Westliches Wunschdenken und afghanische Stammeswirklichkeit

In Stammeskulturen wie Afghanistan ist die Bedeutung der Loyalität eine andere, als man in Deutschland denkt. Loyalität gilt der Familie, dem Clan – und sonst niemandem.

IMAGO / Xinhua
In einem Restaurant in Kabul, 21. August 2021

Ich habe in den unterschiedlichsten Stammesgesellschaften gelebt. Von Afrika (Fra Fra, Ashanti), Indien (Zomi), Indonesien (Batak) bis Myanmar (Shan). Beim Thema Loyalität sind alle Stammeskulturen ähnlich gestrickt.

Seit Dschingis Khan richten sich die Clans und Familien nach den erfolgreichsten Kriegsherrn. Werden diese erfolglos, wenden sich die Familien neuen, erfolgreichen Kriegsherrn zu. Ehre und Loyalität gibt es nur gegenüber der Familie, nicht aber gegenüber dem Kriegsherrn, wenn dieser erfolglos wird. Nibelungentreue ist eine deutsche Erfindung. 

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Die „Ortskräfte“ in Afghanistan hatten sich dem bis dorthin erfolgreichsten Kriegsherrn verdingt, nämlich dem Westen. Hier gab es mit Abstand das meiste Geld abzusahnen. Jedes Jahr wurden Hunderte Millionen Euro außer Landes gebracht, westliche Steuergelder wohlgemerkt. Nun werden sie sich entsprechend ihrer Tradition den neuen Kriegsherren zuwenden. Mit Loyalität im westlichen Sinne hat dies nichts zu tun.

Einige Hunderttausende hochgerüstete Militär- und Polizeikräfte übergeben geschlossen ihre modernsten westlichen Waffen an wenige Zehntausend Mopedkrieger. Das ist wahrlich eine Abstimmung mit den Füßen. 

Auch wenn die meisten davon nur auf der Soldliste standen, um ihr Gehalt (von westlichen Steuergeldern bezahlt) abzugreifen. Das wussten außer den Westlern vermutlich alle.

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Die meisten Afghanen sind froh, dass das korrupte, vom Westen installierte Regime gestürzt wurde. Die Willkommen-Bilder der Taliban-Kämpfer in Kabul wurden natürlich in den westlichen Medien nicht gezeigt. In den westlichen Medien wird weitgehend die Illusion aufrecht erhalten, die Afghanen weinten dem Westen nach.

Die westliche und besonders die deutsche moralische Überheblichkeit denkt aber, die „Ortskräfte“ hätten sich dem Westen zugewandt, weil sie Gender Mainstreaming und Mädchenschulen großartig fanden. Das ist illusorisch.

Bisher hat die Bundeswehr 670 Afghanen evakuiert, darunter 80 Frauen, also etwa 15 Prozent. Mit anderen Worten: 85 Prozent der Ausreisenden lässt den weiblichen Teil ihrer Familie im Stich! Die Loyalität gilt also dem männlichen Teil der Familie. 

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„Wir haben die Lage falsch eingeschätzt“
Deutschland macht heute in seiner Beurteilung den gleichen Fehler, den die USA in Vietnam gemacht haben. Sie denken, alle bewunderten sie, wegen ihres „demokratischen“ Denkens. Die Südvietnamesen grollen den USA aber nicht wegen des Krieges, sondern deswegen, weil die USA ihn verloren haben. Hätten sie ihn gewonnen, dann wäre Südvietnam heute wirtschaftlich so potent wie Südkorea. Das wollen die Vietnamesen, das ist, was zählt. 

Aber Biden hat gelernt: Wenn die Afghanen keine Lust haben zu kämpfen, dann wollen sie das westliche Denken offensichtlich nicht. Das wissen die „Ortskräfte“ sehr genau. Und deshalb sollten die deutschen Medien auch nicht auf die Tränendrüse drücken. Dafür sind die Deutschen zwar empfänglich, die Amerikaner aber haben gelernt.

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Die „Ortskräfte“ wurden sehr gut bezahlt und sie wussten seit Jahren, dass das westliche Schiff untergeht. Wer bis zur letzten Sekunde an Bord bleibt, um das gute Bier an der Bar zu genießen, der muss damit rechnen, am Schluss doch noch die Zeche zu bezahlen. Natürlich trifft es den Anhang der Kriegsverlierer immer hart.

Aber es ist auch für die Taliban ein Unterschied, ob jemand als Koch oder als US-Agent gearbeitet hat. Wer wirklich in Gefahr ist, weiß heute niemand. Immerhin erklären die heutigen Taliban in ihrem eigenen Interesse, es gäbe eine Amnestie für alle. Die Taliban haben jetzt Mädchenschulen und Universitäten zugesagt. Frauen sollen sogar in der Regierung eine Rolle spielen. 

Ein großer Teil der Ausreisewilligen nutzt einfach die Situation, um zum Beispiel nach Deutschland zu kommen. Dort sind sie wirtschaftlich und sozial lebenslang gesichert, und ihre Kinder bekommen Bildung. Das ist verständlich.

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Dass das durch und durch korrupte System der letzten zwei Jahrzehnte untergeht, war jedem klar. Keiner will, wenn er von A nach B reist, Wegegeld an korrupte Wegelagerer der Armee oder der Polizei bezahlen. Keiner will unter westlich gepamperten Raubrittern leben. 

Dass die Afghanen lieber in einem sicheren Taliban-Staat leben, lag seit vielen Jahren klar auf der Hand. Nur die Deutschen haben ihrer eigenen Propaganda geglaubt. Die Medien haben sich das System mit „Mädchenschulen“ schön geredet und sich geweigert, die Realität wahrzunehmen. Und jetzt markieren plötzlich alle: Überraschung, Überraschung! Aber die Afghanen wussten es, und jeder, der es wissen wollte, wusste es auch. Und für Wissen und Nichtwissen sollte jeder die Verantwortung übernehmen, insbesondere die deutschen Medien und ihr Anhang, die Politik.

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Kommentare ( 73 )

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lube
2 Jahre her

Die Korruption wird nicht nur bei der mit Bargeld geflohenen Regierung gelaufen sein. Da werden wohl viele NGO und UNO und und und kräftig abgefasst haben.
Ich erinnere hier an da Öl für Lebensmittelprogrammm im Irak. Am Ende kam raus das die UNO Leute 20 Mrd Dollar in die eigene Tasche gesteckt haben.
Ja und das schöne Opium wird sicher auch seinen Weg zum Kunden im Westen gefunden haben.

horrex
2 Jahre her

Und das „Geschäftsmidell“ haben wir dann hier.
Durchgesetzt von kriegserfahrenen „Kämpfern“.
Hoffe doch sehr, dass sie Obiges höchst zynisch meinten!

horrex
2 Jahre her

Ja, genau so einfach ist das im Grunde.
Aber solch schlichte Weisheiten haben keine Chance HIER durch zu dringen.
Das gilt nicht nur in Afgh. sondern auch in Syrien, dem Irak, Libyen …
Auch wie weit all den Versprechungen weder dieser unserer Regierung als auch der Tal. zu trauen ist mache ich mir keine Illusionen. SEHR viele Andere sehr wohl. Alle die „Erschütterungen“ all dieser Lügengebäude/Illusionen genügen LÄNGST nicht um diese nicht immer wieder NEU mit der eigenen Überzeugung vom Gutmenschentum aufzurichte. –
Wie schreib ich hier seit Jahren???
„Wir werden G A N Z unter durch müssen!“

HeinrichErnst
2 Jahre her

Man kann sich mit etwas Abstand irgendwann ganz gut in die Taliban hineindenken. Sie wollen in ihrem Land nach ihren Regeln und Traditionen leben und nicht „befreit werden“ und einen anderen Lebensstil, Gesetze und neue Gebräuche annehmen müssen, so wie z.B. ein mitteleuropäisches Land, welches aus der Reihe tanzte, in die Steinzeit gebombt und dann „befreit“ wurde. Kein anderes Land hat je seine „Befreiung“ so unterwürfig und vollständig angenommen wie das Deutsche.

HeinrichErnst
2 Jahre her
Antworten an  HeinrichErnst

Pssst. Vorsicht. Das passt doch nicht in die offizielle Geschichtsschreibung. So wie es keinen Zusammenhang zwischen heroischen Mudschaheddin und grausamen Taliban gibt…

Wolfgang Schuckmann
2 Jahre her

Niemals wird ein Afghane sein Land, sein Volk, seinen Clan oder Familie verraten. Alle Hilfstruppen haben die schöne Nebeneinnahme mitgenommen. Und jetzt, wo man wieder ganz unter sich ist, wird für unsere Experten in Berlin klar über was man sich im Unklaren war. Und die Verwunderung über die Ankündigung einer Generalamnestie passt genau ins Bild, denn, die Afghanen waren sich nie Böse untereinander, sondern wussten wie das Ende der Besatzung laufen würde und das diese Pseudoarmee keine Sekunde länger „kämpfen“ würde als die Besatzer noch vor Ort waren. Somit lautet die bittere Erkenntnis: Die Ziele der 20 Jahre dauernden Besatzung… Mehr

Kassandra
2 Jahre her

Und jetzt? „Nearly two-thirds of Germans are in favour of granting protection in Germany to people from Afghanistan who are under threat from the Taliban, a survey by the opinion research institute YouGov has found.“ https://twitter.com/AfghanUpdates/status/1429424419282239492 „‘All Afghans’ should feel safe under Taliban Khalil Ur-Rahman Haqqani, a leading Taliban figure, has echoed the group’s claims that “all Afghans” should feel safe under their Islamic Emirate, and that a “general amnesty” has been granted across the nation’s 34 provinces.“ https://twitter.com/AfghanUpdates/status/1429529799542939649 „While scenes at #Kabul Airport are devastating and should be reported on, it should also not be forgotten that daily life… Mehr

imapact
2 Jahre her

Wie mehrfach vermutet: am Ende waren 20 Millionen männliche Afghanen „Ortshelfer“, 20 Millionen weibliche Afghaninnen werden unterdrückt – alle asylberechtigt.
Natürlich in Deutschland.

country boy
2 Jahre her
Antworten an  imapact

Wo ist das Problem? Baerbock: „Wir haben Platz“. Das hat sie bei Anne Will verkündet. Und das ist bis heute unwidersprochen. Und bis einer der GEZ-Journalisten sie auf dieses Statement einmal anspricht, wird Deutschland wohl schon vom Klimawandel vertilgt sein.

Kassandra
2 Jahre her
Antworten an  country boy

Der Einzug von Millionen Afghanen bewirkt in Deutschland auch einen „Klimawandel“. Ganz ohne die Modellierer aus Potsdam bemühen zu müssen.
Dort sollen sogar nur 60.000 das ganze Land eingenommen haben!

Schraubenberny
2 Jahre her

Das politische Versagen Deutschlands liegt auf der Hand. Nicht nur in Afghanistan ,auf ALLEN Politikfeldern. Es ist also völlig gleichgültig, bei welcher sogenannter „Altpartei“ sie ihr Wahlkreuz am 26.09. 2021machen werden. Alle sind prädestiniert,Deutschland zu bankrottisieren. Mit der einzigen Opposition redet ja niemand.

Schwabenwilli
2 Jahre her

Der erste Straffällige und abgeschobene Asylbewerber ist auch schon via Kabul als Ortskraft wieder eingereist. Man will sich gar nicht vorstellen was … sich da alles einschleichen wird.

Ben Goldstein
2 Jahre her

Ersetzen Sie „der Westen“ mit das „Juste Milieu“ und ich bin bei Ihnen. „Wir“ sind nicht weltfremd. „Die“!
Nebenbei, gab es vor zwei Wochen das Wort „Ortskräfte“ schon? Klar, dass jetzt jeder „Übersetzer“ total um sein Leben fürchtet. Seine Frau nicht so. An der Frauenpower können sich westliche Feministinnen ja fast schon eine Scheibe abschneiden.
„Schatz, geh vor! Denk dran, IN das Flugzeug zu steigen und nicht AN das Flugzeug dranhängen!“
„Was ist ein Flugzeug?“
„Das siehst du am Flughafen. Ich halte derweil die Taliban in Schach.“