat zwei Jahre gebraucht, um sich angesichts der russischen Aggression zu finden. Mit „Anakonda“ endlich tat sie das, was ich bereits 2014 eingefordert hatte: Sie beginnt zu denken und zu handeln wie ein russischer Bandenboss. Sie zeigt Putin, bis wohin er gehen darf – und wo die Newa überschritten ist, sollte Putin seine Aggression nicht in den Griff bekommen können.

Dass Putin anders als von vielen gedeutet eben kein unberechenbarer russischer Bär, sondern ein schlauer, aber skrupelloser Wolf ist, hat ausgerechnet der ihm in vielem nacheifernde türkische Präsident Erdogan gezeigt. Als Putin in seinem Konzept des Trial-and-Error wiederholt den türkischen Luftraum austestete, holte die türkische Luftabwehr eine der Maschinen vom Himmel. Statt nun aber – wie von der Angstfraktion unweigerlich zu erwarten gewesen wäre – sofort einen atomaren Krieg vom Zaum zu brechen, unterblieb fortan jegliche weitere Provokation.

Die sozialdemokratische Appeasementfront vergißt deutsche Interessen

Deshalb ist es falsch, vor Putins vorgeblicher Unberechenbarkeit in den Staub zu fallen. Es ist mehr als kontraproduktiv, wie die Vertreter der sozialdemokratischen Appeasementfront in der irrationalen Vision des freundlichen Russen das eigene Militärbündnis und damit europäische und deutsche Interessen vergessen.

Gleichwohl allerdings wäre es auch falsch, jeden Gesprächsfaden zu Putin abbrechen zu lassen. Doch wenn man mit ihm spricht, dann gilt heute wie vor zwei Jahren jener Satz, mit dem ich seinerzeit das Putin-Psychogramm abschloss:

Was der Westen heute bräuchte, wäre ein Selfmademan aus der Bronx mit dem Instinkt der Straße. Jemanden, der Putins Sprache spricht. Statt dessen hat er einen Rechtsanwalt aus Chicago, der nicht einmal weiß, ob man einem Bandenboss die Hand geben darf.

Doch – man darf. Man muss sogar. Aber man muss bei der Begrüßung kräftig zudrücken können, um ernst genommen zu werden.“

Das Experiment der Egomanen: Putin und Trump

Mit Blick auf die USA könnte man unter diesem Aspekt sogar geneigt sein, eine Präsidentschaft Donald Trumps als interessantes Experiment zu begreifen. Denn spätestens dann, wenn das Ego des Straßenjungen aus Leningrad auf das Ego des Selfmadebankrotteurs aus dem New Yorker Multikulti-Stadtteil Queens trifft, könnte es sogar geschehen, dass die Ratio urplötzlich die Seiten wechseln muss und es nicht mehr der Westen ist, der sich gegen die scheinbare Irrationalität der mächtigsten russischen Straßenbande zur Wehr setzen muss, sondern dass es Russland ist, welches sich gegen die tatsächliche Irrationalität eines Wirtschaftsimperialisten zu verteidigen hat. Bis dahin und auch dann bleibt es dabei: Die scheinbare Unberechenbarkeit des Wladimir Putin ist berechenbar, solange man das Spiel nach klaren Regeln spielt, nach seinen.

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