Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 44: Grenzfragen

Auch wenn Grenzfragen mehr gestellt als beantwortet werden, eine lohnende Lektüre. Schließlich beginnen gute Antworten mit guten Fragen.

Ein treffendes Portrait Horst Seehofers von Albert Schäffer, ja, er repräsentiert den Sozialstaat der alten Bundesrepublik, den viele zurück haben wollen: „Es ist kein Widerspruch, dass der Sozialpolitiker Seehofer auf die Wiederherstellung des Rechts pocht; das Recht ist die Macht des Schwachen, das ihn vor dem Starken beschützt.“

Peter Carstens entlarvt die starken Sprüche der Politiker von der „gesamten Härte des Rechtsstaates“ gegen Gewalttaten: Zwei Monate nach Heidenau bei Dresden gibt es „keine einzige Festnahme, keine Anklage, schon gar keine Verurteilung.“ Das gleiche Bild quer durch die Republik, Symbolpolitik statt Taten auf allen Gebieten, allerorten.

Einfriedung und Entgrenzung

„Einfriedung“, die Titel-Story von Berthold Kohler beschreibt in ruhigen Strichen, wie die Mehrheits-Bevölkerung die Zuwanderungspolitik der Regierung Merkel zunehmend empfindet: „Die Grenzen von Ländern sind meistens nicht viel mehr als Linien auf Karten – und Linien in den Köpfen der Menschen. Grenzen funktionieren nur dann in der gewünschten Weise, wenn die Leute vor und hinter ihnen glauben, dass diese Linien Sinn, Grund und Bedeutung haben und deswegen auch aufrechterhalten werden. Die Kanzlerin hat vielen Menschen, ob sie schon in Deutschland leben oder erst noch kommen wollen, diesen Glauben genommen, mit gravierenden Folgen für das Innenleben und die Außenbeziehungen Deutschlands. Einen verhängnisvolleren Fehler hätte sie kaum begehen können.“

Nach Kohler und Rasche hätte ich mir hier einen Beitrag gewünscht, der erklärt, warum das linksliberale Drittel der Deutschen nicht die geringsten Zweifel daran hat, dass die Integration von ein paar Millionen Zuwanderern in den nächsten Jahren gelingt. Der Gastbeitrag von Norbert Blüm: „Auf Angela Merkel bin ich stolz“ ersetzt diese Erklärung nicht, steht aber prototypisch für Linksliberale.

„Kein zurück“ von Rainer Hermann sollten alle lesen: „Syrer werden weiter nach Europa flüchten. Die Politik hätte vor Jahren handeln müssen, steckte aber den Kopf in den Sand. Jetzt ist es zu spät.“ Zu spät ist es nie, wäre mein Einwand, nur teurer, sehr viel teurer, finanziell, sozial und kulturell. Sicher stimmt sein Satz leider: „Jetzt gibt es keine schnellen Lösungen.“ Hoffen wir, dass die langsamen verträgliche Ergebnisse zeitigen.

Im Kommentar von Konrad Schuller: „In Polen zeigt sich die Krise Europas“ klingt die Gegenposition zu Norbert Blüm an: „Vielleicht liegt der Grund für den Absturz der Liberalen darin, dass ihre große Erzählung, der Mythos Europa, im vergangenen Jahr zerbrochen ist. Seit der Euro-Krise erscheint die EU nicht mehr als Füllhorn, sondern als Mahlstrom.“ „Gegen Flüchtlinge und freien Markt: Nicht nur in Polen, auch anderswo ist Abschottung populär“, schreibt Ralph Bollmann in „Sozial und national“ – eine gute Übersicht.

In „Zwei Scheinehen und ein Baby“ liefert Uta Rasche ein einfühlsames Beispiel, wie unterschiedlich der Werdegang zweier junger Kurden verläuft, die ihre Eltern mit Touristenvisa nach Deutschland schickten, damit sie es einmal besser haben und Geld nach Hause schicken: Einzelschicksale, nicht zu verallgemeinern, trotzdem nicht nur lesenswert. Denn nicht das Ankommen ist der entscheidende Schritt, sondern das Weiterkommen – ein Aspekt, der im gegenwärtigen Schlagabtausch viel zu kurz kommt.

Thomas Gutschker sollte seine Analyse der Machtverschiebungen in der EU-Kommission hin zur Achse Merkel-Juncker ins Englische bringen, damit sie im Brüsseler Insider-Magazin POLITICO erscheinen und dort mehr Interesse finden kann. Das gilt auch für Werner Musslers Juncker-Portrait. Um als Leser eine Idee davon zu kriegen, wie das in der EU weiter gehen könnte, werde ich hier nicht fündig.

Von AfD bis Pirinçci 

Mit Ulrich van Suntum gibt die FAS nicht nur dem Wissenschaftler, sondern auch dem ALFA-NRW-Landesvorsitzenden das Wort zu: „Wenn wir so weitermachen, flüchten bald die Deutschen“ – eine Abgrenzung zu AfD und Pegida. Johannes Willms beantwortet die Frage „Darf man Pack ‚Pack‘ nennen?“ – tut er das wirklich? Die Stimmen von Anna Prizkau zum Kölner Anschlag und von Nikolai Klimeniouk zu den „jüngsten Pegida-Entgleisungen“ beleuchten Köln und Dresden aufhellend.

Stefan Niggemeier analysiert die Medien-Stimmen zu Akif Pirinçci, dessen Ausschluss aus dem öffentlichen Diskurs er für keinen Verlust hält: Er zeigt, dass der Provokateur nicht gesagt hat, was berichtet wurde, dass aber das, was er tatsächlich formulierte, „kaum weniger skandalös“ war. Dass aber so viele Medien nicht fertigbrachten, korrekt zu berichten, damit hätten diese Journalisten dem „Lügenpresse“-Vorwurf Vorschub geleistet.

Es geht um die Wurst

Vom Schatzkanzler Wolfgang Schäuble berichtet Ralph Bollmann im Wirtschaftsteil, dass nun plötzlich gehen soll, was lange nicht ging. Weil niemand „auf die Idee kommen (soll), die Neubürger trügen die Schuld an den Einschränkungen, die die Einheimischen erdulden müssen,“ soll alles, vom „öffentlichen Nahverkehr bis zum Wohnungsbau“ plötzlich kein Finanzierungsproblem mehr sein – die Chancen der Krise?

Im Buch Leben bunte Palette, wie üblich, bin ich versucht zu sagen – Jan Grossarth hält mich davon ab. Sein klarstellendes Wort: „Die Wurst und wir“ ist mir nicht Wurst. Es gibt offenkundig nichts mehr, was in Deutschland, das ja kulturell unaufhaltsam auf dem Weg zum 51. US-Bundesstaat zu sein scheint, keine Hysterie auslöst – bis die nächste Hysterie die vorhergehende von der Bildschirm-Oberfläche fegt. „Zwei Salamibrote am Tag sind noch drin“, sagt und erklärt Deutschlands oberster Ernährungsforscher Gerhard Rechkemmer im Buch Wirtschaft. Immerhin. Gleich danach macht uns Roland Lindner mit den über 120 Bauernmärkten von New York bekannt – ein US-weiter Trend.

Mich wird keiner dazu bringen, Kartoffel-Pürree aus der Tüte zu machen, auch wenn das noch mehr Gourmet-Köche empfehlen. Aber solange das noch eine Seite der FAS füllen darf – in elegantem Product Placing, begleitet von einer Champagner-Kritik und gefolgt von einer Story über den Trend: Rent a Cook – ist Deutschland noch nicht verloren. Dafür sprechen auch der Sportteil und das Buch Geld&Mehr.

Waidmanns Heil

Dass immer mehr Jäger werden wollen und der Nachwuchs aus der Stadt kommt und weiblich ist, erfahren wir im Buch Wirtschaft. Und das im veganen Jahrzehnt? Da würde mich doch interessieren, welche Parteienpräferenzen die Jagdscheinanwärter haben: Umfrage-Institute Waidmanns Heil. Bei St. Hubertus, das wäre doch ein prächtiger Blattschuss.

Bei so vielen neuen Fragen unserer Zeit, die oft älter sind, als wir merken, lockt im Feuilleton der Beitrag von Mark Siemons. Er beruft sich auf den immer für steile Thesen bekannten Science-Fiction-Mann Ray Kurzweil, der seit 2012 für Google arbeitet. Ab den 2030-er Jahren würden die Menschen „mittels Nano-Robotern im Kopf direkt mit der Cloud kommunizieren …, wodurch sich natürliche Wahrnehmung und Computer-Wahrnehmung endgültig nicht mehr unterscheiden lassen.“ Dann sei das, was wir heute noch unter Politik verstehen, überflüssig: „Unterschiedliche Sichtweisen werden mit der alten Welt verschwinden, da sie bloß eine Folge der analogen Beschränkungen und deren unzureichenden Informationen sind. Googles Politik läuft auf eine Abschaffung der Politik hinaus.“

Ray Kurzweil, wetten wir? Du irrst – und zwar gewaltig. Das Menschsein treibt dem Menschen niemand aus.

Fazit: Ich habe die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung heute gerne durchgeblättert und etliches mit Gewinn gelesen. Obwohl das Jahrhundertthema Migration sich durch das Blatt zieht, hatte ich am Ende das Gefühl, dass es nicht der Schwerpunkt war, den mir der Titel versprach. Aber das kann ja ein nächster Sonntag bringen.

Auch wenn Grenzfragen mehr gestellt als beantwortet werden, eine lohnende Lektüre. Schließlich beginnen gute Antworten mit guten Fragen.

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