Auf Deutschland kommt ein zigtausendfacher Lehrermangel zu

Jahrzehntelang begegnete die Politik dem Lehrermangel mit Flickwerk-Maßnahmen. Das reicht nicht mehr. In den kommenden zehn bis zwanzig Jahren gibt es einen Mehrbedarf an bis zu 76.000 Lehrern und einen Ersatzbedarf für ausgeschiedene Lehrer von rund 190.000. Ist den Schulministern die Brisanz dieser Zahlen bewusst?

IMAGO / photothek

Es ist das alte Lied, ja das alte Leid der Politik: Sie denkt selten über das Ende einer Amtszeit bzw. einer Legislaturperiode hinaus. Also konzentriert sich die Politik nach einer erfolgreichen Wahl gerne auf die kommenden vier Jahre (Bundestagswahl), fünf Jahre (die meisten Landtagswahlen) oder sechs Jahre (die meisten Kommunalwahlen). Wenn man diese vier oder fünf oder sechs Jahre echt nutzte, denn kaum ist die Hälfte einer Amtszeit vorbei, spekuliert man, wie man mit Gefälligkeiten, ja mit populistischer Politik die Chancen einer Wiederwahl verbessern könnte.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Der Bildungssektor ist ein Bereich, der unter einer solchen Taktung, ja unter einem solchen Taktieren besonders leidet. Die Bildungsbiographie eines jungen Menschen dauert nämlich nicht vier oder fünf oder sechs Jahre, sondern zwölf bis 20 Jahre; sie umfasst also drei bis fünf Amtszeiten von Abgeordneten, Regierungschefs, Ministern, Bürgermeistern … Das heißt: Was hier versäumt oder verbockt wird, ist oft kaum mehr auszugleichen. Oder noch konkreter: Wenn es hier an Personal für qualifizierte Bildung fehlt, dann wird das zum Dauerproblem zulasten der jungen Generation und der gesamten Bildungsnation.

Womit wir bei einem Dauerbrenner der Bildungspolitik sind: dem Lehrermangel. Man konnte es vor zwei bis drei Jahrzehnten wissen, aber die „hohe“ Politik wollte es nicht wissen. Wenn sie das Problem des Lehrermangels überhaupt in Ansätzen registrierte, dann kleisterte sie das Problem mit Flickwerkmaßnahmen zu. Es wurden Unterrichtsstunden gekürzt, die Lehrer wurden zu mehr Stunden verpflichtet usw. Damit all dies nicht auffiel und den Eltern sowie der Öffentlichkeit gefiel, wurden die Leistungsanforderungen abgesenkt und die Noten immer besser. Immer noch mehr Schüler wurden zum Abitur und zu einem Studium durchgeschoben.

Aber der Lehrermangel bleibt ein Dauerproblem. Denn das Reservoir an Tricks zum Retuschieren des Lehrermangels ist längst zulasten schulischer Bildungsansprüche ausgereizt. Es können nicht noch mehr Unterrichtsstunden gekürzt werden; und auch die Unterrichtspflichtzeit der Lehrer hat jedes sinnvolle Maß überschritten.

Kurz: Die Schulminister haben in puncto Personalplanung versagt, und sie versagen mit Blick auf die kommenden Schuljahre wieder. Dabei weist das Schulwesen zum einen sehr verlässliche Planzahlen aus; zum anderen ist der Lehrerbedarf sehr von politischen Setzungen abhängig.

Die Kultusminister haben geschlafen
Es droht ein gigantischer Lehrermangel
Der Reihe nach: Die Schülerzahlen sind auf ein bis zwei Jahrzehnte hinaus recht zuverlässig prognostizierbar. Der Grundschüler des Jahres 2029 ist schon geboren, der Berufsschüler des Jahres 2039 und der Abiturient des Jahres 2041 ebenso. Darüber hinaus kennt man – auch fachspezifisch – die Altersstruktur der Lehrerschaft recht exakt und weiß, wie viele Lehrer 2030 oder 2040 aus Altersgründen aus dem Dienst ausscheiden werden.

Drei weitere Faktoren, die den Lehrerbedarf ausmachen, sind Ergebnis politischer Setzungen. Ein Rechenbeispiel: Im Wochenplan einer Klasse eine Unterrichtsstunde zu kürzen, eine Klasse im Schnitt um einen Schüler größer zu machen und von Lehrern eine Pflichtstunde pro Woche mehr zu verlangen, das reduziert den Lehrerbedarf um zehn Prozent. Anders ausgedrückt: Die Politik hat es in der Hand, den Lehrerbedarf auf längere Sicht hinaus zu berechnen oder – im negativen Sinn – auch zu manipulieren. Die Schulminister haben es hier insofern einfacher als die freie Wirtschaft, die aufgrund konjunktureller Schwankungen weniger verlässliche Planzahlen hat.

Es geht um fast eine Viertelmillion Lehrer innerhalb eines Jahrzehnts

Eines hat die „hohe“ Politik dennoch versäumt, nämlich dafür zu sorgen, dass es genügend Bewerber für ein Lehramt gibt. Man hat sich durchgewurstelt und auf jede lang- oder auch nur mittelfristige Personalplanung bzw. Personalanwerbung verzichtet. Das rächt sich jetzt – vor allem zulasten der Kinder und Jugendlichen.

Derzeit gibt es in Deutschland etwa 40.000 Schulen mit rund 10,9 Millionen Schülern, an allgemeinbildenden und an berufsbildenden Schulen rund 760.000 Lehrer (umgerechnet auf Vollzeitstellen). Aufgrund demographischer Entwicklungen (inklusive Zuwanderung) werden im Schuljahr 2025/26 etwa 800.000 Lehrer gebraucht, in den Schuljahren 2030 bis 2036 werden es gar 836.000 sein. Das ist dann ein Mehrbedarf von recht exakt 10 Prozent. 10 Prozent, könnte man sagen, was ist das schon! Nein, man darf nicht vergessen, dass von den jetzt aktiven Lehrern fast ein Viertel über 55 Jahre alt ist. Das wiederum heißt: Diese Lehrer (in Zahlen und bezogen auf Vollzeitstellen: 190.000) werden spätestens in den nächsten zehn bis 15 Jahren aus Altersgründen aus dem Lehrerberuf ausscheiden.

Rechnen wir zusammen: In den kommenden zehn bis zwanzig Jahren haben wir einen Mehrbedarf an bis zu 76.000 Lehrern und einen Ersatzbedarf an rund 190.000 Lehrern. Wir unterstellen einmal, dass den Schulministern die Brisanz dieser Zahlen nicht bewusst ist – oder dass sie sie verdrängen.

Was ist also zu tun? Es ist ein Bündel an kurz- und langfristigen Maßnahmen ist notwendig.

  • Erst in 7 bis 8 Jahren wird es greifen, wenn ab sofort mehr junge Leute unmittelbar nach ihrem Abitur für den Lehrerberuf gewonnen werden können. 7 bis 8 Jahre nämlich dauert es, bis ein Lehramtsstudium inklusive Referendariat abgeschlossen ist. Hierfür bedarf es einer großangelegten Imagewerbung für den Lehrerberuf – und Maßnahmen, die geeignete junge Leute anlocken und ungeeignete fernhalten.
  • In 3 bis 4 Jahren greifen könnte eine Initiative, Studenten anderer Fächer unter Anrechnung bisher erbrachter Studienleistungen für ein „Umsatteln“ auf ein Lehramtsstudium mit anschließendem Referendariat zu gewinnen.
  • In 1 bis 2 Jahren wirksam würde es, wenn Universitätsabsolventen schulaffiner Fächer mit Master oder Magister oder Diplom in ein Referendariat des Schuldienstes gelockt werden könnten – Stichwort: „Umsatteln/Quereinsteiger“.
  • Sofort wirksam würden folgende drei Maßnahmen: Gewinnung von pensionierten Lehrern im Alter zwischen 65 und 70; Gewinnung von aktiven Lehrern für freiwillige Mehrarbeit; Gewinnung von Teilzeit-Lehrkräften für die Aufstockung der Zahl ihrer Unterrichtsstunden. Diese kurzfristig wirksamen Maßnahmen werden aber nur dann zahlenmäßig zum Erfolg führen, wenn sie finanziell attraktiv ausgestaltet sind.

Alles andere ist Flickwerk. Wenn etwa Schulministerien Headhunter ausschwärmen lassen, wenn über eine Vier-Tage-Schulwoche diskutiert wird. Wenn der fünfte Tag als digitalisierter Schultag zu Hause stattfinden soll. Wenn über eine Verkürzung einer 45-Minuten-Unterrichtsstunde auf 40 Minuten nachgedacht wird.

Ja, und dann sollte man – vorübergehend (!) – auch darüber nachdenken, ob man nicht da und dort, wo die Klassen noch halbwegs homogen und nicht multiethnisch höchst schwierig sind, eben diese Klassen etwas größer machen könnte. Es muss ja nicht jede dieser Klassen nur 20 oder 18 Schüler groß sein. Aber sie darf schon auch mal 28 oder 30 oder 33 Schüler stark sein. Das spart Lehrer. Im Übrigen ist Unterricht in einer etwas größeren Klasse immer noch besser als kein Unterricht oder ein Unterricht einer minderqualifizierten Quereinsteiger-Lehrkraft.

Alles in allem: Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat sich selten mit Ruhm bekleckert. Sie beschritt immer den Weg des geringsten Widerstandes, wenn es etwa um schulische Leistungsanforderungen ging. Oder aber sie machte sich – siehe Corona – weitgehend unsichtbar. Jetzt wird es Zeit, dass sich die KMK in Sachen Lehrerversorgung auf die Hinterbeine stellt und ihr Schritttempo beschleunigt. Damit sie endlich ihren Ruf ablegen kann, im Tempo einer „griechischen Landschildkröte“ zu arbeiten (so der damalige Bundesbildungsminister Möllemann, FDP) und „die reaktionärste Einrichtung der Bundesrepublik“ zu sein (so der damalige Bundeskanzler Kohl, CDU).


Unterstützung
oder

Kommentare ( 74 )

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

74 Comments
neuste
älteste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
1 Jahr her

Lehrermangel ist eine Fabel Mathe ist wohl nicht sein Lieblingsfach. Selbst nach den Zahlenangaben des DL Präsidenten gibt es für 13 Schüler einen Lehrer in Deutschland. Dazu noch 20% nicht gezählte freie Pädagogische Mitarbeiter, die heute eine umfassende Unterrichtslast tragen. Tatsächlich liegt das Schüler-Lehrerverhältnis eher bei 10 : 1. Lehrer gibt es im Übermaß, aber zu wenige schaffen es in die Schule. Die Liste der Unterrichtsbefreiungen ist unendlich. Im Vergleich zu 1970 gibt es heute 40 Prozent mehr Lehrer. Von 43 vorgestellten Gymnasien in Hannover standen 2011 für 20.966 Schüler 2048 Lehrer/innen zur Verfügung. Also ein Lehrer für 11 Schüler.… Mehr

Klaus D
1 Jahr her

2016 – Etwa 300.000 Flüchtlingskinder sind im vergangenen Jahr in Deutschland eingeschult worden – eine Herausforderung auf allen Seiten….https://www.deutschlandfunk.de/konferenz-schule-gestaltet-vielfalt-300-000-fluechtlinge-an-100.html ….rechnet man mit 30 kindern je klasse waren das auf einen schlag 10.000 lehrer mehr die man brauchte. Dazu kommt das die ausländer und zuwanderer (asylanten flüchtlinge geduldete) viel mehr kinder als deutsch bekommen sprich die nachfrage steigt stetig an. Interssant ist das man in dem job kaum migranten findet gerade keine weiblichen. Und das betrifft nicht nur schulen sondern auch kitas wo der personalmangel nicht geringer ist.

Axel Fachtan
1 Jahr her

Eine der Lösungen könnte es sein, Pädagogen nicht theoretisch sondern praktisch auszubilden und zwar vom ersten Tage an.
Wer nach 5 Jahren Uni feststellt, dass er selbst nicht zum Lehrer taugt, der steht im Regen.
Wer aber vom ersten Tage an lehrt, Wissen strukturiert weiterzugeben, der taugt dann besser für die Praxis.

Friederike
1 Jahr her

Es gibt die Klassen mit um die 30 Schüler durchaus. Dies ist jedoch nicht die Lösung angesichts all der „Verhaltensoriginellen“, fürs Gymnasium Ungeeigneten und Coronageschädigten (prima Ausrede für alles übrigens). Ich weiß, wovon ich rede.

Resultant
1 Jahr her

Und warum finden die Lehramtsstudenten, die in meinen Lehrveranstaltungen sitzen, fast alle keine Stelle? Sie bekommen nicht einmal einen Platz als Referendar.

Helfen.heilen.80
1 Jahr her

Früher war der Beruf ein anständiges Angebot. Der Verdienst war für das akademisches Milieu mittelmäßig, aber dafür hatte man die üblichen Ferien, täglich/wöchentliche Kernarbeitszeiten, die Vorbereitungen und Korrekturen konnte man innerhalb der Freizeit frei disponieren. Man war verbeamtet und eine wirklich gute Rente und Privatversicherung waren bis vor ca. 15 Jahren sicher. Das Publikum war grundsätzlich „beschulbar“. Dieser berufliche Deal und dessen Attraktivität existiert nicht mehr. Die Verbeamtung kommt nicht mehr so sicher wie früher, zu den Lehrzeiten kommen die Aufsichtszeiten für Ganztagsbetreuung, das Renteneintrittsalter ist illusorisch, denn diesen Beruf kann man nicht bis ins gehobene Alter aushalten, schon gar… Mehr

Axel Fachtan
1 Jahr her
Antworten an  Helfen.heilen.80

Sie beschreiben eine Jugend, die nicht mehr lernhungrig und bildungsorientiert ist. Da muss ich (Jahrgang 1964) Ihnen leider sehr recht geben. Die geburtenstarken Jahrgänge waren sehr bildungsoffen, viele auch regelrecht bildungsbegeistert. Das stelle ich bei den jetzt 16 jährigen kaum noch fest. Da geht keiner freiwillig zu einer Dichterlesung von Erich Frieds Nachfahren oder zur Theateraufführung eines Klassikers. Allerdings hat sich wohl auch rumgesprochen, dass Bildung für viele kein entscheidender Aufstiegsfaktor mehr ist. Wohlstand für alle war gestern. Ellbogen sind gefragt, um durchzukommen, nicht Bildung. Wer also seine Lehrer in die Verzweiflung treibt, wer rechtzeitig Mobbing lernt, der kann seine… Mehr

EndofRome
1 Jahr her

Keine Energie, keine Industrie, kein Geld, keine Armee, keinen Verstand, keine Lehrer. Hab ich was vergessen?

jwe
1 Jahr her

Bis 2015 hat man massenhaft Schulen geschlossen, weil ja die Schüler zurück gingen. Der Lehrerbedarf hatte dementsprechend nachgelassen. Und dann kam 2017 ganz überraschend die Einsicht, das Deutschland sich explosionsartig vermehrt hat. Da hatte ja keiner mit gerechnet. Dann mussten Schulen wieder eröffnet bzw. neu gebaut werden. Nur das die Schüler dann zum großen Teil kein Deutsch konnten bzw. Analphabeten waren. Die Art und Weise des Umgangs der moslimischen Neubürger mit weiblichen Lehrkräften hat nicht gerade zur Motivation beigetragen, Lehrer/in zu werden. Da kann Politik noch so an Toleranz und Weltoffenheit appellieren. Wer heute Lehramt studiert, muss schon ein besonderer… Mehr

Lateinlehrer
1 Jahr her
Antworten an  jwe

So ein Unfug! Jeder Lehramtsstudent kommt mittlerweile aus eigener Schul-Erfahrung mit dem Wissen in den Job, dass man häufig auch nachmittags Unterricht, Betreuungsaufgaben, Besprechungen aller Art etc. hat. Kinder von Leuten, die so eine Einstellung haben, zu unterrichten, ist äquivalent zu anderen unliebsamen Schülern.

Deutscher
1 Jahr her

„Und ich habe festgestellt, dass die Qualität unserer heutigen „Leerkräfte“ sich zwar geändert aber nicht verbessert hat.“

Richtig. Denen hat man vor allem beigebracht, dass nicht Leistung, sondern Selbstdarstellung der Schlüssel des Erfolgs sei.

bfwied
1 Jahr her

Schulklasse mit 18-20 Schülern an Gymnasien? Wo haben Sie denn den Blödsinn her. In meiner Familie sind Lehrer, und die haben nicht nur 28, sondern bis über 30 Schüler, und das in aller Regel schon seit 25 Jahren! Der Lehrerberuf ist zum Frauenberuf geworden, in dem diese 4, 8 oder 12 Wochenstunden unterrichten und keine Vertretung, keine Aufsicht, keine Veranstaltungen mitmachen!! Und bei heutigen Verhältnissen bis zum Alter von 70 Unterricht zu geben, das ist nur in Filmen à la Feuerzangenbowle möglich, mit lieben Kinderchen, die halt mal einen Streich spielen!! Das Problem lässt sich nur mit anderer Gesetzgebung und… Mehr

Friederike
1 Jahr her
Antworten an  bfwied

„Der Lehrerberuf ist zum Frauenberuf geworden, in dem diese 4, 8 oder 12 Wochenstunden unterrichten und keine Vertretung, keine Aufsicht, keine Veranstaltungen mitmachen!!“ Davon träume ich….