Söder in der selbst gebauten Falle

Sowohl in einer Koalition mit den Grünen wie der SPD und auch der FDP verlöre Söder das Alleinstellungsmerkmal in der Union: einzige Landesregierung ohne Ampel-Partei. Das ist ein starkes Motiv, auch nach der Landtagswahl im Oktober mit den Freien Wählern weiter zu koalieren. Und sie deshalb vorher nicht zu kündigen.

IMAGO / Sven Simon

Markus Söder pflegt taktisch ein Alleinstellungsmerkmal, das medial durchaus wirksam ist. Er schmückt sich damit, dass er die einzige Landesregierung anführt, in der keine Ampel-Partei mitwirkt. Das verschafft ihm vor allem innerhalb der Union eine Sonderstellung, die er ausspielen will, wenn es dann später um die Medien-Figur des Kanzler-Kandidaten geht, den es nicht gibt, weil nicht die Wahlberechtigten bei der Bundestagswahl, sondern nur die Abgeordneten im Bundestag einen Kanzler wählen können.

Sowohl in einer Koalition mit den Grünen wie der SPD und auch der FDP verlöre Söder dieses Alleinstellungsmerkmal. Das ist ein starkes Motiv, auch nach der Landtagswahl im Oktober mit den Freien Wählern weiter zu koalieren. Nach der Landtagswahl könnte Söder selbstverständlich die Freien Wähler auch ohne Aiwanger für eine Koalition gewinnen. Doch vor der Landtagswahl eher nicht. Denn die Freien Wähler wissen, dass sie ohne Aiwanger bei der Landtagswahl schlechter abschneiden würden als mit ihm.

Söder selbst kann wie alle anderen nicht vorhersehen, wie viele Wähler sich von der CSU und den Freien Wählern weg hin zu AfD und FDP bewegten, wenn die Koalition vor der Wahl platzt (dies wäre übrigens die einzige Chance der FDP, es in Bayern doch ein weiteres letztes Mal über die 5 Prozent zu schaffen).

Jetzt hat Söder mit dem abstrusen Manöver von 25 schriftlichen Fragen an Aiwanger erst einmal Zeit gewonnen: Bevor der August vorbei ist, müssen die bei Aiwanger eingetroffen sein, will sich Söder nicht komplett dem Vorwurf des Filibusterns aussetzen. Aiwanger darf für die Antwort nicht länger brauchen als Söder für die Übermittlung der Fragen. Aber von der Nachforschung, was sich im Archiv der Schule noch finden lässt, war am 29. August zwischen Söder und Aiwanger bereits einvernehmlich die Rede. Das dauert auch und verlängert die Sache bis – sagen wir mal – 12. September. Dann wären es nur noch drei Wochen bis zum Wahltag am 8. Oktober. Wenn Söder (mit und ohne heimliches Einvernehmen mit Aiwanger) will, kriegt er die Lücke bis zum Wahltag auch noch ohne abschließendes Ergebnis der Flugblatt-Affäre gefüllt.

2018 betrug der Anteil der Briefwähler bei der bayerischen Landtagswahl 38,9 Prozent. Dass 2023 die Hälfte der Stimmen die von Briefwählern sein könnte, war wahrscheinlich. Die wären schon überwiegend im Kasten, würde die Koalition drei Wochen vor dem Wahltag aufgekündigt. Kann aber auch sein, dass die Zahl der Briefwähler sinkt, wenn die Flugblatt-Affäre unentschieden andauert. Ungewissheiten über Ungewissheiten, wo doch alles schon klar zu sein schien. Andererseits: Die Wahlbeteiligung dürfte das Bauerntheater eher steigern als senken, zu Schaukämpfen kommen mehr Leute als zu Bittprozessionen.

Söder hat mit dem Zeitgewinnen begonnen, als er, wie er symbolträchtig selbst sagte, Aiwanger „einbestellte“, um zu demonstrieren, wer der Herr im Haus ist. Symbolträchtig auch, dass Aiwanger sich „einbestellen“, also demütigen ließ. Oder bauernschlau so tat als ob? Sind beide auf den letzten Metern des Wahlkampfs geschwächt unterwegs oder gehört das zur gehobenen medialen Bauernfängerei – um die Grünen und Roten in Siegesgewissheit zu wiegen?

Die Schwachstelle bei Cunctator Söder Markus‘ Taktik ist, dass die Zeit für ihn und gegen ihn spielt. Erreicht die Menge an neuen Informationen – wie jetzt Aiwangers Flugblatt als „Negativbeispiel“ in einer Schülerarbeit im Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau oder des Ex-Mitschülers Erzählung über Aiwangers „Hitler-Gruß“ und „Juden-Witze“ in der Schule – eine kritische Masse, droht Söders Kartenhaus zusammenzufallen. Allerdings sagte Söder bei seinem Presseauftritt nach dem Koalitionsausschuss auch: „Es darf nichts Neues hinzukommen.“ Diese Reißleine an seinem Fallschirm kann Söder jederzeit ziehen, wenn der Aiwanger-Absturz gar nicht mehr aufzuhalten ist.

Daher wird Söder auch der selbst gebauten Falle entkommen, schließlich hat er in der Disziplin, morgen das Gegenteil des gestern Angetäuschten zu tun, nicht nur eine lange Erfahrung. Es ist das Einzige, was Söder im Parteienstaat besser gelernt hat als seine Mitbewerber um den „Kanzler-Kandidaten“ der Union. Und wenn das nichts wird, bleibt ihm in Berlin noch immer die Rolle des Grantlers aus München.

Anders ausgedrückt: im deutschen Parteienstaat nichts Neues. Um die Sorgen der Bürger geht es nicht. Die Berufsfunktionäre drehen sich um sich selbst. Und die Medien-Musik spielt zum Tanz.

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Kommentare ( 112 )

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leonaphta
7 Monate her

Beeindruckender Kommentar des österreichischen Kabarettisten Grosz:
Ministerpräsident Söder darf Södolf genannt werden.
https://www.youtube.com/watch?v=snjO3gx-Ln0

Schallende Ohrfeige: Söder scheitert krachend vor Gericht! | Ein Kommentar von Gerald Grosz

Fossilmagd
7 Monate her

Durchaus benerkenswert ist das, was der Focus gestern schrieb. Im Teaser lesen wir nämlich:

Ein Ex-Lehrer von Aiwangers Schule hat offenbar gezielt daran gearbeitet, Bayerns Vize-Regierungschef zu stürzen. Dafür schreckte er auch nicht davor zurück, einstige Mitschüler Aiwangers zu instrumentalisieren. Dies erfuhr FOCUS online von einem Mitschüler.

https://www.focus.de/politik/deutschland/dann-sagte-mir-mein-ex-lehrer-jetzt-ist-an-der-zeit-den-aiwanger-zu-stuerzen_id_203254753.html

Es ist ein längerer Artikel, aber er liest sich meiner Ansicht nach so, als würde der Schuß sehr deutlich nach hinten losgehen und Aiwanger einige Prozente mehr verschaffen, als er ohne diese abstoßende SZ-Schlammschlacht hätte erwarten können. Nachdem Lanz jetzt auch eifrig mithilft, kann ja eigentlich nichts mehr schiefgehen.

Last edited 7 Monate her by Fossilmagd
Diogenes
7 Monate her

Bisher fand ich Söder ganz sympathisch, aber, daß er seinen jahrelangen Kumpel, politsch und sicher auch privat, jetzt mal eben mit so einer Kinderkacke erledigen will, zeugt von erschreckendem Charakter. Soviel Machtstreben und Angst vor Machtverlust hat die ganze Regierung vergiftet.

Klemens Neurat
7 Monate her
Antworten an  Diogenes

Aufgrund welcher Eigenschaften fanden Sie Söder bisher sympatisch? Der hat meiner Meinung nach schon soviel auf dem Kerbholz, dass ich ihm schon lange nicht mehr über den Weg traue.

Metric
7 Monate her

Wenn Aiwanger brav antwortet, macht er sich zum Depp. Er sollte sagen: „Wenn Söder mit meinem damals minderjährigen Bruder sprechen will, muss er in die Vergangenheit reisen. Ich werde weiterhin versuchen, mit Söder wie mit einem Erwachsenen zu sprechen, und hoffe, dass er auch dahin zurückfindet.“ Oder er sollte einfach noch jetzt die Koalition platzen lassen, um den Bayern klarzumachen, dass ohne die FW schwarzgrün droht.

Evero
7 Monate her

>>im deutschen Parteienstaat nichts Neues. Um die Sorgen der Bürger geht es nicht. Die Berufsfunktionäre drehen sich um sich selbst. Und die Medien-Musik spielt zum Tanz.<<
Deswegen ist dem Bürger anzuraten, fleißig AfD zu wählen, damit wieder Bewegung in den müden Verein kommt.
Eine starke Konkurrenz gegen die faktische Allparteien-Altparteienregierung ist überfällig. CDU/CSU sind ja ein sich selbst im Weg stehender Totalausfall als Alternative zur Regierung.

Steve Acker
7 Monate her

vielleicht holt Aiwanger das Direktmandat im Wahlkreis Landshut. wär schon mal ein tolles Zeichen.
Schon 2018 war es recht knapp. CSU : 27,8 Aiwanger 25

Evero
7 Monate her

Es ist klar ersichtlich, dass sich jene, die selbst genug Dreck am Stecken haben am meisten entsetzt zeigen über die jugendlichen Dummheiten von Aiwanger. Offenbar fühlen sich manche erhöht, wenn sie sich moralisch überlegen fühlen, indem sie andere in den Dreck treten. Um es klar zu sagen: ich bin kein Wähler der Freien Wähler; dafür sind die mir viel zu angepasst an die Politik der CDU/CSU und man hat den Eindruck, dass die Freien Wähler die 2. Garde der Union für Pöstchen ist. Aber ich finde die Jagd auf Aiwanger unglaublich scheinheilig und verlogen. Es geht doch hier in keinster… Mehr

Bergzebra
7 Monate her

Das Dilemma ist nun leider recht deutlich geworden: Herr Aiwanger ist zwar ein guter Mensch, aber als guter Politiker hätte er Söder deutlich Paroli bieten müssen und sich nicht am Nasenring durch die Manege schleifen lassen dürfen. Leider nicht zum ersten Mal in dieser Regierung, aber zum ersten Mal so deutlich. Als ultima Ratio müsste er auch so kurz vor der Wahl noch die Koalition platzen lassen, zumindest hätte er aber Söder auf seinen Platz verweisen müssen. Nun ist für alle offensichtlich, dass wer Aiwanger wählt, nur den Bettvorleger Söders wählt. Der ist aber in seiner Farbe beliebig austauschbar.

Last edited 7 Monate her by Bergzebra
Diogenes
7 Monate her
Antworten an  Bergzebra

Da haben Sie wohl recht, indem sie die Unvereinbarkeit von gutem Menschen und gutem Politiker feststellen. Zumindest in D kann man es sich nicht mehr leisten, als anständiger Mensch auch noch mit politischer Macht ausgestattet zu sein. Die Korruptheit, in welcher Form auch immer, kann nur mit einer faustischen Grundhaltung einhergehen. Wer könnte da standhalten, „seine Seele“ nicht für ein Linsengericht zu verkaufen.

EndofRome
7 Monate her

Ich verstehe einfach nicht, dass so viele Leser hier den Herr Aiwanger und seine Freien Wähler immer noch als Alternative zu den Altparteien wahrnehmen. Hat sich diese Partei etwa gegen den Corona-Wahnsinn gestellt, gegen die unkontrollierte Massenimmigration oder gegen das Abholzen bayerischer Wälder zugunsten nutzloser Windränder? Mir ist davon nichts bekannt. Ey Leute! Geht doch einfach mal ein paar Kilometer durch den Wald und denkt darüber nach, wer die echte Alternative im Lande ist. Ein Tipp! Die Lindner-Truppe ist es nicht.

moorwald
7 Monate her

Söder wollte wohl Aiwanger persönlich treffen. Ihm dürfte bewußt sein, was ihm und seiner Partei in einer Regierung mit den Grünen blühen würde.
Ein Blick nach Berlin sollte als Warnung dienen. In jeder Koalition bestimmen die Grünen die Richtung, weil sie als einzige – auch und gerade als kleiner Partner – wie besessen ihr Programm verfolgen.