Die „Wirtschaftsweisen“ als Stichwortgeber des Umverteilungsstaates

Nicht nur die Forderung nach einer zeitweiligen Erhöhung des Spitzensteuersatzes belegt, wie sehr der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sich verändert hat. Statt Stabilität sind Schulden und „Solidarität“ angesagt.

IMAGO / Chris Emil Janßen
Übergabe des Jahresgutachten 2022 / 2023 zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung durch den Sachverständigenrat im Bundeskanzleramt, 09.11.2022

Das Ifo-Institut hat die Kosten des Staates für die drei Entlastungspakete der Bundesregierung berechnet. Zu den reinen Zahlen – rund 135 Milliarden Euro in den Jahren 2022, 2023 und 2024, also 3,8 Prozent der Wirtschaftsleistung des Jahres 2021, plus rund 90 Milliarden für die noch nicht vom Bundestag abgesegnete Gas- und Strompreisbremse – sah sich Ifo-Forscher Andreas Peichl genötigt, noch eine eigentlich banale Feststellung mitzuliefern: „Die Realeinkommensverluste durch die höheren Energiepreise müssen gesellschaftlich getragen werden. Der Staat kann diese Verluste nicht verhindern, er kann sie nur umverteilen. Wenn der Staat versucht, die gesamte Bevölkerung abzuschirmen, kann er weniger öffentliche Güter bereitstellen oder muss in der Zukunft höhere Steuern erheben.“

Wenn sich die politische Klasse, jedenfalls zumindest die derzeit regierenden Parteien, in einem einig sind, dann ist es die Ablehnung der erstgenannten Option. Vor allem, sofern diese „öffentlichen Güter“ irgendwie unter ihren Lieblingsvokabeln „sozial“, „Solidarität“, „Klimaschutz“ oder Ähnlichem einzuordnen sind. Ein sich selbst einschränkender Staat liegt jenseits ihres Denkhorizonts. Denn der bedeutete auch Einschränkungen für die politische Klasse selbst, die diese öffentlichen Güter verwaltet und zuteilt. 

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Umso willkommener dürfte da das aktuelle Jahresgutachten aus dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, traditionell „Wirtschaftsweise“ genannt, sein. Die rechtfertigen nicht nur die dritte Alternative, nämlich höhere Schulden, mit der Behauptung, dass „die mittelfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte durch die zusätzliche Kreditaufnahme bisher nicht gefährdet“ sei. Und der Wirtschaftsweise Achim Truger stellt auch schon Lindner eine Vorschussabsolution für 2023 aus: „Die ökonomischen Folgen des Angriffskrieges und die Energiekrise könnten das erneute Aussetzen der Schuldenbremse auch im Jahr 2023 rechtfertigen.“

Sie schlagen auch vor, was die „Wirtschaftsweisen“ früherer Zeiten immer ablehnten: höhere Steuern. Konkret soll der Spitzensteuersatz von gegenwärtig 42 Prozent zeitlich befristet angehoben oder alternativ ein Energie-Soli für Besserverdienende eingeführt werde. Sie wollen Bürger mit wenig Geld entlastet sehen, die „einen wesentlich höheren Anteil ihres Einkommens für Miete und Lebensmittel ausgeben als Haushalte mit höherem Einkommen“.

Der Gedanke, dass der Staat in dieser Krise womöglich selbst seine Ausgaben reduzieren könnte, wie das jedes vernünftig geführte Unternehmen und jeder Privathaushalt tun muss, taucht in dem Gutachten nicht auf. Die Vokabel Sparsamkeit fehlt in ihm gänzlich, nur einmal ist vom „Kraftstoffsparen“ die Rede

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Allein schon die Worte im Titel des Gutachtens sind so gewählt, dass die regierenden Sozialdemokraten zufrieden sein können: „Energiekrise solidarisch bewältigen, neue Realität gestalten“. Sozialdemokratische Politiker und vor allem Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, reagierten begeistert. „Bang! Sogar die Wirtschaftsweisen fordern mittlerweile höhere Steuern für Spitzenverdiener und mehr Hilfen für die Armen. Nennt sich Umverteilung“, schreibt er auf Twitter, gefolgt von dem Hashtag #TaxTheRich („besteuert die Reichen“).

Finanzminister Christian Lindner beeilte sich zwar mit einer Absage: Die Bundesregierung beabsichtige, „keine Steuern zu erhöhen“. Aber die bisherige Erfahrung mit der Ampel-Koalition spricht nicht gerade für die Durchsetzungskraft des kleinsten Partners FDP.

Dass der Spitzensteuersatz längst nicht nur „Spitzenverdiener“ betrifft, sondern schon ab einem Jahresgehalt von noch nicht einmal 59.000 Euro (bei verheirateten Doppelverdienern 117.000 Euro) für jeden Euro fällig wird, der darüber hinausgeht, also mehrere Millionen Menschen aus der Mittelschicht betrifft, spielt für die Wirtschaftsweisen offenbar ebenso wenig eine Rolle wie für Schneider und andere der üblichen Talkshow-Solidaritäts- und Steuerdebattierer. Es soll wohl so den meisten Spitzensteuersatzzahlern, die sich mit Mühe eine bürgerliche Existenz aufgebaut haben, verschleiert werden, dass nicht (nur) Topmanager und Millionenerben betroffen sind, wenn von jenen „Reichen“ die Rede ist, die die exorbitant steigenden Preise angeblich problemlos verkraften und den anderen dabei helfen sollen. 

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Bemerkenswert auch die Forderung, die von Finanzminister Christian Lindner geplanten Maßnahmen zum Ausgleich der „kalten Progression“ sollten verschoben werden. Dass dies einen Widerspruch zum Ziel der Entlastung der niedrigeren Einkommen bedeutet, scheint die Wirtschaftsweisen nicht zu stören. Unter der kalten Progression leiden schließlich vor allem kleinere Einkommen, die für jede Gehaltserhöhung mehr an den Staat abdrücken müssen.  

Dieser Sachverständigenrat war einst so etwas wie das Gewissen der marktwirtschaftlichen Ordnung und Vernunft. So haben sich die Vorgänger des jetzigen jedenfalls seit den fernen Zeiten Ludwig Erhards, der 1964 den Rat einsetzte, ihren halb ironischen, halb ehrfurchtsvollen Spitznamen verdient. Zuletzt wirksam wurde sein politisches Gewicht in der Ära von Gerhard Schröder, als die damaligen Weisen vor allem die Agenda-Reformen antrieben. Damals forderten sie eine dann auch vollzogene massive Steuersenkung für Unternehmen und Bürger. Wirtschaftsweise, die nach höheren Steuern verlangen – das schien jahrzehntelang undenkbar. 

Über die Jahre sorgte die SPD, mittlerweile auch die Grünen, allmählich für eine ihr genehmere Zusammensetzung des Rates. Der Jubel von Ulrich Schneider („Sogar die Wirtschaftsweisen…“) zeigt, wohin die Reise mit dieser Institution der alten Bundesrepublik gegangen ist. Schaut man die Titel früherer Gutachten an (Seiten 429 ff.) , in denen vor allem der Begriff „Stabilität“ oft vorkam und zum Beispiel 2003 „Staatsfinanzen konsolidieren“ gefordert wurde, wird die Veränderung ab Ende der 2010er Jahre deutlich: „gemeinsam bewältigen“, „Transformation“, „Klimapolitik“ …

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Kommentare ( 55 )

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klaus riedel
1 Jahr her

Die Mär von Eichels (hier sogar „massiven“) Steuersenkungen ist nicht tot zu kriegen. Die Senkung der Steuertarife ging einher mit einer Verbreiterung des besteuerbaren Einkommens Der Spitzensteuersatz greift seither bei viel geringeren Einkommen (was natürlich die ganze Progressionskurve absenkt) zudem wurden viele Steuertatbestände abgeschafft – dazu nur ein Stichwort: Arbeitszimmer. Ich erinnere mich noch gut, als mittelständischer Mensch nach der sogenannten Steuersenkung stärker enteignet zu sein, als zu Zeiten des 53%-Spitzensteuersatzes.

DrMarkusMueller
1 Jahr her

2013 war für mich klar: nie wieder FDP. Noch eine sozialistische Partei. Deswegen haben wir damals die AfD gegründet. Die FDP erlebte einen großen Aderlass, flog aus dem Bundestag. Linksliberale halten ihr bis heute die Treue. Warten wir ab, wie lange noch. Eine FDP, die an sozialistischen Plänen mitwirkt, muss auch den letzten Nettosteuerzahler abschrecken. Möge sie demnächst wieder unter den „Anderen“ firmieren.

Ulrich
1 Jahr her

„Dass der Spitzensteuersatz längst nicht nur ‚Spitzenverdiener‘ betrifft, sondern schon ab einem Jahresgehalt von noch nicht einmal 59.000 Euro (bei verheirateten Doppelverdienern 117.000 Euro) für jeden Euro fällig wird, der darüber hinausgeht, also mehrere Millionen Menschen aus der Mittelschicht betrifft,…“ Es sollte eigentlich auch Max und Erika Mustermann klar sein, dass es mit einer zusätzlichen Besteuerung der hier lebenden Reichen wie die Familien Aldi, Oetker, Reemtsma nicht ausreicht, die verkorkste Energiepolitik finanziell abzufedern. Dass sie selbst „Opfer“ bringen müssen, sagt ihnen ihr gewählter Bundestagsabgeordneter sicher nicht. Das ergibt sich dann von „ganz allein“. Wohneigentum ist sowieso etwas von gestern, Frau… Mehr

Rob Roy
1 Jahr her

Eben gerade die EEG-Zulage abgeschafft und schon kommt der Staat mit „Energiesoli“, „Klimasoli“ oder gar „Transformationssoli“ an. Kein Vorwand ist blöd genug, dass der Staat einen nicht schröpfen will. Vielen ist nicht klar, dass wir seit 1999 weiterhin eine Stromsteuer auf jede kWh entrichten, die seinerzeit eingeführt wurde, um den Strom absichtlich teurer zu machen (!) und auch, um den Strompreis auf das Niveau von Ländern wie Dänemark zu bringen. Was wir letztes Jahr auch geschafft haben, wo wir Spitzenreiter Dänemark abgehängt haben und uns seitdem auf Platz 1 der höchsten Strompreise der Welt behaupten. Und das obwohl das Durchschnittseinkommen… Mehr

Ralph Martin
1 Jahr her

Alles auf Linie, sogar die Ökonomen.
Wenn alle in eine Richtung marschieren, lohnt es sich stehen zu bleiben und in die andere Richtung zu schauen.

Rob Roy
1 Jahr her
Antworten an  Ralph Martin

Auch in der DDR gab es Ökonomen, die das sozialistische Wirtschaftssystem schöngeredet haben.

Einblicker
1 Jahr her

Irgendwann kommt der Tag an dem die Rechnung für all den Schwachsinn präsentiert wird.

Rob Roy
1 Jahr her
Antworten an  Einblicker

Nur, dass dann bestenfalls es alle gemeinsam ausbaden müssen, auch diejenigen, die das alles nicht gewollt und nicht gewählt haben.
Schlimmstenfalls baden jene es sogar ganz alleine aus, während die Verursachen davonkommen oder sich absetzen.

Landdrost
1 Jahr her

Alle Institutionen sind von den Linksgrünen durchsetzt. Dass deren Pöstchen nur dadurch finanzierbar waren, dass irgendwo Werte geschaffen wurden die auf dem Weltmarkt verkauft werden konnten, kapieren noch nicht einmal die heutigen „Wirtschaftsweisen“. Die eine Frau hätte bestimmt gern an jeder Dusche eine Verbrauchsanzeige… als ob irgendwer, der es selber bezahlt unnötig lange duscht und wenn doch, es ja auch bezahlen können muss. Furchtbar. Es ist wirklich furchtbar in jeder Institution mittlerweile nur noch diese vollkommen weltfremden Figuren zu sehen die einen versuchen mit ihrem Mittelalterwissen zu beeinflussen.

Henni Gedu
1 Jahr her

Statt der Drei Affen genügen bei der Ampel zwei grinsende A*Ä*ff*inn*en, und alles ist nicht gesagt. Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte mit 5000 Sternchen.

Bernd W.
1 Jahr her

Man sehe sich nur die Zusammensetzung dieses Rates der Wirtschafts-„Weisen“ an, damit ist doch eigentlich schon alles gesagt…
Mehr Frauen nach vorne! Vorwärts immer, rückwärts nimmer!

Biskaborn
1 Jahr her

Immer aufs Neue fühle ich mich bestätigt, jetzt sind selbst die sogenannten, nicht wirklichen, Wirtschaftsweisen voll auf Grün und Rot gepolt. Nun nenne mir jemand gern den Bereich der Gesellschaft, wo das noch nicht geschehen is!